Individuelle Gesundheitsleistungen: Grundsätze, Ziele und Perspektiven

Forum für Gesellschaftspolitik (1998)

I.    Grundsätze und Ziele des IGeL-Konzepts

Im Verlauf des Jahres 1996 wurde in der Kassenärzteschaft zunehmend die Forderung laut, eine Übersicht über diejenigen ärztlichen Leistungen zu erstellen, die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören. Diese Forderung wurde Anfang des Jahres 1997 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgegriffen, da auch dort mit zunehmender Häufigkeit Anfragen zur leistungsrechtlichen Bewertung einzelner ärztlicher Leistungen eingetroffen waren. Der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung faßte den Beschluß, zusammen mit den ärztlichen Verbänden und Berufsverbänden einen Katalog „individueller Gesundheitsleistungen“ zu erstellen. Nach Abschluß der Abstimmungsarbeiten wurde die Erstausgabe dieses Katalogs, für den sich in der innerärztlichen Diskussion die Bezeichnungen „IGEL-Katalog“ oder „IGEL-Liste“ anscheinend durchgesetzt haben, am 18. März 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt.

Im nachhinein ist zu konstatieren, daß die Zusammenstellung eines Kataloges ärztlicher Leistungen außerhalb der Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bereits lange überfällig war. Die Notwendigkeit, dies zu tun, wurde jedoch nicht nur von den Krankenkassen, sondern auch von den Kassenärzten über sehr lange Zeit „verdrängt“, da es bis weit in die 90er Jahre einen unausgesprochenen Konsens im Gesundheitswesen gab, alle medizinischen Leistungen allen Versicherten zugänglich zu machen, egal ob es sich dabei um originäre Kassenleistungen handelte oder nicht.

Erst das Jahr 1995 hat aufgrund von drei einschneidenden Ereignissen einen fundamentalen Richtungswechsel gebracht. Zum einen wurden im Rahmen eines unverantwortlichen politischen Verschiebebahnhofs der gesetzlichen Krankenversicherung Mittel in der Größenordnung von 6 Milliarden DM entzogen. Zum zweiten wurde mit der Einführung der Krankenversichertenkarte einem massiven Anstieg des Inanspruchnahmeverhaltens der Versicherten Vorschub geleistet, wobei die Auswirkungen dieser Mehrinanspruchnahme angesichts eingefrorener Gesamtvergütungen ausschließlich von den Kassenärzten selbst in Form dramatisch sinkender Preise für ihre Leistungen getragen wurden. Hinzu kam schließlich drittens die Eröffnung der Wahlfreiheit unter den Krankenkassen und damit der Eintritt der gesetzlichen Krankenversicherung in die Ära des Wettbewerbs.

Nach der formalen Definition durch Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie ärztliche Verbände und Berufsverbände (vgl. Abbildung 1) sind individuelle Gesundheitsleistungen solche ärztlichen Leistungen, die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, die dennoch von Patienten nachgefragt werden und die ärztlich empfehlenswert oder – je nach Intensität des Patientenwunsches – zumindest ärztlich vertretbar sind.

Abbildung 1
Definition „Individueller Gesundheitsleistungen“

Individuelle Gesundheitsleistungen sind solche ärztlichen Leistungen,

  • die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören
  • die dennoch von Patienten nachgefragt werden und
  • die ärztlich empfehlenswert oder – je nach Intensität des Patientenwunsches – zumindest ärztlich vertretbar sind.

Die Aufnahme nicht nur „ärztlich empfehlenswerter“, sondern auch bestimmter „ärztlich vertretbarer“ Leistungen in den Empfehlungskatalog der individuellen Gesundheitsleistungen macht deswegen Sinn, weil es zahlreiche ärztliche Leistungen gibt, die zwar von Ärzten nicht unbedingt empfohlen werden, deren Inanspruchnahme aus Sicht des einzelnen Patienten jedoch durchaus Sinn macht und daher auch legitim ist.

Unterscheidung von GKV-Leistungen und individuellen Gesundheitsleistungen anhand der Begriffshierarchie zur medizinischen Notwendigkeit

Abbildung 2:
Unterscheidung von GKV-Leistungen und individuellen
Gesundheitsleistungen anhand der Begriffshierarchie
zur medizinischen Notwendigkeit

In Abbildung 2 sind als Beispiele hierfür der sonographische Check-up der Abdominalorgane bei überängstlichen Patienten ohne Krankheitssymptomatik oder die Entfernung von Tätowierungen aus dem großen Feld der kosmetischen Behandlungswünsche genannt. Aus dieser Abbildung wird auch deutlich, daß dem Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen eine wichtige Ordnungsfunktion in der Abgrenzung ärztlich empfehlenswerter oder vertretbarer Wunschleistungen zum einen von den „medizinisch notwendigen“ GKV-Leistungen und zum anderen von den nur noch „medizinisch machbaren“ Außenseiter-Leistungen zukommt.

Von zentraler Bedeutung für die Definition der individuellen Gesundheitsleistungen ist die Abgrenzung zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung. In Abbildung 3 ist dargestellt, daß im Hinblick auf diese Abgrenzung drei Kategorien individueller Gesundheitsleistungen unterschieden werden können:

  • der Behandlungs-Anlaß,
  • das Behandlungs-Verfahren,
  • die Indikation für die Anwendung des Behandlungsverfahrens.

Die Abgrenzung des Behandlungsanlasses ist angesichts der weitgehenden Begrenzung der GKV-Zuständigkeit auf die eigentliche Krankenbehandlung zumeist unproblematisch. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch Gesunde handelt. So ist z.B. die sportmedizinische Untersuchung von Gesunden im Alter über 40 Jahren vor Aufnahme intensiver sportlicher Tätigkeit eine aus ärztlicher Sicht sehr empfehlenswerte präventivmedizinische Maßnahme, die – ähnlich dem Airbag im Auto oder dem Schienbeinschützer des Fußballspielers – aus naheliegenden Gründen nicht Leistungsgegenstand einer gesetzlichen Zwangsversicherung sein kann. Bestehen bei dem betreffenden Patienten jedoch z.B. kardiale Vorerkrankungen, so müssen diejenigen Fälle abgegrenzt werden, in denen z.B. das Belastungs-EKG als Bestandteil der sportmedizinischen Vorsorgeuntersuchung auch Teil der Krankenbehandlung im Rahmen der Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung sein könnte.

Abbildung 3

Drei Kategorien „Individueller Gesundheitsleistungen“ im Hinblick auf die Abgrenzung zum GKV-Leistungsumfang

  1. Behandlungs-Anlaß außerhalb der GKV-Zuständigkeit (z. B. sportmedizinische Untersuchung von Gesunden vor Aufnahme sportlicher Aktivität)
  2. Behandlungs-Verfahren außerhalb der GKV-Zuständigkeit (z. B. Akupunktur)
  3. Indikation für Behandlungsverfahren außerhalb der GKV-Zuständigkeit (z. B. medizinisch nicht indizierte Abklärungsdiagnostik zur vom Patienten gewünschten „Beweissicherung“ nach Fremdschädigung)

Auch die Abgrenzung der Behandlungs-Verfahren außerhalb der GKV-Zuständigkeit ist in der Regel unproblematisch, selbst wenn im Hinblick auf eine Reihe von „Grenzleistungen“ – wie etwa die homöopathischdiagnostische Fallanalyse – derzeit noch leistungsrechtliche Unklarheiten bestehen. Deutlich problematischer ist in dieser Hinsicht in jedem Fall die letzte der drei aufgeführten Kategorien individueller Gesundheitsleistungen, nämlich die außerhalb der GKV-Zuständigkeit angesiedelte Indikation für die Anwendung eines Behandlungsverfahrens. Äußert der Patient -z.B. im Zusammenhang mit einer „Beweissicherung“ nach Fremdschädigung – selbst den Wunsch auf Durchführung bestimmter, im Rahmen einer Krankenbehandlung nicht notwendiger Leistungen, so ist die Abgrenzung zur GKV-Zuständigkeit wenig schwierig. Handelt es sich dagegen um den Wunsch nach Leistungen, die bei einer sehr weiten Indikationsstellung durch den Arzt auch Gegenstand einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgenden Krankenbehandlung sein könnten, so gestaltet sich die leistungsrechtliche Abgrenzung deutlich komplexer.

Allerdings gehört eine solche Abgrenzung sowohl zum Kernanliegen als auch zum Kerninhalt eines Kataloges individueller Gesundheitsleistungen. In den geschilderten Grenzbereichen kommt es nämlich zu einer Verwischung zwischen der „unwirtschaftlichen Indikationsstellung“ des Arztes und der „unwirtschaftlichen Inanspruchnahme“ durch den Patienten. In einer Zeit der sich zunehmend verknappenden Ressourcen der gesetzlichen Krankenversicherung muß für beide unmittelbaren Akteure, also Patient und Arzt gleichermaßen, wieder erkennbar werden, wo die Grenze zwischen medizinischer Notwendigkeit und individuellem Behandlungswunsch liegt. Bei Patientenwünschen, die eindeutig gegen das dem Arzt auferlegte Wirtschaftlichkeitsgebot gerichtet sind, hat der Arzt den Patienten auf die eigene Zuständigkeit für die Finanzierung seines Leistungswunsches zu verweisen.

Im Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen sind nur wenige Leistungen enthalten, die auf die fehlende Zuständigkeit der GKV für die vom Patienten beanspruchte Indikation abheben. Häufig handelt es sich hierbei um Indikationsstellungen, die nicht nur außerhalb des medizinisch Notwendigen und Wirtschaftlichen, sondern daneben auch außerhalb des ärztlich Empfehlenswerten liegen. Diese Leistungen sind daher nicht im Empfehlungskatalog enthalten, auch wenn es Gründe geben mag, weshalb der Arzt dem Wunsch auf private Durchführung der entsprechenden Behandlungsmaßnahme letztlich nachgibt. Wünscht z.B. eine junge Patientin mit gelegentlichen unspezifischen Kopfschmerzen aus Furcht vor einem in diesem Fall extrem unwahrscheinlichen Hirntumor die Durchführung einer Kernspintomographie, so zählt eine solche Indikation keineswegs zum GKV-Leistungs-umfang, so daß die betreffende Patienten auf die private Inanspruchnahme dieser Leistung zu verweisen wäre.

In Abbildung 4 sind die bestimmenden Zielgrößen des Konzepts der individuellen Gesundheitsleistungen aufgeführt.

Bestimmende Zielgrößen des Konzepts der „individuellen Gesundheitsleistungen"

Abb. 4: Bestimmende Zielgrößen des Konzepts der „individuellen Gesundheitsleistungen“

So soll die Zusammenstellung und Veröffentlichung eines Katalogs dazu beitragen, bei allen im Gesundheitswesen Beteiligten, also Patienten, Ärzten, Krankenkassen, Gesundheitspolitikern und schließlich auch den Medien, die notwendige Erkenntnis zu befördern, daß nicht mehr alles, was medizinisch sinnvoll sein mag, allen Versicherten „auf Chipkarte“ unmittelbar zur Verfügung gestellt werden kann. Es soll insbesondere deutlich werden, daß die individuelle Bedürfnisbefriedigung im Bereich der medizinischen Angebotsvielfalt durchaus für den einzelnen Sinn machen kann, daß diese Bedürfnisbefriedigung jedoch nicht kollektiv im Rahmen einer Zwangsversicherung finanziert werden kann, zumal nicht im Hinblick auf solche Leistungen, die nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören.

Auf diese Weise dient die Vermittlung des Grundgedankens der „individuellen Gesundheitsleistungen“ vor allem dazu, die Begrenztheit der kollektiv verfügbaren Mittel zu kommunizieren und insbesondere die Grenzen der Leistungszuständigkeit einer gesetzlichen Krankenversicherung zu dokumentieren. Diese Aufgabe ist von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erst seit der Einführung der Krankenversichertenkarte sehr vernachlässigt worden. Die schlichte Leugnung der offensichtlichen Erkenntnis, daß die Einführung der Versichertenkarte zu einer erheblichen Mehrinanspruchnahme ärztlicher und auch ärztlich verordneter Leistungen geführt hat, ist geeignet zu belegen, daß eine sowohl mit sich selbst als auch mit der privaten Krankenversicherung im Wettbewerb stehende gesetzliche Krankenversicherung offensichtlich nicht die Kraft aufbringen kann, einer unsolidarischen Inanspruchnahme der Solidarversicherung entschlossen entgegenzuwirken. Gerade in dieser wettbewerbsbedingten Sprachlosigkeit wird dem Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen eine wichtige Ordnungsfunktion zukommen. Mit der Definition eines Kataloges individueller Gesundheitsleistungen wird jedoch nicht nur eine Abgrenzung zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt; vielmehr soll gleichzeitig die selbstbestimmte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in der „Grauzone“ jenseits der GKV-Zuständigkeit auf geordnete Wege geführt werden. Medizinische Außenseiterleistungen, über deren Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit erhebliche Zweifel bestehen, werden ausdrücklich nicht in den Katalog individueller Gesundheitsleistungen aufgenommen. Damit wird dieser Katalog zu einem „Empfehlungskatalog“, der die Wahrnehmung individueller Gesundheitswünsche jenseits der Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkassen in vielen Fällen überhaupt erst ermöglichen dürfte. Neben dem Anspruch, die Begrenztheit solidarisch aufgebrachter Mittel zu kommunizieren und auf diese Weise einer finanziellen Destabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung entgegenzuwirken, hilft die Veröffentlichung eines Katalogs individueller Gesundheitsleistungen somit auch bei der Geltendmachung und Realisierung individueller Gesundheitsbedürfnisse.

Eine weitere Folge der Herstellung von Transparenz über den Umfang individueller Gesundheitsleistungen außerhalb der GKV-Zuständigkeit ist die Ermöglichung eines qualitätssichernden Wettbewerbs in diesem Leistungssektor. Die gesetzliche Verpflichtung insbesondere der kassenärztlichen Selbstverwaltung zur Sicherung der Qualität ärztlicher Leistungen beschränkt sich auf die von der gesetzlichen Krankenversicherung umfaßten ärztlichen Leistungen. Zahlreiche andere Leistungsangebote – vom General-Check-up über die sportmedizinische Vorsorgeuntersuchung bis zur reisemedizinischen Beratung – sind demgegenüber bislang in einer Grauzone individueller Patientenwünsche und individueller ärztlicher Leistungsangebote angesiedelt. Mit der Veröffentlichung des Kataloges individueller Gesundheitsleistungen wird die notwendige Transparenz hergestellt, die auch Grundlage für einen qualitätssteigernden innerärztlichen Wettbewerb sein kann. So werden etwa für die reisemedizinische Beratung durch innerärztliches „Benchmarking“ (Orientierung an der besten Leistungsdurchführung) faktische Standards gesetzt, ohne deren Einhaltung der anbietende Arzt im Wettbewerb um zufriedene Patienten auf Dauer nicht bestehen kann.

Der Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen soll darüber hinaus auch zur Entwicklung des medizinischen Leistungsangebotes beitragen. Dies gilt insbesondere für die Aufnahme nicht nur neuer Methoden und Verfahren, sondern auch neuer Anwendungsindikationen in die ärztliche Behandlung. Mit dem Verfahren der formalen Aufnahme neuer Leistungen in den Leistungskatalog der GKV über den in § 135 Abs. 1 SGB V beschriebenen Mechanismus ist zwangsläufig ein überaus langes Intervall zwischen den ersten nutzbringenden Anwendungen einer neuen Methode und der Aufnahme in den Leistungskatalog für alle Versicherten verbunden. In den Empfehlungskatalog der individuellen Gesundheitsleistungen sollen jedoch auch solche neuartigen Leistungen aufgenommen werden, die insbesondere unter sorgfältiger Abwägung der Nutzen-Risiko-Aspekte aus ärztlicher Sicht Patienten für eine individuelle Inanspruchnahme angeboten werden können.

Insbesondere das hierauf bezogene Kapitel des IGEL-Kataloges könnte daher die Funktion einer „Vorschlagsliste“ für die Aufnahme neuer Leistungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung übernehmen. Aus diesem Grunde wurden potentielle GKV-Leistungen im Katalog individueller Gesundheitsleistungen entsprechend gekennzeichnet. Dabei ist davon auszugehen, daß im Falle einer Ablehnung der Aufnahme des Verfahrens durch den Bundesausschuß die entsprechende Leistung aus dem Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen zu streichen wäre, soweit die Ablehnung nicht ausschließlich auf eine fehlende Leistungszuständigkeit der GKV oder eine geringere „Wirtschaftlichkeit“ im Vergleich zu anderen Verfahren zurückzuführen ist. Die betreffende Leistung müßte dann bei entsprechendem Patientenwunsch zwar weiterhin privat finanziert werden, sie würde jedoch nicht mehr mit dem Anspruch des Empfehlungskataloges übereinstimmen können.

Ein letzter Aspekt des Kataloges individueller Gesundheitsleistungen, der über die unmittelbar ableitbaren konkreten Zielsetzungen hinausgeht, besteht in der Hoffnung, auf diese Weise zu einer „Renaissance“ der Medizin gegenüber dem Anspruch der Ökonomie beizutragen. Seit Mitte der 70er Jahre, als von Heiner Geißler das unzutreffende, aber griffige Bild von der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ in die gesundheitspolitische Diskussion eingebracht wurde, sind – von Sensationsereignissen abgesehen – medizinische Fragestellungen gegenüber ökonomischen Betrachtungen zunehmend in den Hintergrund getreten. Die fünf großen Kostendämpfungsgesetze von 1977 bis 1997 haben hierzu entscheidend beigetragen. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wird in Deutschland allmählich realisiert, daß sowohl der Medizin als auch den gesundheitlichen Ansprüchen der Menschen Unrecht zugefügt wurde, als beide Aspekte vollständig der Frage der Finanzierbarkeit in einer solidarischen Zwangsversicherung untergeordnet wurden. Erst mit der Erkenntnis, daß eine Rückkehr zum „freien Spiel der Kräfte“ zwischen Angebot und Nachfrage auch auf dem Gesundheitssektor positive Effekte für die wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere den Arbeitsmarkt haben kann, kann es der Medizin ganz allmählich gelingen, sich aus dem Diktat der Ökonomie zu befreien. Die Herstellung von Transparenz im Hinblick auf einen Katalog individueller Gesundheitsleistungen ist ein wichtiger Beitrag der Ärzteschaft, diesen Prozeß der Rückkehr gesundheitsbezogener Fragestellungen in das Zentrum des gesellschaftlichen Diskussionsprozesses zu unterstützen.

II.    Perspektiven nach der Veröffentlichung des IGeL-Katalogs

Das Konzept der „Individuellen Gesundheitsleistungen“ basiert im Kern auf der schlichten Überlegung, diejenigen ärztlichen Leistungen erstmals explizit in einem Katalog zu erfassen, die nicht Gegenstand des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Es muß daher zunächst verwundern, welchen Grad an Aufmerksamkeit dieses Konzept in der Öffentlichkeit und ganz besonders bei den gesetzlichen Krankenkassen erlangt hat. Die Gründe für die ausgesprochen „allergischen“ Reaktionen auf seiten der Krankenkassen sind im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß man sich dort darauf verständigt hat, im gegenseitigen Wettbewerb und im Wettbewerb mit der privaten Krankenversicherung unter dem Stichwort eines „solidarischen Wettbewerbs“ das Leistungsrecht weitgehend zu tabuisieren und die Wettbewerbsparameter ganz auf den „Strukturwettbewerb“ unter Einbeziehung von „Einkaufsmodellen“ gegenüber der Ärzteschaft auszurichten.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die Krankenkassen ein Konzept, welches auf leistungsrechtliche Klarstellungen abzielt, als Angriff auf ihre Wettbewerbsstrategien empfinden. Dementsprechend lassen sie auch nichts unversucht, das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Unter der Vorstellung, daß die unsinnigste Unterstellung in der Öffentlichkeit den höchsten Grad an Aufmerksamkeit erreichen kann, haben sich die Krankenkassen zuletzt dazu entschlossen, das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen als „Abkassier-Modell“ der Ärzteschaft zu diffamieren. Angesichts der überzeugenden Argumente, die für das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen sprechen, wird diese Kampagne der Desinformation nicht weit tragen können. Sie wird vielmehr der Strategie der Krankenkassen, leistungsrechtliche Fragestellungen zu tabuisieren, zuwiderlaufen, da mit dem Vorwurf des „Abkassiermodells“ eine verbale Eskalationsspirale in Gang gesetzt wurde, die zu einer hohen Sensibilität der Öffentlichkeit in bezug auf die Leistungsfähigkeit und den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung führt.

IGeL-Konzept stützt die Solidarversicherung

So hätte die Ärzteschaft allen Grund, auf den Vorwurf des „Abkassiermodells“ mit dem Hinweis auf eine „Entmündigungsstrategie“ der Krankenkassen gegenüber ihren Versicherten zu reagieren. Jedenfalls haben die Krankenkassen in der Vergangenheit tatsächlich nichts unversucht gelassen, ihren Versicherten zu suggerieren, daß nur nach denjenigen medizinischen Leistungen ein Bedürfnis bestehen kann, die zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören. Aus der Sicht des verbandspolitischen Elfenbeinturms, in den sich viele Kassenfunktionäre zunehmend zurückgezogen haben, macht es durchaus Sinn, den Versicherten das Recht auf souveräne Konsumentenentscheidungen über die Inanspruchnahme bestimmter medizinischer Wunschleistungen abzusprechen. Das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen steht in der Tat im Widerspruch zu dieser Strategie der Krankenkassen, da es durch die Schaffung von Transparenz auf einem bislang vernachlässigten Sektor von Gesundheitsleistungen die Voraussetzungen dafür schafft, daß souveräne Konsumentenentscheidungen über die Inanspruchnahme bestimmter medizinischer Wunschleistungen überhaupt erst möglich werden.

Die Ärzteschaft tut allerdings gut daran, sich an einer verbalen Eskalation, welche der aus schierer Argumentationsnot geborenen Diffamierung als „Abkas-sier-Modell“ folgen könnte, nicht zu beteiligen. Statt dessen sollte die klare, gerade auf den Erhalt der Finanzierbarkeit einer gesetzlichen Krankenversicherung gerichtete Grundüberlegung des Konzepts der individuellen Gesundheitsleistungen herausgestellt werden.

So dient dieses Konzept insbesondere

  • der finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung,
  • der Vermeidung von Leistungsausgrenzungen im Sinne einer Rationierung,
  • der Vermeidung einer unsolidarischen Inanspruchnahme der Solidarversicherung,
  • der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für souveräne Konsumentenentscheidungen,
  • der gezielten Wahrnehmung individueller Gesundheitswünsche und insbesondere
  • der Schaffung von Transparenz und Qualitätssicherung im Bereich medizinischer Leistungen jenseits der GKV-Zuständigkeit.

Im übrigen besteht aller Anlaß, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß es gerade die Krankenkassen und nicht etwa die Kassenärzte gewesen sind, welche in der Vergangenheit die gesetzliche Krankenversicherung mit ebenso unsinnigen wie unseriösen Leistungsangeboten überschwemmt haben. Wer jedoch Beach-Parties, Tanzkurse oder Verkehrssicherheitstraining unter Verstoß gegen die Grundregeln einer solidarischen Krankenversicherung in sein Leistungsangebot übernimmt, der hat seine leistungsrechtliche Glaubwürdigkeit verspielt und damit auch die Berechtigung verloren, ein auf leistungsrechtliche Klarstellungen ausgerichtetes Konzept zu diffamieren.

Berufspolitischer Hintergrund

Das Konzept der „individuellen Gesundheitsleistungen“ liefert einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung und lenkt die Inanspruchnahme spezifischer individueller Gesundheits- und Versorgungswünsche erstmals in geordnete Bahnen. Dieses Konzept ist daher im gesundheitspolitischen Umfeld aus sich selbst heraus sinnvoll, notwendig und plausibel. Dennoch kann nicht übersehen werden, daß die Überlegungen, die zu diesem Konzept geführt haben, auch einen grundsätzlichen Überzeugungswandel in der Kassenärzteschaft widerspiegeln. Die Kassenärzte sind definitiv nicht mehr bereit, um den Preis ihrer Gesundheit und ihrer wirtschaftlichen Existenz sämtliche Versäumnisse der Gesundheitspolitik zu kompensieren und sich als „gemeinsame Endstrecke“ für alle Inplausibilitäten unseres Gesundheitssystems mißbrauchen zu lassen. Genau dies ist in der Vergangenheit nämlich der Fall gewesen und hat sich zudem in den letzten Jahren als bevorzugter Lösungsweg eines aus den Fugen geratenen Versorgungssystems etabliert:

  • Weil man sich nicht traut, die Krankenhäuser zu einer wirtschaftlichen Entlassungsverordnung zu verpflichten oder die pharmazeutische Industrie durch eine Re-Import-Förderung zu einer vernünftigen Preisgestaltung zu zwingen, sollen die Kassenärzte über das Arzneimittelbudget für alle anderen „die Kohlen aus dem Feuer holen“.
  • Weil bei den „umstrittenen Arzneimitteln“ niemand der Karstadt-Verkäuferin die Venenmittel und der alten Marktfrau das durchblutungsfördernde Mittel offiziell wegnehmen möchte, wird der diese Mittel verordnende Arzt als tumber Tolpatsch diffamiert, der den Verlockungen der Pharmaindustrie erlegen sei und mit dem Verordnungsblock aus Werbegründen das Geld der Kassen zum Fenster hinauswerfe, so daß er mit einer existenzbedrohenden Richtgrößenregelung endlich zur Ordnung gerufen werden müsse.
  • Weil kein Geld für den wachsenden Versorgungsbedarf im Bereich von Krankengymnastik, Logopädie und Ergotherapie zur Verfügung steht und darüber hinaus niemand dem Versicherten sagen will, daß Massagen in vielen Fällen konsumnahe Wunschleistungen sind, für die jeder selbst Verantwortung tragen muß, werden die Kassenärzte mit abstrakten Kollektivbudgets und willkürlichen Richtgrößen-Festle-gungen bedroht.
  • Weil niemand der Krankenhaus-Lobby aus Ländern, Kommunen, Kirchen und Gewerkschaften als der mächtigsten Lobby unseres Gesellschaftssystems zu nahe treten möchte, sollen die enormen Verlagerungseffekte von der stationären in die ambulante Versorgung von den Kassenärzten selbst finanziert werden.
  • Weil sich niemand an eine Reform der Kündigungsschutz-Gesetze traut und das Erschleichen von Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen entsprechend sanktioniert und weil die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ideologisch tabuisiert wird, wird ganz einfach der Arzt zur Haftung herangezogen, wenn er es nicht geschafft hat, einen „Simulanten“ zu entdecken.

Wenn sich die Krankenkassen zieren, die offensichtlich sinnvolle Früherkennungs-Mammographie in ihren Leistungskatalog aufzunehmen und die Vergütung dieser Leistungen zu regeln, soll es den Kassenärzten überlassen bleiben, die durch entsprechende Medienberichte entfachte Nachfrage auf ihre eigenen Kosten zu bedienen.

Weil die Krankenkassen bei der Ausgabe und dem Einzug von Chipkarten in unverantwortlicher Weise schlampen, sollen die Kassenärzte die aus dem „Vagabundieren“ von Millionen von Chipkarten sich zwangsläufig ergebenden Mehrleistungen kostenlos erbringen.

Für die Kassenärzte ist es eine Frage nicht mehr nur der beruflichen Würde, sondern inzwischen auch des wirtschaftlichen Überlebens, der ausschließlich zu ihren Lasten erfolgenden Arrodierung des Versorgungssystems nicht mehr länger tatenlos zuzusehen. Insofern enthält das Konzept der „individuellen Gesundheitsleistungen“ auch ein berufspolitisches Element. Die Wahrnehmung berechtigter kassenärztlicher Interessen stellt jedoch keinen Eigennutz dar, sondern wird für das Überleben eines solidarisch finanzierten, qualitätsgesicherten Versorgungssystems von entscheidender Bedeutung sein: Wer den Kassenarzt als die zentrale Schaltstelle des Gesundheitswesens vorsätzlich oder fahrlässig mit immer feineren Repressalien an den Rand des beruflichen und wirtschaftlichen Überlebens drängt, spielt va banque mit der Zukunft
unseres im Hinblick auf Zugang, Umfang und Qualität weltweit einzigartigen Versorgungssystems. Insofern ist eine entschlossene Wahrnehmung der in diesem Sinne gleichgerichteten Interessen von Kassenärzten und Patienten der entscheidende Schlüssel zur Stabilisierung unseres Versorgungssystems.

Etablierung des „zweiten Gesundheitsmarkts“

Soweit schließlich den Kassenärzten aus einer gesellschaftskritischen Grundhaltung heraus der Vorwurf gemacht wird, sie unterstützten mit dem Eingehen auf gesundheitliche Wunsch- und Komfortleistungen ihrer Patienten eine für die Zukunft der Gesellschaft insgesamt schädliche Konsumorientierung, so kann dieser Vorwurf nur als absurd bezeichnet werden. Die Ärzteschaft – und insbesondere die Kassenärzteschaft – ist nicht für die allmähliche Arrodierung des überlieferten Wertesystems und für die zunehmende Etablierung insbesondere von Freizeit- und Konsumtrends verantwortlich. Diese Trends sind im Gegenteil von den Kassenärzten auch gar nicht aufhaltbar. Es ist daher nicht nur unrealistisch sondern auch unaufrichtig, wenn die Kassenärzte unter Verweis auf das ärztliche Berufsethos von bestimmter Seite dazu aufgefordert werden, der gesellschaftlichen Neuorientierung und den Trends in Freizeit- und Konsumverhalten durch Verweigerung entsprechender Konsumwünsche entgegenzutreten.

Es ist vor diesem Hintergrund auch nicht verwunderlich, daß die im Oktober 1997 vom Emnid-Institut durchgeführte Umfrage zu den individuellen Gesundheitsleistungen die Notwendigkeit der Etablierung eines Gesundheitsmarkts außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung eindeutig bestätigt hat. So äußern 85 Prozent der Patienten den Wunsch, von ihrem Arzt über die Möglichkeiten individueller Gesundheitsleistungen informiert zu werden. 76 Prozent sind gleichzeitig bereit, aus ihrer Sicht sinnvolle individuelle Gesundheitsleistungen auch privat zu finanzieren. Dies zeigt, daß der von den gesetzlichen Krankenkassen aus Gründen eines überholten Monopolanspruchs so gefürchtete „zweite Gesundheitsmarkt“ in Deutschland längst akzeptierte Realität ist. Dieser zweite Gesundheitsmarkt außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung ruht im Hinblick auf ärztliche Leistungen auf vier „Nachfrage-Säulen“, und zwar

  • dem Bereich der empfehlenswerten individuellen Gesundheitsleistungen außerhalb der GKV-Zustän-digkeit (z.B. reisemedizinische Beratung),
  • dem Bereich der Wunschleistungen außerhalb der GKV-Zuständigkeit (z.B. Entfernung von Tätowierungen),
  • dem Bereich von Wunsch-Leistungen, die über das Angebot der individuellen Gesundheitsleistungen hinausgehen (z.B. alternative Heilverfahren) und
  • dem Bereich der von Budgets und Wirtschaftlichkeitsgebot nicht eingeschränkten Optimal- bzw. Luxusversorgung im Krankheitsfall, der – soweit es sich um GKV-Versicherte handelt – Gegenstand des Kostenerstattungs-Verfahrens sein kann (z.B. Einbettzimmer im Krankenhaus, Hausbesuch aus Komfortgründen).

Von besonderem Interesse wird das Zusammenspiel von Evidence Based Medicine und Wachstum des „zweiten Gesundheitsmarktes“ außerhalb der GKV-Zuständigkeit sein. Die gesetzliche Krankenversicherung und damit auch die kassenärztliche Versorgung wird angesichts der Knappheit der Mittel ohne evidenzbasierte Mittelallokation nicht mehr auskommen können. Tatsache ist jedoch auch, daß evidenzbasierte Medizin nicht nur zu einer Ausdünnung des Leistungsspektrums in der gesetzlichen Krankenversicherung führen wird, sondern darüber hinaus auch zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung. Dieser häufig übersehene Zusammenhang ergibt sich aus der schlichten Tatsache, daß auf der Grundlage evidenzbasierter Medizin die entsprechend evaluierten Verfahren möglichst allen Patienten der betreffenden Zielgruppe zur Verfügung gestellt werden sollen. So ist etwa im Bereich der Behandlung von HlV-lnfektio-nen festzustellen, daß derzeit nur etwa 20 Prozent der in Frage kommenden Patienten die nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin sinnvolle Mehrfachtherapie erhalten. Wird diese Therapie künftig auf der Grundlage des Konzepts der evidenzbasierten Medizin bis zu 90 Prozent der in Frage kommenden HIV-infizierten Patienten zur Verfügung gestellt, so steigen alleine in diesem einen Therapiebereich die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung um mehr als 1 Mrd. DM pro Jahr.

Doppelzüngigkeit der Krankenkassen

Dabei sind diejenigen Leistungen, die im Rahmen des Konzepts der Evidence Based Medicine von einer solidarischen Finanzierung ausgeschlossen werden, keineswegs reine „Schrottleistungen“, wie manche Kassenfunktionäre sowie einige auf der Gehaltsliste der Krankenkassen stehende „Kassenärzte“ glauben machen wollen. Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen, daß gerade in denjenigen Bereichen, in denen schulmedizinische Konzepte nicht tragen, auch „alternative“, nicht evidenzbasierte Heilverfahren zur Anwendung kommen. Angesichts des Unbehagens mit der Schulmedizin haben derartige Therapiekonzepte in der jüngsten Vergangenheit sogar eher an Bedeutung gewonnen. Als Konsequenz dieser Entwicklung hat derselbe Gesetzgeber, der harte Budgetierungsmaßnahmen gegen die Kassenärzte verfügte, einen gänzlich irrationalen, gesetzlichen „Schutzzaun“ um medizinische Verfahren gelegt, die – wie z.B. die Homöopathie und die Anthroposophie – jenseits jeglicher Evidenzbasierung stehen. Diese Art von Doppelzüngigkeit ist auch bei den gesetzlichen Krankenkassen zu beobachten, wenn deren Strukturabteilungen Evidence Based Medicine-Konzepte vorantreiben, während die Vertragsabteilungen Gruppenverträge über homöopathische, anthroposophische und kunsttherapeutische Leistungen abschließen und die Marketing-Abteilungen derselben Kassen sogar noch darüber hinausgehen, indem sie Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie oder Verkehrssicherheitstraining zum Zweck der Mitgliederwerbung anbieten.

Die entsprechende „Schrottliste“ der Krankenkassen, die vom Qualitätsniveau niemals Inhalt des IGEL-Katalogs sein könnte, füllt inzwischen ganze Bände. Das IGEL-Konzept macht mit eben dieser Doppelzüngigkeit definitiv Schluß, indem es alle Leistungen, an deren unbedingter Notwendigkeit berechtigte Zweifel bestehen, die jedoch trotzdem nachgefragt werden* in den Bereich des „zweiten Gesundheitsmarktes“ verweist und gerade damit in elementarer Weise zum Erhalt einer solidarischen Krankenversicherung beiträgt. Die unrealistische Forderung, derartige Leistungen bei Nachfrage durch die Patienten nicht in den Praxen anzubieten, entspricht einem bürokratischen und mechanistischen Menschenbild. Daß Medizin und Heilung sehr viel auch mit Irrationalität oder sogar religiösen Überzeugungen zu tun hat, ist eine uralte Erfahrung, die von Heilkundigen der Vergangenheit ebenso gemacht wurde wie von Ärzten im ausgehenden 20. Jahrhundert. Wer ausschließlich evidenzbasierte Medizin im Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten gelten lassen will, spricht einer Diktatur der Evidenz-Bürokratie das Wort. Auf die Religion übertragen hieße dies beispielsweise, daß eine „Evidence Based Religion“ keine Religion mehr, sondern nur noch den Atheismus gelten lassen dürfte. Insofern liegt der ideologisierten Kritik am IGEL-Konzept der Kassenärzte nicht nur eine pharisäerhafte Doppelzüngigkeit, sondern auch ein diktatorisches Weltbild zugrunde. Angesichts der unbestreitbaren Sinnhaftigkeit der Etablierung eines „zweiten Gesundheitsmarktes“ ist der von den Krankenkassen dagegen geleistete Widerstand nur mit tiefreichenden Ängsten hinsichtlich der Überwindung eines historisch überholten Definitionsmonopols für Gesundheitsleistungen zu begründen. Der Widerstand der Krankenkassen wird jedoch dort unerträglich, wo eine Weichenstellung weg von der Dienstleistungsgesellschaft und hin zum Kassenstaat gefordert wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich aus dem völlig überzogenen Widerstand der Krankenkassen gegen das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen drei äußerst problematische Botschaften entnehmen:

  • Weg mit der Eigenverantwortung: Wir kollektivieren die persönlichen Konsumbedürfnisse!
  • Weg mit dem gesundheitlichen Selbstbestimmungsrecht: Wir bestimmen, was der Bürger wollen soll!
  • Weg mit Dienstleistungsgesellschaft und Wachstumsmärkten: Globalbudgets sind das Maß aller Dinge im Gesundheitswesen!

Diese Botschaften der Krankenkassen sind auch deswegen fatal, weil sie gegen die allgemeine Entwicklung auf europäischer Ebene gerichtet sind. Spätestens nach Einführung des Euro werden die unterschiedlichen Lohnkosten (und damit auch die Lohnnebenkosten) in den einzelnen Mitgliedsländern der Europäischen Union direkt miteinander verglichen werden können. Auf diesem Wege wird ein zusätzlicher Rechtfertigungsdruck auf die Belastung der Lohnnebenkosten in Deutschland durch eine über diese Lohnnebenkosten finanzierte gesetzliche Krankenversicherung entstehen. Spätestens dann wird sich heraussteilen, daß Konzepte wie das Kostenerstattungsverfahren und die individuellen Gesundheitsleistungen dringend erforderlich sind, um sowohl eine Förderung des Wirtschaftsstandorts Deutschland als auch den Erhalt einer paritätisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung bewirken zu können.

Mit „Lahnstein II“ in den Kassenstaat?

In der Diskussion mit Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen gewinnt man zwischenzeitlich den Eindruck, daß die einzelnen Krankenkassen – im Gegensatz zu den Spitzenverbänden der Krankenkassen -derartige Erkenntnisse bereits verinnerlicht und ihre Strukturen und Wettbewerbsparameter entsprechend angepaßt haben. Die Krankenkassenverbände auf Bundesebene verfolgen demgegenüber im Bereich des Leistungsrechts eine rückwärtsgerichtete, auf Beharrung und Abwarten setzende Position. Sie bringen dabei teilweise offen zum Ausdruck, daß sie auf einen Regierungswechsel im September 1998 setzen, um durch ein „Lahnstein II“ politisch grünes Licht für den Weg in den Krankenkassenstaat zu erhalten.

Die Botschaft dieser Kassenstrategen ist bereits klar formuliert: „Gebt uns vier Jahre Zeit, und Ihr werdet das Gesundheitswesen in Deutschland nicht wiedererkennen“, lautet die immer häufiger vernehmbare Parole; ganz so, als würde sich eine Bundesregierung nach dem 27. September plötzlich widerstandslos für verbandspolitische Machtinteressen instrumentalisieren lassen. Für die Ärzteschaft sind die Konsequenzen, die sich aus einem Gelingen dieser neuen Kassenstrategie ergeben würden, eindeutig: „Lahnstein I“ hat durch eine ausschließlich gegen die Kassenärzteschaft gerichtete Gesetzgebung den Arzt in seiner Rolle als Helfer und „Samariter“ schwer erschüttert. Mit einem in die gleiche Richtung zielenden „Lahnstein II“ würde diese Rolle definitiv zerstört.

Dies wäre ein fatales Signal an die Leistungsträger dieser Gesellschaft. Die Beweglichen und Kreativen müßten am 27. September auf gepackten Koffern sitzen. Sie würden in Deutschland nicht mehr gebraucht. Auch der Arzt als freiberuflicher Dienstleister hätte ausgedient. Wenn die Maxime von Krankenhäusern und Gewerkschaften uneingeschränkt verwirklicht wird, daß hundert dringend benötigte, jedoch nicht organisierte Arzthelferinnen eher arbeitslos werden dürfen als ein organisierter, jedoch nicht benötigter Krankenhausmitarbeiter, dann wird der freiberuflich tätige Arzt definitiv zum Auslaufmodell deklariert. Es würde sich dann die Aussage bewahrheiten, daß jede Gesellschaft diejenige medizinische Versorgung erhält, die sie verdient.

Gerade aufgrund der Auswirkungen des Gesundheitsstrukturgesetzes sehen bereits heute viele Kassenärzte in den Absicherungsgarantien des öffentlichen Dienstes die perspektivisch interessantere Alternative zur Freiberuflichkeit. Im Krankheitsfall zu Hause bleiben zu können, 6 Wochen im Jahr Urlaub zu machen, bezahlten Fortbildungsurlaub in Anspruch zu nehmen, für die Hälfte seiner Kranken- und Alterssicherung nicht selbst aufkommen zu müssen, keine wirtschaftliche Verantwortung für verordnete Leistungen übernehmen zu müssen und schließlich kein freiberufliches Risiko tragen zu müssen: das könnten die neuen Zukunftsoptionen für eine Vielzahl von durch Politik und Krankenkassen systematisch demotivierten Kassenärzten sein, wenn die Strategien der Krankenkassen und ihre Träume vom Krankenkassenstaat sich mit Unterstützung der Politik realisieren lassen sollten.

Für die „Dienstleistungsoffensive“ in Deutschland würde dies allerdings ein abruptes Ende bedeuten. Das Gesundheitswesen müßte als dienstleistungsbezogener und Arbeitsplätze schaffender Wachstumsmarkt abgeschrieben werden. Mit der Diffamierung sinnvoller ärztlicher Leistungen als „Abkassiermodell“ haben die Krankenkassen bereits angedeutet, wohin die Reise gehen soll. Es würde das eintreten, was ausländische Beobachter teilweise bereits heute für Deutschland konstatieren, daß nämlich die Begriffe „Deutschland“ und „Dienstleistung“ nicht im selben Satz verwendet werden dürfen. Dieses Szenario zu verhindern, muß daher Aufgabe aller politischen Kräfte in Deutschland sein.

Die Kassenärzte jedenfalls werden einer Demontage unseres international anerkannten Versorgungsniveaus durch gesundheitspolitische Hasardeure nicht tatenlos zusehen. Damit man am Tag nach dem 27. September – unabhängig vom Ausgang der Wahl -in ausländischen Zeitungen eben gerade nicht lesen kann: „Gute Nacht, Deutschland! Schlafe gut – und: auf Wiedersehen!“

Individuelle Gesundheitsleistungen: Auswahl ärztlicher Leistungen außerhalb der GKV-Zuständigkeit

Die mit * gekennzeichneten Leistungen sind individuelle Gesundheitsleistungen, deren Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung diskutiert wird oder diskutiert werden sollte.

1. Vorsorge-Untersuchungen

  • Zusätzliche jährliche Gesundheitsuntersuchung („Intervall-Check“) Ergänzungsuntersuchungen zu den Kinder-Früherkennungs-untersuchungen bis zum 18. Lebensjahr („Kinder-Intervall-Check“)
  • Fachbezogene Gesundheitsuntersuchung auf Wunsch des Patienten („Facharzt-Check“)
  • Umfassende ambulante Vorsorge-Untersuchung („General-Check“)
  • Sonographischer Check-up der inneren Organe („Sono-Check“)
  • Doppler-Sonographie der hirnversorgenden Gefäße bei fehlenden anamnestischen oder klinischen Auffälligkeiten
  • Lungenfunktionsprüfung zur Früherkennung (z. B. im Rahmen eines „General-Check“)
  • Untersuchung zur Früherkennung des Prostata-Karzinoms mittels Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) und ggf. transrektaler Sonographie
  • * Untersuchung zur Früherkennung von Schwachsichtigkeit und Schielen im Kleinkind- und Vorschulalter
  • * Glaukomfrüherkennung mittels Perimetrie, Ophthalmoskopie und/oder Tonometrie

2. Freizeit, Urlaub, Sport, Beruf

  • Reisemedizinische Beratung, einschl. Impfberatung
  • Reisemedizinische Impfungen
  • Sportmedizinische Beratung
  • SportmedizinischeVorsorge-Untersuchung
  • Sportmedizinischer Fitness-Test
  • Eignungsuntersuchungen (z. B. für Reisen, Flugtauglichkeit, Tauchsport)
  • Ärztliche Berufseingangsuntersuchung

3. Medizinisch-kosmetische Leistungen

  • Medizinisch-kosmetische Beratung Sonnenlicht- und Hauttyp-Beratung
  • Tests zur Prüfung der Verträglichkeit von Kosmetika
  • Behandlung der androgenetischen Alopezie bei Männern (Glatzenbehandiung)
  • Epilation von Haaren außer bei krankhaftem und entstellendem Haarwuchs an Händen und im Gesicht
  • Ästhetische Operationen (z. B. Facelifting, Nasenkorrektur, Lidkorrektur, Brustkorrektur, Fettabsaugung)
  • Korrektur störender Hautveränderungen außerhalb der GKV-Leistungspflicht
  • Beseitigung von Besenreiser-Varizen
  • Entfernung vonTätowierungen
  • Peeling-Behandlung zurVerbesserung des Hautreliefs
  • UV-Bestrahlungen aus kosmetischen Gründen

4. Umweltmedizin

  • * Umweltmedizinische Erst- und Folgeanamnese
  • * Eingehende umweltmedizinische Beratung Umweltmedizinische Wohnraumbegehung
  • Umweltmedizinische Schadstoffmessungen
  • * Umweltmedizinisches Biomonitoring Erstellung eines umweltmedizinisch begründeten Behandlungskonzeptes
  • Umweltmedizinisches Gutachten

5. Psychotherapeutische Angebote

  • Psychotherapeutische Verfahren zur Selbsterfahrung ohne medizinische Indikation
  • Selbstbehauptungstraining
  • Streßbewältigungstraining
  • Entspannungsverfahren als Präventionsleistung
  • Biofeedback-Behandlung
  • Kunst- und Körpertherapien, auch als ergänzende Therapieverfahren
  • Verhaltenstherapie bei Flugangst

6. Alternative Heilverfahren

  • * Akupunktur (z. B. zur Schmerzbehandlung, Allergiebehandlung)

7. Ärztliche Serviceleistungen

  • Ärztliche Untersuchungen und Bescheinigungen außerhalb der kassenärztlichen Pflichten auf Wunsch des Patienten (z. B. Bescheinigung für den Besuch von Kindergarten, Schule oder Sportverein oder bei Reiserücktritt)
  • Untersuchung zur Überprüfung des intellektuellen und psychosozialen Leistungsniveaus (z. B. Schullaufbahnberatung aufWunsch der Eltern) Diät-Beratung ohne Vorliegen einer Erkrankung
  • * Gruppenbehandlung bei Adipositas Raucherentwöhnung
  • Beratung zur Zusammenstellung und Anwendung einer Hausapotheke
  • Beratung zur Selbstmedikation im Rahmen von Prävention und Lebensführung

8. Laboratoriumsdiagnostische Wunschleistungen Blutgruppenbestimmung auf Wunsch

  • Anlaßbezogener Labor-Teiltest auf Patientenwunsch (z. B. Leberwerte, Nierenwerte, Blutfette, Sexualhormone, Schilddrüsenfunktion, HIV-Test)
  • * Untersuchung auf Helicobacter pylori-Besiedlung mittels 13C-Harn-stoff-Atemtest als Primärdiagnostik
  • Zusatzdiagnostik in der Schwangerschaft auf Wunsch der Schwangeren (z. B. AFR Toxoplasmose, Triple-Test zur Risikoabschätzung des M. Down)
  • Tests zum Ausschluß von Metall-Allergien (z. B. auch Amalgam) ohne Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise

9. Sonstige Wunschleistungen Kontaktlinsen-Anpassung und -Kontrolle ohne GKV-Indikation zur Kontaktlinsen-Versorgung

  • Zyklusmonitoring bei Kinderwunsch ohne Vorliegen einer Sterilität Zusätzliche sonographische Schwangerschaftsuntersuchung auf Wunsch der Schwangeren bei Nicht-Risiko Schwangerschaften („Baby-Fernsehen“)
  • Osteodensitometrie zur Früherkennung der Osteoporose Injektion eines nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähigen Arzneimittels aufWunsch des Patienten (z. B.Vitamin- und Aufbaupräparate, knorpeischützende Substanzen)
  • Vorhautbeschneidung ohne medizinische Indikation Refertilisationseingriff nach vorangegangener operativer Sterilisation
  • Andrologische Diagnostik (Spermiogramm) ohne Hinweis aufVorlie-gen einer Sterilität oder nach Sterilisation
  • Medizinisch nicht indizierte Abklärungsdiagnostik im Rahmen der Beweissicherung nach Drittschädigung (z. B. bei HWS-Schleuder-trauma)

10. Neuartige Untersuchungs- und Behandlungsverfahren*

  • Stoßwellentherapie bei orthopädischen Krankheitsbildern Refraktive Hornhautchirurgie zur Behandlung der Kurzsichtigkeit
  • Bright-Light-Therapie der saisonalen Depression
  • Apparative Schlafprofilanalyse zur Diagnostik von Schlafstörungen Isokinetische Muskelfunktionsdiagnostik und -therapie zur Rehabilitation nach Sportverletzungen und Operationen am Bewegungsapparat

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Individuelle Gesundheitsleistungen: Grundsätze, Ziele und Perspektiven. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), April 1998, S. 81-90.

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