Gesundheit statt Urlaub!

ARZT & WIRTSCHAFT (2004)
Gesundheit statt Urlaub!

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Ein großer Teil des Drucks auf die GKV-Finanzierung geht vom Arbeitgeberlager aus, das jede Erhöhung ihres Anteils ablehnt. Die Erhöhung des GKV-Beitragssatzes belaste die Lohnzusatzkosten, verteuere so den Faktor Arbeit und mache den Wirtschafts-Standort Deutschland immer unattraktiver.

Erstaunlich, dass solch plumpe Betrachtungsweise unsere Gesundheitspolitik nun schon seit mehr als zehn Jahren bestimmt. Tatsächlich ist der Arbeitgeberbeitrag zur GKV nur für etwa acht Prozent aller Lohnzusatzkosten verantwortlich. Deren größter Teil entfällt auf freiwillig zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften vereinbarten Leistungen, insbesondere den tarifvertraglichen Urlaubsanspruch.

Raus aus den Rationierungsfallen!

Die hochpolitische Formel, die den eindeutigen Zusammenhang zwischen Urlaubsanspruch und Gesundheitsanspruch der Versicherten in eine sinnvolle Beziehung zueinander bringt, ist ebenso schlicht wie verblüffend zugleich: Ein Urlaubstag = 0,85 Beitragssatzpunkte = sieben Jahre medizinischer Fortschritt!

Mit anderen Worten: Mit dem Verzicht auf einen Urlaubstag kann ein Beitragssatzanstieg um 0,85 Prozent und damit etwa die Arbeitgeber-Kosten von demographischem Umbau und medizinischem Fortschritt für einen Siebenjahreszeitraum finanziert werden. Es ist im Grunde unfassbar, dass dieser einfache Zusammenhang in der öffentlichen Diskussion um die Gesundheitsreformen systematisch ausgeblendet wird.

Besonders unverantwortlich ist dies vor allem deswegen, weil die deutschen Versicherten ja einen im internationalen Vergleich äußerst üppigen tarifvertraglichen Urlaubsanspruch haben. Und weil sie sich daher durch bewussten Verzicht auf einen dieser Urlaubstage gegen die Rationierungsfallen der Gesundheitsreformen wirksam wappnen könnten. Konsequenter Weise hat die Bundesregierung im Vorfeld der Gesundheitsreform 2004 Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gefragt, ob denn Bereitschaft bestehe, durch den Verzicht auf einen Urlaubstag die ansonsten unvermeidlichen Leistungseinschränkungen wie etwa die Ausgliederung des Zahnersatzes abzuwenden. Und das im Grunde Unglaubliche geschah: Gewerkschaften und Arbeitgeber lehnten diesen Vorschlag vehement ab und ließen statt dessen frei nach dem Motto „Urlaub statt Gesundheit“ die 72 Millionen Versicherten bedenkenlos in die Rationierungsfalle laufen.

Dass dies ohne öffentliche Diskussion und damit ohne Beteiligung der Betroffenen selbst ablief, ist der eigentliche Skandal. Denn aus zahlreichen Untersuchungen ist bekannt, dass eine große Mehrheit der Versicherten bereit wäre, einen höheren Beitragssatz zu akzeptieren und auch auf einen Urlaubstag zu verzichten, wenn dafür der medizinische Fortschritt in der GKV weiter garantiert bliebe. Daher muss die Ärzteschaft diese Zusammenhänge im Rahmen der kommenden Reformschritte ins öffentliche Bewusstsein rücken. Und damit die Versicherten an der grundsätzlichen Entscheidung beteiligen. Andernfalls könnte es nämlich bald heißen: „Die Bundesgesundheitsministerin warnt: Arbeitgeber und Gewerkschaften gefährden Ihre Gesundheit!“

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Gesundheit statt Urlaub! – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 04/2004

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