Gesundheit erfordert Eigenverantwortung

Forum für Gesundheitspolitik (2003)

Ein Vorschlag zur Einführung eines präventionsbezogenen Bonussystems

SUMMARY
In den gesundheitspolitischen Reformdiskussionen wird die kostentreibende Rolle des im internationalen Vergleich katastrophal schlechten Präventionsverhaltens der Deutschen systematisch ausgeblendet. Dabei kann als erwiesen gelten, dass der gesundheitszerstörende Lebensstil hauptverantwortlich dafür ist, dass Deutschland trotz hoher Gesundheitsausgaben nur ein mittelmäßiges Gesundheitsniveau seiner Bevölkerung aufweist. Angesichts des drohenden Finanzkollaps der GKV kann der hierfür maßgebliche Kernfehler der „kollektivierten Unverantwortlichkeit“ nicht länger ausgeblendet bleiben. Eine solidarische Krankenversicherung kann nur dann vor dem Untergang bewahrt werden, wenn jeder einzelne Versicherte durch ein solidarisches Gesundheitsverhalten hierzu beiträgt Der hierfür notwendige erzieherische Prozess kann nicht durch ausschließlich appellative Ansätze bewerkstelligt werden, sondern bedarf der Unterstützung durch unmittelbar wirksame motivatonsfördernde Maßnahmen. Hierzu wird die Einführung eines präventionsbezogenen Bonussystems vorgeschlagen, das zunächst sieben Kernbereiche aus dem Umfeld von Lebensstil und Krankheitsprävention einbezieht.

Es ist immer wieder das Gleiche: Bei jeder Diskussion über die notwendigen Elemente einer Gesundheitsreform werden internationale Vergleiche herangezogen, aus denen sich angeblich belegen lässt, dass das deutsche Gesundheitswesen vergleichsweise viel an Finanzmittel verbraucht, aber vergleichsweise wenig Gesundheit „produziert“. Doch spätestens seit der Erkenntnis, dass der Rückgang der Störche zwar zeitlich, aber doch wohl offenbar nicht kausal mit dem Rückgang der Geburten korreliert, sollte mit Rückschlüssen in komplexen Systemen äußerst vorsichtig umgegangen werden.

Und so vermisst man in vielen Diskussionen über den „Output“ des deutschen Gesundheitssystems sehr schmerzlich einen Faktor, der jedenfalls unter dem Anspruch wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit eigentlich niemals fehlen darf, nämlich das im internationalen Vergleich katastrophal schlechte Abschneiden der Deutschen im Hinblick auf Ernährungs- und Lebensstil. Egal ob Über- und Fehlernährung, Nikotin- oder Alkoholkonsum: Es gibt kein gesundheitliches Laster, bei dem die Deutschen nicht eine der weltweiten Spitzenpositionen beanspruchen würden. Die Gesundheitskosten in Deutschland müssen also bereits deswegen höher sein als in anderen Ländern, weil der „Reparaturbedarf“ als Folge dieses ungesunden Lebensstils höher ist.

Hohe Kosten und schlechter Outcome durch katastrophalen Lebensstil

Und das Ergebnis der Reparatur, also insbesondere der Behandlung chronischer Zivilisationskrankheiten, ist nun einmal naturgemäß schlechter als der Zustand eines Gesunden. Somit führt der kollektiv ungesunde Lebensstil nicht nur zu höheren Krankheitskosten, sondern – gerade wegen der Erfolge der Reparaturmedizin – auch zu einer höheren Krankheitslast. Die Sisyphos-Arbeit der deutschen Ärzte ist nicht schlechter als in anderen Ländern, aber der Berg ist in Deutschland höher, weshalb der deutsche Sisyphos mehr Kraft für das Hochschieben des Felsens braucht und dieser hinterher mit um so größerer Wucht wieder ins Tal rollt.

Doch warum wird in der Öffentlichkeit immer nur über die vergleichsweise hohen Kosten und kaum über den krankheitsfördernden Ernährungs- und Lebensstil der Deutschen diskutiert? Warum werden finanzbezogene Steuerungsansätze immer nur bei den Leistungserbringern installiert, jedoch so gut wie nie bei den Versicherten? Abgesehen davon, dass mit der Betonung der Kostenseite im politischen Spiel auf elegante Weise die Leistungserbringer unter Druck gesetzt werden können, liegt die tiefere Antwort auf der Hand: Das deutsche Gesundheitswesen insgesamt und vor allem die Präventionsansätze kranken insbesondere an der Verschiebung der Verantwortlichkeiten weg vom einzelnen und hin auf eine möglichst unverbindliche Ebene. In Deutschland wird diese Verschiebungsebene entweder von Verbänden oder von der „Solidargemeinschaft“ gebildet. Im Kern scheut man sich, dem einzelnen auf die Füße zu treten und ihm reinen Wein über die katastrophalen gesundheitlichen Folgen seines im internationalen Vergleich einzigartig miserablen Lebensstils einzuschenken.

Unsolidarische Inanspruchnahme

Diese typisch deutsche Krankheit wird von Paul Nolte als „kollektivierte Unverantwortlichkeit“ bezeichnet. Horst Seehofer hat ein damit verwandtes Phänomen in seiner Zeit als Bundesgesundheitsminister in die nicht minder eindrucksvolle Metaphorik gefasst, die größte Bedrohung für die solidarische Krankenversicherung seien weder die Krankheiten noch die Leistungserbringer, sondern die „unsolidarische Inanspruchnahme“ der Solidarversicherung. Und ein ungesunder, nur den eigenen Vorlieben verpflichteter Lebensstil bedeutet aufgrund seiner dauerhaften Folgewirkungen die exzessivste Form dieser unsolidarischen Inanspruchnahme.

Offensichtlich verführt bereits der Begriff der „Solidarversicherung“ zu einem solchen tiefgreifenden Missverständnis, das letztlich in der Perversion des Solidaritätsprinzips endet. Ursprünglich war damit lediglich die Parität der Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeint; später wurde dann unter dem Eindruck der beitragsfreien Familienmitversicherung und der zunehmenden Aufwendungen für die Krankenversicherung der Rentner ein erweiterter Solidaritätsbegriff unterlegt. Heute signalisiert dieser Begriff dem einzelnen Versicherten: Für alles, was mit Deiner Gesundheit und mit Deiner Krankenversicherung zu tun hat, bist nicht Du verantwortlich, sondern immer die anderen oder die Gemeinschaft.

Der Autor hat diese absonderliche Mentalität bei seinen eigenen Bemühungen erfahren dürfen, präventionsbezogene Zusatztarife zu entwickeln. Krankenkassen und vermeintliche „Verbraucherschützer“ warnten vor dem Abschluss solcher Tarife, da hier der Kassenpatient etwas „aus eigener Tasche“ finanzieren müsse. Die Tatsache, dass letztlich jede Präventionsleistung zunächst aus der Tasche der Versicherten bezahlt werden muss, ist aus dem sozialpolitischen Weltbild der Deutschen offensichtlich komplett verdrängt worden.

Die „kollektivierte Unverantwortlichkeit“ führt zum Finanzkollaps der GKV

Die konsequente Erziehung des Deutschen zur gesundheitlichen Unmündigkeit hat die Vorstellungen gerade zur Prävention nachhaltig geprägt: Prävention ist immer etwas, was andere bei mir tun oder zumindest was andere für mich bezahlen. Und weil es geradezu anstößig ist, den Deutsehen auf seinen im weltweiten Vergleich miserablen Lebensstil hinzuweisen, wurde der schöne Begriff der „Verhältnisprävention“ erfunden, der gerade durch seine Verknüpfung mit der „Verhaltensprävention“ ein fatales kollektives Missverständnis förderte: Erst sollen sich einmal die Verhältnisse ändern, dann kann ich auch über gewisse Änderungen in meinem Lebensstil nachdenken.

Wie fatal sich diese Einstellung bereits heute auswirkt, zeigen die kürzlich vorgelegten Ergebnisse des GEK-Gesundheitsreports 2003 der Gmünder Ersatzkasse hinsichtlich der morbiditätsbezogenen Aufschlüsselung der Krankheitskosten. Dort wurde ermittelt, dass nur 20 Prozent der Versicherten für mehr als 90 Prozent der Ausgaben verantwortlich sind und dass ein Großteil der Ausgaben auf durch Prävention vermeidbare Erkrankungen entfällt. Dies zeigt überdeutlich, dass nicht das Verhalten der Ärzte, sondern das Verhalten der Versicherten über die Zukunft der solidarischen Krankenversicherung entscheiden wird.

In Abwandlung von Kennedys berühmtem Appell muss daher heute jedem Versicherten ins Stammbuch geschrieben werden: „Frage nicht, was die Solidargemeinschaft für Dich und Deine Gesundheit tun kann, sondern frage, was Du für Deine Gesundheit und für die Solidargemeinschaft tun kannst!“ Da ein solcher Appell beim Durchschnittsversicherten, der – vom Fastfood-Restaurant kommend – gerade seine weitere Abendverpflegung in Gestalt von Bier und Chips vor dem Fernseher positioniert hat, selbstverständlich geräuschlos verpufft, muss der Merkfähigkeit unter Rückgriff auf bestimmte Techniken der Verhaltensbeeinflussung nachgeholfen werden Und bei diesen Techniken stehen Bonusanreize, und zwar am besten unter direkter Verknüpfung mit dem Versichertenbeitrag, an erster Stelle.

Das immer wieder hiergegen vorgebrachte Totschlagargument, präventionsbezogene Bonussysteme seien entweder gar nicht praktikabel oder verwandelten die Krankenkassen in eine Art Geheimdienst, hat definitiv ausgedient. Um eine Anleihe bei der aktuellen rhetorischen Lieblingsfigur des Kanzlers zu nehmen: Entweder es gibt künftig eine solidarische Krankenversicherung mit Verpflichtung zur individuellen Prävention oder es gibt gar keine solidarische Krankenversicherung mehr, jedenfalls keine finanzierbare!

Aktive Prävention durch gesunden Lebensstil muss belohnt werden

Das alte Denken im Präventionsbereich ist heute gleich in zweifacher Hinsicht überholt: Zum einen kann sich die Krankenversicherung einen Präventionsansatz, der sein Versagen über mehr als zwei Jahrzehnte permanent unter Beweis gestellt hat, gar nicht länger leisten. Zum anderen gibt es heute Erkenntnisse und Techniken, die einen sinnvollen Steuerungseinsatz durch Bonussysteme zulassen, So ließe sich zum Beispiel in folgenden sieben Bereichen über Beitragsanreize ein präventionsbewusstes Verhalten unterstützen: Fettsucht und Fehlernährung, Nikotinabusus, Alkoholabusus, Impfschutz, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus.

  • Stichwort „Über-, Unter-, Fehlernährung“, die größte Einzelbelastung unseres Gesundheitssystems: Wer im Rahmen der gesetzlichen Früherkennungsuntersuchungen einen Body-Maß-Index (BMI) im Idealbereich zwischen 20 und 25 kg/qm nachweist, erhält einen Bonus von 4 Prozent auf den Kassenbeitrag. Dies kann gegebenenfalls durch zusätzliche Bestimmung des Körperfettgehalts verfeinert werden.
  • Weiter: Wer anlässlich der Früherkennungsuntersuchungen Nikotinabstinenz aufgrund eines Bluttests (z.B. Cotinin-Test) nachweist, erhält einen Bonus von 2 Prozent.
  • Und: Wer zusätzlich (z,B. mittels CDT-Test) nachweist, dass er weder sich noch die Solidargemeinschaft durch übermäßigen Alkoholkonsum schädigt, wird mit einem zusätzlichen Bonus von 2 Prozent ermuntert, auf diesem Wege fortzufahren.
  • Und zur Förderung des kollektiven Aufwachens aus der verbreiteten Impfmüdigkeit wird der Nachweis über einen vollständigen Impfschutz mit weiteren 2 Prozent Beitragsnachlass belohnt.
  • Auch Messwerte, deren Erhöhung Ausdruck behandlungsbedürftiger Krankheiten sind, können in ein solches System einbezogen werden: Wer Blutdruck-, Cholesterin- und HbAlc Werte jeweils im Normbereich aufweist – egal ob als Gesunder oder gut eingestellter Kranker – erhält einen Bonus von je 2 Prozent. Wer hier entgegenhält, damit werde der Kranke gleich doppelt bestraft, der irrt. Ein Bonussystem wird im Gegenteil sich gleich zweifach positiv auswirken: einerseits, weil auf diese Weise die Inanspruchnahme von Früherkennungs- bzw. „Vorsorge“-Untersuchungen maximal befördert wird. Zum anderen weil hierdurch gerade auch bei Patienten mit Hochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus ein hohes Interesse . daran geweckt wird, dass sie ordentlich behandelt werden. Das kann den Qualitätsdruck auf die behandelnden Ärzte mindestens in gleicher Weise erhöhen, wie es durch die Einführung von leitliniengestützten DMP bezweckt wird.

Endlich ein wirklich sinnvoller Risikostrukturausgleich

Ein solches Bonussystem wäre eine Art von präventionsbezogenem Risikostrukturausgleich, also ein echter „Versicherten-RSA“, in dem die durch Lebensstil und Präventionsbereitschaft unterschiedlichen Risikostrukturen der Versicherten ausgeglichen würden. Dies alles muss natürlich auf freiwilliger Basis geschehen. Allerdings setzt ein Bonussystem in der Tat am empfindlichsten Organ des Deutschen an, nämlich an seinem Portemonnaie. Daher ist die Wirksamkeit eines solchen Systems ebenso garantiert wie die im Vorfeld seiner Einführung zu erwartenden Meldungen der Bedenkenträger, die jede Änderung des Status quo zu verhindern suchen.

Ja, natürlich können sieben Kriterien nicht den gesamten Präventionsbereich abdecken, aber es muss endlich ein Anfang gemacht werden. Und natürlich erfordert ein „Bescheinigungssystem“ einen gewissen Verwal tungsaufwand, aber was wäre schöner als ein erhöhter Verwaltungsaufwand dadurch, dass Prävention zum „Volkssport Nr. 1“ geworden ist? Und schließlich ebenfalls selbstverständlich ist, dass ein Beitragsbonus von (je nach Erfüllung der sieben Kriterien) bis zu 16 Prozent durch entsprechende Anhebung des durchschnittlichen Beitragssatzes und damit auch der Beiträge für die „Präventionsmuffel“ gegenfinanziert werden muss.

Die Prämierung von Vorsorgebereitschaft und gesundem Lebensstil ist jedoch ohne Alternative.

Es sei denn, man wolle die Zerstörung der solidarischen Krankenversicherung bewusst in Kauf nehmen: die Zerstörung von außen durch nicht mehr beherrschbare Kosten für die Solidargemeinschaft und die Zerstörung von innen, weil eine unsolidarische Zwangsgemeinschaft, in welcher der Präventionsbewusste für die Lebensstilsünden der anderen in finanzielle Haftung genommen wird, von den Leistungsträgern des Solidarsystems nicht mehr länger toleriert werden wird.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Gesundheit erfordert Eigenverantwortung – Ein Vorschlag zur Einführung eines präventionsbezogenen Bonussystems. In: Forum für Gesundheitspolitik, Juni 2003, S. 201-204.

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