Ersatzkassen-Verband in der Sackgasse

Deutsches Ärzteblatt (1998)

Der einstige „Vorzeige-Partner“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erweist sich als kaum mehr verhandlungsfähig. Ein Imageverlust ist die Folge.

Nichts geht mehr. Auf diese kurze Formel kann das aktuelle Vertragsverhältnis zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen auf der einen und dem Ersatzkassenverband VdAK auf der anderen Seite gebracht werden. Von der ursprünglichen Funktion dieses Vertragsverhältnisses als „Zugpferd“ und Taktgeber für die gesamte Gesetzliche Krankenversicherung ist damit faktisch nichts mehr übrig geblieben. Heute werden die Orts- und die Betriebskrankenkassen von den Kassenärztlichen Vereinigungen als wesentlich flexiblere Verhandlungspartner eingeschätzt.

Für diesen rasanten Verfall des Ersatzkassen-Image sind im wesentlichen zwei Ursachen auszumachen: zum einen der Risiko-Strukturausgleich, durch den die Ersatzkassen jedes Jahr Milliardenbeträge an andere Krankenkassen zu zahlen haben, und zum anderen die Regionalisierung der Vertragsbeziehungen, die für die Ersatzkassen als bundesweit operierende Krankenkassen naturgemäß besonders problematisch ist. Beide Faktoren sind unmittelbare Auswirkungen des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1992. Hinzu kommt, daß es im früher geschlossenen Lager der Ersatzkassen zu einem Auseinanderdriften der Interessenlagen des Ersatzkassenverbandes als gesetzlichem Vertragspartner einerseits und der mächtigen Einzelkassen andererseits kommt.

Im Ergebnis hat dies bereits heute zu einer weitgehenden Entmachtung des VdAK geführt, der in seiner rigiden und ganz auf die sektorale Kostendämpfung ausgerichteten Politik offensichtlich nur noch von der DAK unterstützt wird. Während die BEK als größte deutsche Krankenkasse den Weg in eine eigenständige Vertragspolitik mit vielversprechenden Modellversuchen bereits eingeschlagen hat, ist die Techniker-Krankenkasse mit einem Anteil von 40 Prozent freiwillig versicherter Mitglieder ohnehin schon eine „halbe“ Privatversicherung und will sich dementsprechend ein eigenes vertragspolitisches Profil geben.

Anfang September: Der Tiefpunkt ist erreicht

Anfang September 1998 wurde der bisherige Tiefpunkt der Vertragsbeziehungen erreicht. Anläßlich eines Symposiums teilte ein Vertreter des VdAK beiläufig mit, daß sich die Ersatzkassen im Hinblick auf die Gesamtverträge für 1998 definitiv nicht dem Einigungsangebot der Kassenärztliche Bundesvereinigung für eine Bundeslösung nähern könnten. Damit ging eine zwölf Monate währende Verhandlungs-Posse definitiv zu Ende, in deren Verlauf die Ersatzkassen von Mal zu Mal schlechtere „Kompromißvorschläge“ unterbreiteten, von denen sie sich im Anschluß an die jeweiligen Sitzungen jedesmal wieder distanzierten (Tabelle).

Ersatzkassen-Gesamtvergütung für 1998 in Westdeutschland

Ersatzkassen-Tabelle: Gesamtvergütung für 1998 in Westdeutschland

So auch im letzten Spitzengespräch am 10. August 1998, als die KBV mit den Vorständen der großen Einzelkassen bereits eine Einigung erzielt hatte, die im Anschluß an das Gespräch vom VdAK unter Berufung auf ein angebliches „Mißverständnis“ kassiert wurde. Im Ergebnis hatten die Ersatzkassen ihre Verhandlungsangebote im Verlauf eines Jahres stufenweise um mehr als 220 Millionen DM reduziert. Die Vertragsverhandlungen mit den Ersatzkassen werden dabei überlagert von einem Urteil des Bundessozialgerichts, das sich auf die Berechnung der Gesamtvergütungen des Jahres 1993 bezieht. Aus diesem Urteil leiten die Ersatzkassen Forderungen gegen die Kassenärzte in der Größenordnung von mehreren 100 Millionen DM ab.

Rückforderungen nach dem BSG-Urteil

Zum Hintergrund: Die im Zuge von Wiedervereinigung und Aussiedlerstrom deutlich erhöhten Mitgliederzahlen der Ersatzkassen wurden von der KBV und dem Ersatzkassen-Verband in Abstimmung mit dem Bundesgesundheitsminister bei der Berechnung der Gesamtvergütung des Jahres 1993 einbezogen. Nachdem nun das Bundessozialgericht die Berücksichtigungsfähigkeit der Mitgliederentwicklung für 1993 verneint hatte, wollen die Ersatzkassen nichts mehr davon wissen, daß die Kassenärzte im Jahre 1993 Hunderttausende neue Ersatzkassen-Versicherte tatsächlich versorgt und daß die Ersatzkassen im Konsens mit der KBV die entsprechende Vergütung der Kassenärzte einvernehmlich geregelt hatten. Allerdings erweist sich die daraus abgeleitete Rückforderung bei näherem Hinsehen als höchst problematisch, da sie nur dann realisiert werden kann, wenn es den Ersatzkassen gelänge, für die 18 Kassenärztlichen Vereinigungen der alten Bundesländer rückwirkend für das Jahr 1993 regionale Gesamtvergütungen festzulegen. Diese regionalen Gesamtvergütungen hat es jedoch tatsächlich erst ab dem Jahr 1996 gegeben, so daß eine „Rückrechnung“ und damit eine Spezifizierung der Ersatzkassen-Forderungen nahezu unmöglich ist.

Im übrigen weisen die KVen auf erhebliche eigene Nachzahlungsansprüche aufgrund der Inanspruchnahme-Steigerung nach Einführung der Chipkarte im Jahre 1995 hin. Inzwischen sind bundesweit rund fünf Milliarden DM aufgelaufen, ohne daß es bislang gelungen wäre, die Krankenkassen zu entsprechenden Zahlungen zu bewegen. Der Chipkarten-Effekt kann gleichwohl als wissenschaftlich eindeutig belegt gelten, zumal er sich nicht nur in einer Fallzahlsteigerung, sondern – bedingt durch die höhere fachärztliche Primärinanspruchnahme – auch in einer Fallwertsteigerung niedergeschlagen hat.

Möglicherweise wird erst das Bundessozialgericht in einer erneuten Entscheidung darüber befinden, wer an wen Nachzahlungen in welcher Höhe zu leisten hat. Bemerkenswert ist allerdings, daß die Ersatzkassen bereit waren, wegen vermeintlicher Rückzahlungsansprüche das ehemals gute Vertragsverhältnis zu den Kassenärzten auf den Nullpunkt zurückzufahren.

Einziges Ziel: Sektorale Kostendämpfung

In manchen Regionen gehen die Ersatzkassen sogar noch weiter. Unter Hinweis auf den niedrigeren Punktwert bei den Primärkassen wird in den regionalen Vertragsverhandlungen eine 15-prozentige Reduzierung der Preise für die ärztlichen Leistungen gefordert, obwohl diese Preise aufgrund des nur den Ärzten aufgebürdeten Morbiditätsrisikos in den vergangenen fünf Jahren bereits um 30 Prozent gefallen waren. Dabei wird ferner vernachlässigt, daß die Ersatzkassen in den vergangenen Jahren von dem mit dem höheren Punktwert verbundenen Image stark profitiert haben.

Allen Beteiligten ist klar, daß der derzeitige Punktwert bei den Primärkassen kaum mehr die Praxiskosten abdeckt. Diese Politik läßt erkennen, daß es den Ersatzkassen um eine sture sektorale Kostendämpfung geht, ohne Rücksicht auf deren fatale Nebenwirkungen – insbesondere in Hinblick auf den enormen Kostenanstieg im Krankenhaus. Dies muß auf den entschiedenen Widerstand der Kassenärztlichen Vereinigungen stoßen.

Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Vergleich der Fallwerte pro Kassenarzt: Er liegt im Bundesdurchschnitt bei den Ersatzkassen mit 80,60 DM sogar noch um einiges schlechter als bei den Primärkassen mit 82,00 DM. Zudem gibt es Hinweise, daß der durchschnittliche Ersatzkassen-Versicherte aufgrund seines höheren Anspruchsniveaus den Arzt in bezug auf die einzelne ärztliche Leistung signifikant stärker in Anspruch nimmt als der Primärkassen-Patient. Dies sollte die Ersatzkassen zu der Erkenntnis bringen, daß ihre aggressive Vertragspolitik gegenüber den Kassenärzten in die Irre führen muß und eine Ausweitung des bereits jetzt erkennbaren Mitgliederverlusts zur Folge haben könnte.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Ersatzkassen-Verband in der Sackgasse. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 95, Heft 39, 25. September 1998, S. A-2376-A-2378 (28-30).

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