Arznei- und Heilmittelbudgets: Krankenkassen kündigen Regreßwelle an

Deutsches Ärzteblatt (1996)

Krankenkassen kündigen Regreßwelle an

Die gesetzliche Krankenkassen steuern auf ein Defizit von rund zehn Milliarden DM zu. Eine Folge der finanziellen Misere: Erstmals sollen die Kassenärzte mit ihren Honoraren für die Überschreitung des Arzneimittelbudgets 1995 geradestehen. Auch im laufenden Jahr sind Budgetüberschreitungen zu erwarten. Wenn die Budgets nicht doch noch erhöht werden, bleibt aus Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nur eines: die weitgehende Rationierung der Arznei- und Heilmittelverordnungen.

Angesichts der akuten Finanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung rücken die Ausgabenblöcke mit überdurchschnittlichen Zuwachsraten wieder in den Vordergrund. Die Arzneimittelausgaben gehören dazu. Sie sind – nach den massiven Einbrüchen des Jahres 1993 – im ersten Halbjahr 1996 um 8,2 Prozent in den alten und 9,7 Prozent in den neuen Bundesländern gestiegen.

Budgetüberschreitung bis zu 4,8 Milliarden

Daß die Arzneimittelausgaben dieses Jahres im Gegensatz zu allen anderen Leistungsbereichen nur wenig über dem Niveau des Jahres 1992 liegen, scheint weder die Krankenkassen noch den Bundesgesundheitsminister zu beeindrucken. Darauf deuten zumindest Seehofers Äußerungen bei der Vorstellung der GKV-Halbjahresbilanz hin. Wörtlich sagte der Minister:

„Überall dort, wo die Ausgaben jetzt aus dem Ruder laufen, sind wirksame Steuerungsinstrumente vorhanden. Sie müßten nur genutzt werden. Dies gilt insbesondere für den Arznei- und Heilmittelbereich, bei dem die Budgetierung von den Beteiligten der Selbstverwaltung konsequent umgesetzt und Budgetüberschreitungen ausgeglichen werden müssen. Außerdem müssen Krankenkassen die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsprüfungen endlich einsetzen und der Ausgabenexpansion schnell und gezielt entgegenwirken. Denn wenn die Steigerungsraten des ersten Halbjahres bei Arznei- und Heilmitteln sich nicht verringern, droht nach der Budgetüberschreitung von 1,6 Milliarden DM aus dem Jahr 1995 in diesem Jahr sogar eine ausgleichspflichtige Budgetüberschreitung von bis zu 4,8 Milliarden DM.“

Mit anderen Worten: Ende dieses Jahres sitzen die deutschen Kassenärzte auf einer Budgetüberschreitung von kumuliert bis zu 6,4 Milliarden DM, die sie nach den Vorstellungen der Gesundheitspolitiker aus ihrer ohnehin seit Jahren kaum mehr steigenden Gesamtvergütung entrichten sollen. So haben die Krankenkassen jetzt erstmals angekündigt, ärztliche Honoraranteile für angebliche Budgetüberschreitungen des Jahres 1995 einzubehalten. Dabei geht es zunächst nicht um die vom Bundesgesundheitsminister genannten 1,6 Milliarden DM, aber immer noch um 870 Millionen DM, die zudem von nur neun Kassenärztlichen Vereinigungen aufgebracht werden sollen (siehe Tabelle).

Ausschöpfung der Arznei-und Heilmittelbudgets 1995 und Hochrechnung für 1996

Tabelle: Ausschöpfung der Arznei-und Heilmittelbudgets 1995 und Hochrechnung für 1996

Für den einzelnen Arzt in diesen KVen kommen dabei – falls die Kassen auf ihrem Standpunkt beharren – möglicherweise rückwirkend erhebliche Strafzahlungen in Betracht. Die Höhe der angedrohten Strafzahlungen ist freilich unter Umständen noch „verhandelbar“, da einige Budgetverhandlungen für 1995 noch ausstehen und die Krankenkassen andererseits zur Vermeidung flächendeckender Praxispleiten möglicherweise nur einen Teil der Strafzahlungen tatsächlich einbehalten werden.

Das Jahr 1996 dürfte unter Budgetgesichtspunkten jedoch zum ersten bundesweiten „Katastrophenjahr“ werden. Wenn auch die vom Bundesgesundheitsminister prognostizierten Überschreitungen in Höhe von 4,8 Milliarden DM zu hoch gegriffen scheinen, so dürfte eine Summe von 3,5 Milliarden DM durchaus realistisch sein, da voraussichtlich nur noch in drei Kassenärztlichen Vereinigungen die Budgets eingehalten werden. Die Höhe der angedrohten Strafzahlungen je Arzt wird in den 20 überschreitenden KVen wiederum sehr unterschiedlich sein und reicht von wenigen hundert DM bis zu mehreren zehntausend DM. Die regional sehr weite Spanne zeigt, daß die aufgrund einer sachfremden Berechnungsmethode ermittelten Ausgangsbudgets die regionalen Versorgungsnotwendigkeiten noch nicht einmal annähernd widerspiegeln.

Ob die zu erwartenden Ausgleichszahlungen in den sich anschließenden Rechtsstreitigkeiten letztlich Jahre später vom Bundessozialgericht oder vom Bundesverfassungsgericht ganz oder teilweise für zulässig erklärt werden oder nicht, dürfte für die betroffenen Ärzte eher zweitrangig sein. Bis zu einer solchen Entscheidung würde den Ärzten das Geld, das zum Überleben der Praxis vielleicht notwendig ist, jedenfalls fehlen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dieses Szenario noch abzuwenden:

  1. Die Budgets für 1995 und 1996 werden – der Versorgungsrealität entsprechend – angehoben. Davon kann jedoch angesichts der auf Rationierung angelegten Verhandlungsstrategie der Krankenkassen nicht ausgegangen werden.
  2. Die Kassenärzte praktizieren ab sofort eine weitgehende Rationierung von Arzneimitteln und Heilmitteln.

Die Budgetproblematik ist bislang nur unter dem Aspekt massiver Überschreitungen am Jahresende dargestellt worden. Die Kehrseite der Medaille wird sichtbar, wenn man die Höhe der Budgetüberschreitung nach Abschluß des Jahres ersetzt durch den Zeitpunkt der erstmaligen Budgetübeschreitung im laufenden Budgetjahr. Budgets implizieren stets, daß im Jahresverlauf aufgrund jeweils aktueller Ausgabenmeldungen gegengesteuert werden kann. Aufgrund der vorliegenden Daten kann im Jahre 1996 erstmals der Zeitpunkt der regionalen Budgetüberschreitungen hochgerechnet werden. Danach dürfte beispielsweise das Arzneimittel- und Heilmittelbudget der KV Mecklenburg-Vorpommern bereits am 10. Oktober diesen Jahres ausgeschöpft sein.

Stichtag für die Kassenärzte

Kassenärzte und Versicherte müssen wissen, daß ab diesem Zeitpunkt der Kassenarzt 100 Prozent der von ihm verordneten Arznei- und Heilmittel aus eigener Tasche finanziert. Die entsprechende Summe liegt bei durchschnittlich rund 1 000 DM pro Tag. Von den Kassenärzten kann angesichts solcher Beträge nicht ernsthaft erwartet werden, nach dem jeweiligen Stichtag der vermutlichen Budgetüberschreitung in gewohnter Weise weiterzuverordnen. Kein Arzt ist verpflichtet, angesichts faktisch eingefrorener Budgets um den Preis der Existenzgefährdung Arzneimittel und Heilmittel zu verordnen. Der Budgetgedanke kommt hier offensichtlich an seine Grenze. Wenn die Budgets der Ärzte für die Arznei- und Heilmittelversorgung aufgebraucht sind, können sie Verordnungen auf Kassenrezept auch nur in medizinisch dringenden Fällen ausstellen. Aus dem „medizinisch Notwendigen“ würde unter diesen Bedingungen das „gerade noch Ausreichende“.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Arznei- und Heilmittelbudgets: Krankenkassen kündigen Regreßwelle an. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 93, Heft 39, 27. September 1996, S. A-2438f.

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