Existenzbedrohung für die Kassenärzte

Deutsches Ärzteblatt (1995)

Arznei- und Heilmittelbudgets 1995

Bereits im vergangenen Jahr konnten nicht alle Kassenärztlichen Vereinigungen ihr Arznei- und Heilmittelbudget einhalten. Die Aussichten für das laufende Jahr sind noch bitterer. Es drohen Budgetüberschreitungen in Milliardenhöhe. Während der Krankenhaussektor weiter expandiert, fürchten immer mehr niedergelassene Ärzte um ihre Existenz.

Die Budgetierung bei Arznei-und Heilmitteln geht 1995 in ihr drittes Jahr nach Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes. Die ersten beiden Jahre der Budgetierung sind gekennzeichnet durch einen auf den ersten Blick kaum erklärbaren Gegensatz: Zum einen handelt es sich um die — unter ausschließlichen Kostendämpfungsaspekten — erfolgreichste Maßnahme, zum anderen ist keine andere Maßnahme des Gesundheitsstrukturgesetzes durch soviel Unsicherheit und Intransparenz gekennzeichnet.

Budget bereits in 1994 überschritten

Möglicherweise liegt der Erfolg der Budgetierung gerade in dieser Unübersichtlichkeit der zugrundeliegenden Berechnungsvorschriften; die damit verbundene Rechtsunsicherheit könnte jedoch andererseits zur Folge haben, daß die rechtlichen Grundlagen der Budgetierung durch Entscheidungen von Obergerichten letztlich verworfen werden. Und dies vor dem Hintergrund, daß es im Jahre 1994 in zahlreichen Kassenärztlichen Vereinigungen erstmals zu massiven Budgetüberschreitungen gekommen ist und für 1995 sogar Budgetüberschreitungen in Milliardenhöhe absehbar sind.

Anfang März hat der Bundesminister für Gesundheit die Ausgabenergebnisse des Jahres 1994 vorgestellt. Unterteilt man das Budgetergebnis auf Bundesebene zum einen nach Arzneimitteln und Heilmitteln, zum anderen nach alten und neuen Bundesländern, so ergeben sich auf dieser Bundesebene vier relevante Teilbudgets. Von diesen vier Teilbudgets wurden im Jahr 1994 drei Teilbudgets überschritten, und nur eines wurde unterschritten. So wurde die Summe der Heilmittelbudgets in den neuen Bundesländern um 5,6 Prozent überschritten, die Summe der Arzneimittelbudgets um 2,4 Prozent. Die Summe der Arznei- und Heilmittelbudgets wurde um rund 2,7 Prozent überschritten (Abbildung 1).

Arznei- und Heilmittelbudget in den neuen Bundesländern: Vergleich der Ausgaben nach KV45 1994 mit dem Budget 1994

Abb. 1: Arznei- und Heilmittelbudget
in den neuen Bundesländern:
Vergleich der Ausgaben nach KV45
1994 mit dem Budget 1994

Hieraus resultiert eine Budgetüberschreitung auf der Ebene aller Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer (einschließlich Berlin-Ost) in Höhe von 178,5 Millionen DM. Dies würde einer Ausgleichspflicht je Kassenarzt in den neuen Bundesländern von durchschnittlich 10 000 DM entsprechen.

Im Bereich der alten Bundesländer wurde die Summe der Heilmittelbudgets um 5,9 Prozent überschritten. Dies ist auf den ungebrochenen Anstieg der physiotherapeutischen Leistungen um 13,6 Prozent und der Leistungen von Logopäden und Ergotherapeuten um 19,5 Prozent zurückzuführen (Abbildung 2).

Anstieg der GKV-Heilmittelausgaben im Jahre 1994

Abb. 2: Anstieg der GKV-Heilmittelausgaben im Jahre 1994

Diese hohen Steigerungsraten, die insbesondere auf die Zunahme der degenerativen Erkrankungen und den Ausbau der ambulanten Rehabilitation zurückzuführen sind, relativieren die häufig zu hörende Beschwichtigung, daß der Heilmittelbereich lediglich 15 Prozent der Gesamtbudgets betrage.

Wächst der Heilmittelbereich im Jahre 1995 nochmals in dieser Größenordnung, so wird allein diese Zunahme die für das Gesamtbudget in Aussicht gestellte Anhebung um 1,7 Prozent im Jahre 1995 mehr als aufbrauchen. Da auf Einsicht bei Politik oder Krankenkassen nicht gesetzt werden kann, bedeutet dies, daß im Jahr 1995 eine radikale Verordnungsumkehr und gravierende Leistungseinschränkungen im Heilmittelbereich angezeigt sind.

Lediglich das vierte Teilbudget, nämlich die Summe der Arzneimittelbudgets im Bereich der alten Bundesländer, ist im Jähr 1994 unterschritten worden, und zwar um etwa 5,4 Prozent. Dies war allerdings nur möglich aufgrund der erheblichen Anhebung der Zuzahlung zum 1. Januar 1994. In der Summe ergibt sich für die Arznei- und Heilmittelbudgets in den alten Bundesländern eine Budgetunterschreitung von rund 3,8 Prozent.

Auch im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigungen der alten Bundesländer hat es aber im Jahr 1994 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Budgetüberschreitungen gegeben. Nach einer Hochrechnung der pharmazeutischen Industrie soll dies nur in Berlin der Fall gewesen sein. Dort wird mit einer Budgetüberschreitung von rund 3 Prozent gerechnet, was knapp 30 Millionen DM entspräche. Die tatsächlich überschreitenden KVen und die endgültige Höhe der Rückzahlungsverpflichtung je Kassenarzt werden wegen der komplexen Berechnungsmethode erst im Herbst 1995 feststehen.

Eine Unterschreitung auf Bundesebene ist somit lediglich eine politische Größe, die nichts über die Rückzahlungsverpflichtungen einzelner Kassenärztlicher Vereinigungen aussagt. Gerade diese Diskrepanz zwischen der Budgeteinhaltung auf Bundesebene und der vermutlichen Rückzahlungsverpflichtung einer ganzen Reihe von Kassenärztlichen Vereinigungen zeigt, daß die im politischen Raum häufig verwendete Botschaft, den Kassenärzten stünde ein bestimmter Betrag auf Bundesebene zur Verfügung, unredlich ist. Trotz einer Unterschreitung der Budgetsumme auf Bundesebene um rund 900 Millionen DM wird es für das Jahr 1994 zu rückwirkenden Rückzahlungsverpflichtungen der Kassenärztlichen Vereinigungen kommen, die in der Summe bei weit über 200 Millionen DM liegen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Budgetierung im Jahre 1994 erstmals massiv „zugeschlagen“ hat und die Ärzte in einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen in existentielle Gefährdung bringen dürfte.

Besonders dramatisch ist die Situation bei den Heilmittelkosten im Bereich der neuen Bundesländer. Trotz eines Anstiegs der Heilmittelausgaben um mehr als 30 Prozent liegt das Niveau der Heilmittelausgaben in den neuen Bundesländern noch ganz erheblich unter den entsprechenden Westwerten. Bei Massagen und Krankengymnastik beträgt dieser Wert 57,1 Prozent, bei Ergotherapie und Logopädie gar nur 21,7 Prozent der entsprechenden Westwerte. Demzufolge wurde das Heilmittelbudget in den neuen Ländern im Jahr 1994 um 5,6 Prozent überschritten. Die einzig mögliche Schlußfolgerung hieraus ist, daß die Ausgangswerte der Heilmittelbudgets schlichtweg zu niedrig bemessen worden sind; die Angleichung des Versorgungsniveaus im Heilmittelbereich an den West-Standard läßt sich unter diesem Budget nicht finanzieren.

Die physiotherapeutische Versorgung wird in den neuen Bundesländern bei zwei Dritteln, die logopädische bzw. ergotherapeutische Versorgung bei einem Drittel des Westniveaus eingefroren bleiben müssen. Die Krankenkassen sind im Zeitalter eines an das Chaotische grenzenden Wettbewerbs um gute Risiken offensichtlich nicht bereit, die notwendigen Mittel für die Kernelemente der Versorgung insbesondere von chronisch Kranken zur Verfügung zu stellen.

Die Budgetüberschreitungen des Jahres 1994 können rein theoretisch im Folgejahr, also 1995, durch entsprechende Einsparungen ausgeglichen werden. Es ist jedoch angesichts der im Jahre 1995 noch stärker wirkenden Ausgabendynamik sehr unwahrscheinlich, daß ein Ausgleich erreicht werden kann. Vielmehr muß befürchtet werden, daß im Frühjahr 1996 der gescheiterte Ausgleichsversuch festgestellt und dann die entsprechende Gesamtvergütungskürzung seitens der Krankenkassen erfolgen wird. Daneben werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Budgets des Jahres 1995 überschritten werden mit der Folge, daß sich weitere Rückzahlungsverpflichtungen aufsummieren.

Budgets sind in 1995 kaum einzuhalten

Ohne massive Gegensteuerung wird die Budgetsituation im Jahre 1995 voraussichtlich vollends aus dem Ruder laufen. Sollten die Budgets tatsächlich nur um die Grundlohnsummenentwicklung (1,7 Prozent West, 3,5 Prozent Ost) angehoben werden, so wird der gesamte Zuwachs durch die derzeit exzessiv ansteigenden Heilmittelausgaben aufgebraucht werden. Wächst daneben das Arzneiverordnungsvolumen — wie im Vorjahr — um rund 8 Prozent, dann werden allenfalls fünf von 23 Kassenärztlichen Vereinigungen ihre Regionalbudgets noch einhalten können.

Bereits im Jahre 1995 läßt sich somit der durch Demographie, Innovationen und Preisentwicklung erzeugte Druck auf die Verordnungskosten mit der Budgetierung nicht mehr in Deckung bringen. Diese Tendenz wird sich im Jahre 1996 eher verschärfen, da die Krankenkassen im Zeitalter der Wahlfreiheit einen hemmungslosen Wettbewerb um „gute Risiken“ eingehen und die Kernelemente der Versorgung, insbesondere im Bereich der Versorgung chronisch Kranker, zunehmend vernachlässigen. Man könnte dies so ausdrücken: Damit künftig der gesunden Enkelin die aus Wettbewerbsgründen erforderlichen Bauchtanzkurse finanziert werden können, muß der kranken Großmutter die Salbe für das rheumatische Knie gestrichen werden. Dies der Großmutter zu vermitteln, soll aber nicht Aufgabe der Krankenkassen, sondern des in die Regreßzange genommenen Kassenarztes sein. Dem Kassenarzt kommt auf diese Weise immer mehr die Aufgabe zu, die Qualität der Versorgung und die Interessen der Kranken vor den Übergriffen der Krankenkassen zu schützen. Dies wird er insbesondere unter den ökonomischen Zwängen der Budgetierung allerdings nicht mehr lange tun können.

Innovationsstopp als Überlebensstrategie

Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit den Krankenkassen wird im Jahr 1995 in der Diskussion über die Bedeutung von Arzneimittelinnovationen liegen. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz ist der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der GKV von 15 Prozent auf 13 Prozent zurückgegangen. Obwohl von dem verbleibenden Volumen fast 4 Millarden DM als Umsatzsteuer direkt an den Fiskus fließen und damit der Krankenbehandlung gar nicht zur Verfügung stehen, geht die erreichte Absenkung den Sparfetischisten auf der Kassenseite noch nicht weit genug. Solange der Arzneiverordnungs-Report Jahr für Jahr ein Einsparvolumen in Höhe von 6 Millarden DM für sogenannte „unwirtschaftliche Arzneimittel“ vorgaukelt, wird von offizieller Kassenseite kein Zugeständnis im Hinblick auf die Finanzierung von Innovationen gemacht werden. Für die Kassenärzte bedeutet dies, daß Innovationen im Arzneimittelbereich unter Budgetbedingungen praktisch nicht mehr verordnungsfähig sind. Bereits im Jahr 1995 werden die Arzneimittelbudgets daher zu „Innovationskillern“. Die zu erwartenden Fortschritte bei der Behandlung von Multiple Sklerose-Kranken sind unter diesen Bedingungen genausowenig finanzierbar wie das geringere Nebenwirkungsspektrum in der antidepressiven Therapie unter Verwendung neuartiger Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.

Der jährlich erscheinende Arzneiverordnungs-Report und mit ihm das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen (WIdO) haben sich bereits seit langem aus der ernsthaften Diskussion über die finanzielle Bedeutung von Arzneimittelinnovationen verabschiedet. In wissenschaftlich unhaltbarer und unter Versorgungsaspekten unverantwortlicher Weise wird die Innovationsproblematik auf die Neueinführungen der jeweils letzten fünf Jahre reduziert. Der tatsächliche Innovationszyklus von rund 20 Jahren (zum Beispiel bei Kalziumantagonisten und ACEHemmern) bleibt bei dieser Pseudo-Rechnung genauso außen vor wie die Entdeckung völlig neuer Indikationsgebiete bei bereits lange eingeführten Arzneimitteln (zum Beispiel ASS zur Infarktprophylaxe oder Östrogen-Prophylaxe in der Perimenopause).

Korrekturen am Budget erforderlich

Zusammenfassend ist festzustellen, daß der politische Ansatz für die Budgetierung von Arzneimitteln und Heilmitteln dringend korrekturbedürftig ist. Die Praxis im Umgang mit den Budgets hat gezeigt, daß es insbesondere aufgrund der ignoranten Haltung der Krankenkassen zum Innovationsproblem nicht möglich ist, die überzogenen Leistungsversprechen von Politikern und im Wettbewerbschaos versinkenden Krankenkassen zu erfüllen, ohne gleichzeitig die wirtschaftliche Existenz Zehntausender von Kassenärzten zu gefährden.

Das Gesundheitsstrukturgesetz droht im übrigen insgesamt zu scheitern, wenn es dem ambulanten Sektor weiterhin die wirtschaftlichen Grundlagen entzieht, nur um Finanzmittel für den frei von jeglichen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen expandierenden Krankenhaussektor freizusetzen (Abbildung 3).

Über- bzw. Unterschreitung der Budgetgrenzen für die stationäre und die ambulante Versorgung seit Einführung des GSG

Abb. 3: Über- bzw. Unterschreitung der Budgetgrenzen für die stationäre
und die ambulante Versorgung seit Einführung des GSG

Ein solches Konzept, das die ambulante Medizin als die Grundfesten der Versorgung in ihrem Kern erschüttert, um gleichzeitig den Überbau der stationären Subsidiärmedizin weiter aufzublähen, konnte nicht erfolgreich sein.

Dieses Ergebnis des Gesundheitsstrukturgesetzes in der Öffentlichkeit darzustellen und auch den hierfür mitverantwortlichen Bundesländern zu vermitteln, gehört — jenseits von ökonomisch-theoretischen Überlegungen zu einer dritten Stufe der Gesundheitsreform — derzeit zu den vordringlichen Aufgaben der kassenärztlichen Selbstverwaltung.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Existenzbedrohung für die Kassenärzte – Arznei- und Heilmittelbudgets 1995. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 92, Heft 14, 7. April 1995, S. A-996-A-999 (22-25)

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