Blindflug ins Budget-Chaos?

Deutsches Ärzteblatt (1994)

Arznei- und Heilmittelbudget

Das Gesundheitsstrukturgesetz hat die gesamte Arznei- und Heilmitteltherapie in Deutschland in ein sehr unruhiges Fahrwasser gebracht. Die Verordnungen der Kassenärzte werden dabei an Budgets gemessen, die weder transparent noch kontrollierbar sind. Verantwortlich für diese Misere sind nicht zuletzt die Krankenkassen.

Die Entwicklung der Arzneimittelausgaben auch im 1. Halbjahr 1994 scheint auf den ersten Blick denjenigen recht zu geben, die eine Ausgabenbudgetierung nicht nur als notwendig, sondern auch als für die Ärzteschaft akzeptabel bezeichnet haben. So wird das „fiktive“ Bundesbudget für Arznei- und Heilmittel in Höhe von bundesweit rund 34,5 Milliarden DM trotz deutlichen Ausgabenanstiegs gegenüber dem Vorjahr möglicherweise auch 1994 wieder unterschritten werden. Diese bundesweite Betrachtung kontrastiert jedoch eindeutig mit manchen regionalen Entwicklungen. So kann bereits jetzt als sicher gelten, daß es trotz Unterschreitung des fiktiven Bundesbudgets um ca. fünf Prozent zu nicht unerheblichen Überschreitungen der allein maßgeblichen Regionalbudgets in einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen kommen wird.

Versäumnisse der Krankenkassen

Besonders ärgerlich für die Ärzteschaft ist es, daß sie mit diesen bereits jetzt absehbaren Budgetüberschreitungen im Grunde für Versäumnisse der Krankenkassen zahlen soll, da diese es nicht geschafft haben, den gesetzlichen Auftrag zur KV-bezogenen Ausgabenerfassung (§ 84 Abs. 2 SGB V) rechtzeitig zum 1. Januar 1994 zu erfüllen. Es soll vielmehr — entgegen den Vorgaben des Sozialgesetzbuchs — auch im Jahre 1994 die gesetzlich auf das Jahr 1993 begrenzte sogenannte „Fallwertmethode“ angewendet werden. Grundlage der regionalen Budgets werden damit nicht etwa die tatsächlichen regionalen Arzneimittelausgaben sein, sondern bundesweite Kassenfallwerte.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen verfügen wegen dieses technischen Versagens der gesetzlichen Krankenkassen über diejenige Voraussetzung nicht, die eigentlich Grundlage für jede Haftung bei Budgetüberschreitung sein müßte: die Möglichkeit nämlich, über den jeweiligen Stand des „Budgetverbrauchs“ informiert zu sein und entsprechend gegensteuern zu können. Die KVen befinden sich vielmehr auf einem „Blindflug“ ins Budgetchaos, da sie über die sich derzeit aufgrund von Annahmen und Hochrechnungen schemenhaft abzeichnenden Überschreitungen im Jahre 1994 frühestens neun Monate nach Abschluß des Budgetjahres informiert werden. Die augenblicklich angestellten Hochrechnungen über die Ausfüllung regionaler Budgets nach der Fallwertmethode haben selbst bei optimistischer Annahme einen Fehlerbereich von +/- zehn Prozent, was etwa beim Verordnungsbudget der KV Bayerns eine Spannweite des möglichen statistischen Fehlers von immerhin 900 Millionen DM ausmacht.

Demgegenüber haben die Krankenkassen nach Inkrafttreten des GSG die Budgetierung nicht ohne ironischen Unterton als „unternehmenspolitische Aufgabe“ der Kassenärztlichen Vereinigungen bezeichnet. Wegen der fehlenden Steuerungsmöglichkeiten kann davon nunmehr überhaupt keine Rede mehr sein. Es zeichnet sich vielmehr ab, daß die Beibehaltung der für 1994 gesetzlich nicht mehr vorgesehenen Fallwertmethode wohl zwangsläufig die Fortgeltung eines Bundesbudgets nach sich ziehen muß. Solange die Krankenkassen nämlich nicht in der Lage sind, diese Ausgaben regional zu erfassen, besteht aus folgenden Gründen erhebliche Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit fiktiver Regionalbudgets:

  • Ausgabenzuwächse in einzelnen Regionen könnten auch in KVen ohne Ausgabenanstiege eine Überschreitung des fiktiven Budgets auslösen.
  • Selbst bei einer Unterschreitung des Bundesbudgets um zum Beispiel zwei Milliarden DM würden einzelne KVen wegen einer Überschreitung ihres fiktiven Budgets in nicht absehbarer Größenordnung zur Kasse gebeten.

Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß einzelne KVen im Fall einer erst Monate später errechneten Überschreitung ihres fiktiven Budgets die Saldierungsmöglichkeit ihrer Überschreitung mit Unterschreitungen in anderen KVen einfordern werden. Da sich die Krankenkassen allerdings dieser Auffassung verweigern, wird es wohl im Fall der Budgetüberschreitung zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommen. Letztlich wird vielleicht erst das Bundessozialgericht darüber entscheiden, ob Kassenärzte für den von den Kassen zu verantwortenden „Budget-Blindflug“ geradestehen müssen.

Qualitätsverluste sind unvermeidlich

Die geschilderte Problematik im Zusammenhang mit der Budgetierung von Arznei- und Heilmitteln muß Anlaß sein zur Besinnung auf die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine effiziente Arzneimittelversorgung. Die Budgetierung hat sich als blind für die Erfordernisse einer modernen Arzneimitteltherapie erwiesen, da sie unter Vernachlässigung der Versorgungsqualität und berechtigter Patienteninteressen ganz auf ökonomische Aspekte abstellt. Die diesjährigen Verhandlungen zu den Arzneimittelbudgets haben gezeigt, daß die Krankenkassen in keiner Weise bereit sind, die Frage einer Fortentwicklung der Budgets unter anderen als diesen ökonomischen Aspekten zu diskutieren. Fragen der demographisch bedingten Erfordernisse insbesondere der Arzneimitteltherapie im Alter blieben ebenso konsequent auf der Strecke wie die Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts und insbesondere von Arzneimittelinnovationen. Rückschritt und Qualitätsverlust in der Arznei- und Heilmitteltherapie sind unter solchen irrationalen Vorgaben beinahe unausweichlich.

Hinzu kommt, daß mit der zunehmenden Unsicherheit über die regionalen Verordnungsmöglichkeiten auch bei absehbarer Unterschreitung eines Bundesbudgets die Stellung der ambulanten Versorgung gegenüber dem stationären Sektor immer weiter geschwächt wird. Während Politik und Krankenkassen, wie aus der neuen Bundespflegesatzverordnung ablesbar ist, vor den von den Bundesländern unterstützten Finanzierungsansprüchen der Krankenhäuser faktisch kapituliert haben, wird die ambulante Versorgung mit Honorar- und Verordnungsbudgets immer stringenter in die Zange genommen Die sich daraus bereits sehr kurzfristig ergebenden Folgen liegen auf der Hand: Der Entzug von Mitteln im ambulanten Sektor wird dazu führen, daß die Lösung komplexer Patientenprobleme — wegen der dort schier unerschöpflichen Finanzmittel — zunehmend in den stationären Bereich abwandert. Die sich daraus ergebende Gefahr für die Stabilität der Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung wird offensichtlich — nicht nur wahlkampfbedingt — systematisch ignoriert.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Blindflug ins Budget-Chaos? Arznei- und Heilmittelbudget. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 91, Heft 40, 7. Oktober 1994, S. A-2645-A-2646 (21-22)

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