Demographische, medizinische und gesellschaftliche Entwicklungen

Forum für Gesellschaftspolitik (1996)

Mythische Übertreibung oder reale Bedrohung für die Finanzierbarkeit von Gesundheitssystemen

Die Zunahme des Umfangs medizinischer Leistungen ist in den letzten 25 Jahren zu einer großen Herausforderung für die Gesundheitssysteme praktisch aller Industriestaaten geworden. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß weder der Fortschritt in der Medizin noch die demographische Entwicklung oder gar das Anspruchsverhalten der Menschen dazu tendieren, sich am Wachstum von Bruttoinlandsprodukten oder an den Finanzierungsmöglichkeiten der Gesundheitssysteme zu orientieren. Dies gilt insbesondere für Phasen wirtschaftlicher Rezession.

Die kontinuierliche Steigerung von Qualität und Umfang der medizinischen Leistungen ist am Ende des 20. Jahrhunderts und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland nur als multifaktorielles Geschehen von hoher Komplexität erfaßbar. Dieser Komplexität werden die beiden am häufigsten für die Analyse von Leistungssteigerungen herangezogenen Schlagworte „Demographie“ und „medizinischer Fortschritt“ nur unzureichend gerecht. Dies liegt insbesondere daran, daß beide Begriffe in der Diskussion häufig auf eine oder jedenfalls wenige Dimensionen reduziert werden. Dabei handelt es sich jedoch bei „Demographie“ und „medizinischem Fortschritt“ um jeweils multidimensionale Problemkreise, die zudem miteinander in einer Weise verknüpft sind, daß im Hinblick auf Leistungssteigerungen und Ressourcenausschöpfung multiplikative Effekte resultieren.

I.    Demographische Entwicklung

So kann die „demographische Komponente“ von Ausgabensteigerungen in der medizinischen Versorgung bei grob abstrahierender Betrachtung in folgende vier Komponenten untergliedert werden:

  1. Die eigentliche demographische Komponente, also die „natürliche“ Alterung der Populationen in Industriegesellschaften aufgrund einer erheblichen Reduzierung der Netto-
    Reproduktionsrate. In Deutschland ist diese Komponente bereits seit Mitte der sechziger Jahre wirksam. Mit dem höheren Durchschnittsalter ist auch der medizinische Behandlungsbedarf gestiegen.
  2. Die Steigerung der Lebenserwartung: In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat die Lebenserwartung der Deutschen gerade im internationalen Vergleich erheblich zugenommen. Da mit höherem Lebensalter auch der Interventions- und Pflegebedarf steigt, ist diese Komponente wesentlich für die Zunahme von Leistungssteigerungen verantwortlich.
  3. Der Wandel des Morbiditätsspektrums: Der medizinische Fortschritt führt auch dazu, daß in einer Population immer mehr chronisch Kranke ein höheres Lebensalter erreichen. Dies betrifft Dialysepatienten und Diabetiker ebenso wie Krebskranke. Es resultiert hieraus ein Wandel des Morbiditätsspektrums zu chronischen, chronisch-degenerativen und sogar schweren systemischen Erkrankungen, die allesamt über einen erhöhten Betreuungsaufwand zu Leistungssteigerungen im Gesundheitswesen führen.
  4. Die Verlagerung der Altersgrenzen für medizinische Interventionen: Diese Komponente des „Demographie-Problems“ steht an der Grenze zum Einflußbereich des medizinischen Fortschritts. Sie reflektiert die zunehmend höhere Behandlungsintensität in zunehmend höherem Lebensalter. So werden heute etwa kurative Tumoroperationen in solch fortgeschrittenen Lebensaltern durchgeführt, die weniger als zwei Jahrzehnte vorher noch als absolute Kontraindikation gegen solche Eingriffe definiert worden sind.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinsichtlich des Problems der demographischen Entwicklung eine Klarstellung angefügt: Alle vier genannten Komponenten der demographischen Entwicklung, also von der natürlichen Alterung der Industriegesellschaften über die steigende Lebenserwartung bis zum Wandel des Morbiditätsspektrums und der zunehmenden Behandlungsintensität bei den Hochbetagten, sind gesellschaftliche Realitäten, denen sich das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik Deutschland uneingeschränkt zu stellen hat. Es kann daher nicht angehen, daß die mit der demographischen Entwicklung verbundenen Probleme dazu mißbraucht werden, unsere älteren Mitbürger ausgrenzen oder diffamieren zu wollen. Ebenso gefährlich wäre es allerdings, würde man aus falsch verstandener „Pietät“ die Analyse der Einwirkungen demographischer Veränderungen auf die Finanzierung von Gesundheitssystemen unterdrücken wollen.

II.    Medizinische Entwicklung

Im Hinblick auf die Erforschung der Ursachen für Ausgabensteigerungen in der Krankenversorgung spielt der medizinische Fortschritt eine mindestens ebenso große Rolle wie die demographische Entwicklung. Dabei beinhaltet das Schlagwort „medizinischer Fortschritt“ möglicherweise bereits eine unzulässige Verkürzung der Dimensionen des damit gemeinten multi-faktoriellen Geschehens auf überwiegend medizinisch-technische Entwicklungen. Allerdings sei dennoch zunächst auf den medizinisch-technischen Fortschritt im engeren Sinne eingegangen. Hier drängen sich insbesondere aufgrund der Erfahrungen der vergangenen beiden Jahrzehnte zwei Feststellungen auf:

  1. „Sprunginnovationen“ gehören in der Medizin eher zu den Ausnahmen; dennoch führt die Fülle kleinerer Innovationen dazu, daß z.B. die medizinischen Standards des Jahres 1996, soweit sie denn definiert werden können, nahezu in allen Bereichen der Medizin nicht mehr vergleichbar sind mit den Standards des Jahres 1976.
  2. Soweit der medizinische Fortschritt neue Verfahren und neue Techniken betrifft, handelt es sich in aller Regel um sogenannte „Add-on“-Techniken, die deswegen nicht substituierbar gegenüber älteren Verfahren sind, da sie entweder neue Behandlungsverfahren erschließen oder aber als Verfahren der Diagnosesicherung nach vorangegangener „konventioneller“ Diagnostik eingesetzt werden.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen können folgende Dimensionen der Leistungssteigerung aufgrund von Fortschritten in der Medizin unterschieden werden:

1. Die medizinisch-technische Entwicklung im engeren Sinne. Als Beispiel können die seit dem 1. Januar 1996 neu in die kassenärztlichen Gebührenordnungen aufgenommenen Leistungen herangezogen werden, die von einer hochdifferenzierten Ultraschall-Diagnostik fetaler Schädigungen über die technikgestützte Früherkennung von Hörstörungen bereits im Säuglingsalter bis zur ambulanten Harnstein-Zertrümmerung reichen. Dabei ist für die Abschätzung von Leistungssteigerungen zu berücksichtigen, daß der „Innovationszyklus“ bei neuen Verfahren zumeist bis zu 20 Jahren beträgt, da sich neue Verfahren aufgrund zahlreicher Umstände erst ganz allmählich durchsetzen.

2. Die Indikationserweiterung bei bereits eingeführten Verfahren: Es handelt sich hier um den wohl am meisten unterschätzten Faktor medizinischen Fortschritts. Zur Erläuterung des großen Spektrums möglicher Indikationserweiterungen sei auf folgende Beispiele eingegangen:

  • Synthetisch hergestellte weibliche Sexualhormone befinden sich bereits seit den sechziger Jahren im therapeutischen Einsatz. Erst seit Ende der achtziger Jahre ist jedoch bekannt, daß die entsprechenden Arzneimittel bei Frauen im mittleren und höheren Lebensalter die Entwicklung einer ausgeprägten Osteoporose verhindern können. Seither nimmt der Umsatz mit diesen Arzneimitteln um bis zu 100 Mio. DM pro Jahr kontinuierlich zu.
  • Die Zahl kernspintomographischer Untersuchungen hat sich von 1988 bist 1994 verzehnfacht. Dies ist darauf zurückzuführen, daß heute aufgrund entsprechender Studien die Kernspintomographie für eine zunehmend größere Anzahl in Frage kommender Diagnosen als Bestätigungsverfahren, aber auch zunehmend bereits als Verfahren der ersten Wahl eingesetzt wird.
  • Die Aktivimpfung gegen Hepatitis B ist bereits seit den siebziger Jahren möglich. Danach wurden ausschließlich Risikokollektive geimpft, bis im Jahre 1995 von der Ständigen Impfkommission die generelle Impfung von Kindern und Jugendlichen empfohlen wurde. Die Kosten für einen solche Durchimpfung der Bevölkerung dürften sich auf rund 1 Mrd. DM belaufen, ohne daß kurzfristig mit entsprechenden Einsparungen aufgrund der Verminderung chronischer Leberkrankheiten gerechnet werden kann.

3.    Die Fortschritte in der Prävention von Krankheiten: Kein anderer Bereich des Gesundheitswesens weist eine dermaßen hohe Variabilität des Anspruchsverhaltens der Bevölkerung auf, wie der Bereich der Prävention. Dabei hängt die Inanspruchnahme stark vom individuellen Gesundheitsbewußtsein ab. Dies ist ein Grund dafür, daß individuelle Vorsorgebedürfnisse nur sehr begrenzt einer solidarischen Absicherung in einer gesetzlichen Krankenkasse zugänglich sind.

Ein gutes Beispiel gibt hier die heute technisch machbare Frühdiagnose von Feten mit dem Krankheitsbild des sogenannten „Mongolismus“. Die gesetzliche Krankenversicherung zieht eine Aufnahme dieser Untersuchung in den Leistungskatalog nur in Erwägung, wenn der Test den statistischen Voraussetzungen für ein sogenanntes „Massen-Screening“ genügt. Dies wurde für den Mongolismus-Test von der Krankenversicherung insbesondere mit dem Hinweis darauf verneint, daß nur etwa 80 Prozent der in Frage kommenden geschädigten Feten mit diesem Test überhaupt erkannt werden können. Während also für eine gesetzliche Krankenversicherung die flächendeckende Einführung solcher Tests aus durchaus gerechtfertigten Effizienzüberlegungen ausscheidet, dürfte es für eine Vielzahl von Paaren seht attraktiv sein, bei negativem Testausfall über eine 80prozentige Wahrscheinlichkeit zu verfügen, kein entsprechend geschädigtes Kind zur Welt zu bringen. Gerade im präventiven Bereich wird medizinischer Fortschritt daher in Zukunft wohl auch in die Sphäre der individuellen und damit letztlich privat finanzierten Risikoabsicherung verlagert werden.

III.    Gesellschaftliche Entwicklung

Die am meisten unterschätzte Einflußgröße bei den Prognosen zur langfristigen Finanzierbarkeit einer gesetzlichen Krankenversicherung ist der Komplex des gesellschaftlichen Einschätzungs- und Wertewandels. Hier lassen sich insbesondere folgende Aspekte unterscheiden:

  1. Die Fortschritte in der Definition der Sorgfaltspflicht: Bereits seit vielen Jahren stehen die Ärzte recht einsam da zwischen dem sozialrechtlichen Gebot der Wirtschaftlichkeit und der zivilrechtlich gebotenen Sorgfaltspflicht. Dabei ist der Graben zwischen diesen beiden Normen in den letzten Jahren eher noch größer geworden. Da heute in der Bevölkerung kaum noch akzeptiert wird, daß ein Kind mit einem naturlichen Handicap auf die Welt kommen könnte, hat sich beispielsweise die geburtshilfliche Medizin auf geradezu dramatische Weise in Richtung auf eine kostentreibende Absicherungsmedizin gewandelt. Ob dies in gesellschaftlicher Hinsicht als „Fortschritt“ anzusehen ist, mag dahingestellt sein; jedenfalls ist dies ein unübersehbarer Faktor einer letztlich nicht wünschbaren Leistungssteigerung in der Medizin.
  2. Die gesellschaftspolitische Komponente des Fortschritts: Trotz einer langjährigen Diskussion über die Ausgliederung versicherungsfremder Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung sind in den vergangenen Jahren sogar zusätzliche Belastungen aufgrund der Neuaufnahme entsprechender Maßnahmen in den Leistungskatalog der GKV entstanden. Geradezu schon klassisches Beispiel hierfür ist die künstliche Befruchtung mit einem Kostenvolumen von weit mehr als 100 Mio. DM pro Jahr. In jüngster Zeit hinzugekommen ist die Methadon-Substitution bei Heroinabhängigen, deren Einsatz – obwohl es hierbei eher um ein gesellschaftspolitisches als um ein medizinisches Problem handelt – in letzter Zeit geradezu exorbitant gestiegen ist.
  3. Die „Fortschritte“ im Leistungsversprechen der Krankenkassen: Die Krankenkassen haben sich bereits im Vorfeld der Kassenwahlfreiheit in ein unter Kostenaspekten im Grunde nicht mehr verantwortbares Wettbewerbsverhalten gestürzt. Die entsprechenden Leistungsangebote reichen von der Beach-Party über das sogenannte „Indoor-Climbing“ bis zum
    Verkehrssicherheitstraining. Zwischenzeitlich dürfte bereits ein Großteil der deutschen Fitness-Studios ohne den massiven Zuschuß aus der solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr lebensfähig sein.
  4. Das Wachstum, der Versichertenansprüche: Das medizinische Anspruchsverhalten der gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland hat in den vergangenen Jahren ein im internationalen Vergleich geradezu beängstigendes Ausmaß angenommen. Dabei wurde dieses Verhalten durch gesetzliche Entscheidungen, wie etwa die Einführung der Krankenversichertenkarte und dem damit faktisch verbundenen Freibrief für das sogenannte „Doctor-Hopping“, zusätzlich gefordert. In der Therapie werden nicht nur von Selbsthilfegruppen und sensationshungrigen Medien zwischenzeitlich bereits fragwürdige oder allenfalls marginale therapeutische Fortschritte ohne jede Rücksicht auf die verursachten Kosten eingefordert. Im Zusammenhang mit dem Arzneimittel „Betaferon“ zum therapeutischen Einsatz bei Multiple-Sklerose-Kranken droht z.B. auf diese Weise eine zusätzliche Kostenbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung von mehr als 1 Mrd. DM pro Jahr.
    Arztinduzierte Leistungsausweitung?

Zum Schluß noch eine Bemerkung zur sogenannten „arztinduzierten“ Leistungssteigerung: Die Kassenärzte haben in den vergangenen drei Jahren aufgrund der strikten gesetzlichen Budgetierung bei gleichzeitig exorbitantem Arztzahlanstieg einen atemberaubenden Verfall der Preise für die ärztlichen Leistungen hinnehmen müssen. Aufgrund individueller betriebswirtschaftlicher Logik wurde zunehmend versucht, den mit diesem Preisverfall einhergehenden Umsatzverlust durch einen entsprechend großzügigeren Einsatz von Leistungen zu kompensieren. Dieses als „Hamsterrad“ bekannte Phänomen soll durch die Anfang 1996 in Kraft getretene Reform des einheitlichen Bewertungsmaßstabes nachhaltig beeinflußt werden. Allerdings muß klargestellt werden, daß angesichts der gesetzlichen Budgetierung der ärztlichen Honorare eine „arztinduzierte Leistungssteigerung“ die gesetzliche Krankenversicherung nicht belastet hat.

Trotz der erheblichen kostentreibenden Effekte von Demographie, medizinischem Fortschritt und gesellschaftlichen Einflüssen ist der Anteil der Ausgaben für ärztliche Behandlung an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den vergangenen zwanzig Jahren nicht angestiegen, sondern im Gegenteil tendenziell leicht zurückgegangen. Daß dennoch die gesetzliche Krankenversicherung angesichts eines 7-Milliarden-Defizits im Jahre 1995 heute wieder „mit dem Rücken an der Wand“ steht, hat daher nichts mit dem Leistungsvolumen in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung zu tun, sondern ausschließlich mit politisch zu verantwortenden Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre. Im Vordergrund stehen dabei der mit der Rentenreform 1992 fortgesetzte „Verschiebebahnhof“ zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung mit einem Finanzvolumen von 5 Mrd. DM pro Jahr sowie die noch kostenträchtigeren politisch motivierten Ausnahmeregelungen für die Krankenhausbudgetierung in den Jahren 1993 bis 1995.

Gerade wegen der leistungssteigernden Einflüsse von Demographie und medizinischem Fortschritt sollte daher künftig wesentlich stringenter als in der Vergangenheit eine verantwortliche, auf den Erhalt der bewährten Grundlagen des Versorgungssystems angelegte Gesundheitspolitik angemahnt werden.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Demographische, medizinische und gesellschaftliche Entwicklungen: Mythische Übertreibung oder reale Bedrohung für die Finanzierbarkeit von Gesundheitssystemen. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), April 1996.

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