Morbidität und Innovation: Die Fortschrittsfalle

Deutsches Ärzteblatt (1999)

Globalbudget und angebliche Wirtschaftlichkeitsreserven

Die Gesundheitsreform 2000 setzt auf das Globalbudget und angebliche Wirtschaftlichkeitsreserven. Dabei übersieht die Politik die enorme Kostendynamik eines geänderten Morbiditätsspektrums und neuer Behandlungsmöglichkeiten.

Der fundamentale gesundheitspolitische Paradigmenwandel nach der Bundestagswahl 1998, der auch die aktuelle Diskussion um eine Strukturreform 2000 in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) maßgeblich prägt, läßt sich in zwei Hypothesen zusammenfassen:

  1. Die gesetzlichen Krankenkassen haben ausreichende Mittel zur Sicherstellung einer hochwertigen Krankenversorgung.
  2. Die lohngekoppelte Beitragsfinanzierung wird auch in Zukunft ausreichen, wenn gleichzeitig „Wirtschaftlichkeitsreserven“ erschlossen werden.

Beide Hypothesen zusammen bilden das ideologische Rüstzeug für die Regierungskoalition, mit dem durch ein weiteres Gesundheitsspargesetz die GKV auf eine „globalbudgetierte Grundversorgung“ heruntergefahren und die Patienten den als „Integrationsversorgung“ getarnten Wettbewerbsspielereien der Krankenkassen ausgeliefert werden sollen.

Regierungskoalition und Krankenkassen werden aus diesem Grunde nicht müde, in wiederkehrenden Beschwörungsformeln die Dynamik von Innovation und Morbidität in der medizinischen Versorgung zu verniedlichen und gleichzeitig Überkapazitäten und Verschwendungssucht auf der Seite der sogenannten Leistungserbringer als eigentliche Ursachen der Ausgabenentwicklung anzuprangern.

Daher zunächst zur Ausgabenentwicklung: Die GKV-Ausgaben sind im Zeitraum von 1992 bis 1998 von 209,9 auf 248,2 Milliarden DM gestiegen. Dies entspricht einem durchschnittlichen Anstieg von 2,8 Prozent pro Jahr. Eine solche Entwicklung ist auch im internationalen Vergleich eher als moderat zu bezeichnen – ganz im Gegensatz zur Entwicklung der Verwaltungskosten der Krankenkassen, die im gleichen Zeitraum von 10,6 auf 13,1 Milliarden DM gestiegen sind, was einem jährlichen Anstieg von 3,6 Prozent entspricht. Damit sind die Kosten zur Finanzierung des Wasserkopfes in den Kassenverwaltungen um fast ein Drittel schneller gestiegen als die GKV-Gesamtausgaben. Die Kassen selbst gehören also zu den maßgeblichen Kostentreibern.

Die Fortschrittsdynamik wird verleugnet

In gleicher Weise auffällig ist der Sachverstand, mit dem sich Vertreter der Koalition und der Krankenkassen zum Stellenwert von Morbidität und Innovation für die Frage der Finanzierbarkeit der GKV äußern. So werden führende Gesundheitspolitiker der Koalition gerne mit der Aussage zitiert, die Zahl der Ärzte habe in den vergangenen 40 Jahren stetig zugenommen, man habe jedoch niemals gehört, daß die Deutschen kränker geworden seien.

Spitzenvertreter der Krankenkassen möchten angesichts solch „treffsicherer“ Analysen nicht zurückstehen und behaupten, die Entwicklung bei den Arzneimittelausgaben wäre nur dann erklärbar, wenn – was bisher nicht eingetreten sei – wirksame Mittel gegen Krebs oder AIDS entwickelt worden wären.

Beide Aussagen, die zur Rechtfertigung der für Patienten und Ärzte gleichermaßen einschneidenden Gesundheitsreform 2000 dienen sollen, sind an Schlichtheit kaum zu überbieten. Sie zeigen, wie weit sich Koalitionspolitiker und Kassenfunktionäre bereits in einen gesundheitspolitischen Elfenbeinturm zurückgezogen haben, in dem sie die Realitäten und die Entwicklungsdynamik in der Krankenversorgung überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen.

Betrachtet man zum Beispiel die Entwicklung der Morbidität in Westdeutschland im Hinblick auf wichtige Volkskrankheiten, so ergibt sich eine dramatische Morbiditätsverdichtung wie etwa die Verdopplung der Zahl der Typ-II-Diabetiker und gar eine Verdreifachung bei den Asthma- Kranken in den vergangenen 40 Jahren. Stellt man den aktuellen Zahlen die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Fall gegenüber, so ergibt sich die gewaltige Summe von mehr als zehn Milliarden DM für jedes der genannten Krankheitsbilder.

Man muß jedoch nicht auf die Volkskrankheiten zurückgreifen, um die Dynamik der Morbiditätsentwicklung nachzuvollziehen. Auch ausgewählte Krankheiten, die jeweils nur mittelgroße Patientenkollektive betreffen, belegen die Sprengkraft der Morbiditätsentwicklung für die Finanzierung einer solidarischen Krankenversicherung. Die Entwicklung der Zahl der Dialyse-Patienten von null auf 55 000 und der HIV-Patienten von null auf 40 000 innerhalb weniger Jahre zeigt dies ebenso wie der therapeutische Fortschritt bei bereits länger bekannten Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Hepatitis B und C. In diesen Krankheitsbereichen sind die Jahresbehandlungskosten deutlich höher als bei den sogenannten Volkskrankheiten, so daß sich hier bereits für kleine und mittelgroße Patientenkollektive jährliche Gesamtkosten in Milliardenhöhe ergeben.

Noch gravierender wird diese Kostenspirale in der Behandlung des Diabetes mellitus verlaufen, wo nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin allein in den nächsten zehn Jahren weitere rund 400 000 Typ-2- Diabetiker mit Milliardenaufwand auf eine Insulinbehandlung umgestellt werden müssen.

Die doppelte Fortschrittsfalle

Die tatsächliche Dimension der Fortschrittsfalle ergibt sich erst aus der Multiplikation der Morbiditätsentwicklung und des Innovationsschubes in den Behandlungsmöglichkeiten. Dies können oder wollen Koalitionspolitiker und Krankenkassenfunktionäre offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen: daß nämlich gerade der Triumph des medizinischen Fortschritts unaufhaltsam die Deutschen „kränker“ werden läßt und daß dieser medizinische Fortschritt eben dort besonders groß ist, wo ihn die Krankenkassen offensichtlich nicht vermuten – nämlich zum Beispiel im Fall der Behandlung von Krebspatienten und HIV-Infizierten. Die von ihnen für die Zukunft postulierten Mittel gegen Krebs und AIDS werden seit Jahren in zunehmend kostspieligeren „Materialschlachten“ entwickelt. Möglicherweise ist es aber für Kassenfunktionäre einfacher und auch faßbarer, sich über Lifestyle-Drogen wie Viagra und Propecia auszulassen, als die immens teuren, komplexen und sich ständig erneuernden Therapieschemata im Fall der Krebs- und AIDS-Behandlung zu durchdringen.

Eine zusätzliche Dynamik hat die doppelte Fortschrittsfalle von Morbiditäts- und Innovationsdynamik durch die Propagierung der sogenannten Evidence Based Medicine erfahren. Mit der Evidence Based Medicine werden in der Behandlung zahlloser Erkrankungen Standards definiert, deren Einhaltung die Leistungsfähigkeit einer Gesetzlichen Krankenversicherung bereits heute in nahezu unvorstellbarem Ausmaß überfordern würde.

Alles Gerede über sogenannte Wirtschaftlichkeitsreserven in der Arzneimittelversorgung kann vergessen werden, wenn die aktuellen Behandlungsstandards der Evidence Based Medicine auch nur in einer Reihe bedeutsamer Krankheitsbilder eingehalten würden. So beträgt der Aufwand für den Abbau der bestehenden Unterversorgung allein in der Behandlung der Multiplen Sklerose, der chronischen Hepatitis B und C sowie der HIV-Infektion rund 2,5 Milliarden DM pro Jahr (Tabelle 1).

Beispiele für Versorgungsdefizite im Bereich der Arzneimitteltherapie nach den Kriterien der Evidence Based Medicine

Tabelle 1:
Beispiele für Versorgungsdefizite im Bereich der Arzneimitteltherapie nach den Kriterien der Evidence Based Medicine

Geradezu lächerlich nimmt sich hiergegen der vermutete Einspareffekt einer Positivliste für Arzneimittel aus, der mit maximal 500 Millionen DM veranschlagt wird. Und auch diese Zahl ist nur realistisch, wenn die Politik tatsächlich den Mut aufbringt, die betreffenden Arzneimittel aus der Versorgung auszuklammern und damit einem nicht unbedeutenden Teil ihrer Wählerschaft eine hundertprozentige Zuzahlung zuzumuten.

Innovationsdynamik im GKV-Arzneimittelmarkt

Wie weitgehend die von der Politik mit der Strukturreform 2000 und der Einführung einer Positivliste beabsichtigte Umstrukturierung des Arzneiverordnungsgeschehens bereits von den Ärzten selbst vorangetrieben worden ist, zeigt ein Blick auf die Umsatzentwicklung ausgewählter Arzneimittelgruppen von 1992 bis 1998 (Tabelle 2).

Umsatzentwicklung ausgewählter Arzneimittelgruppen mit hohem Innovationspotential im GKV-Arzneimittelmarkt von 1992 bis 1998

Tabelle 2: Umsatzentwicklung ausgewählter Arzneimittelgruppen mit hohem Innovationspotential im
GKV-Arzneimittelmarkt von 1992 bis 1998

So sind die GKV-Umsätze in den 13 innovationsstärksten Arzneimittelgruppen in den vergangenen sechs Jahren um 5,7 Milliarden DM und damit um 56,6 Prozent nach oben geschnellt. Der Anteil dieser Arzneimittelgruppen am GKV-Arzneimittelmarkt ist in diesem Zeitraum von 30,0 Prozent auf 44,2 Prozent gestiegen.

Im gleichen Zeitraum sind die Ausgaben für die zwei führenden Indikationsgruppen aus den sogenannten „umstrittenen“ Arzneimitteln um 1,8 Milliarden DM beziehungsweise 74,2 Prozent zurückgegangen. Der Anteil dieser Gruppen am GKV-Arzneimittelmarkt belief sich 1999 nur noch auf 1,7 Prozent gegenüber 7,2 Prozent im Jahre 1992. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um nach wie vor zugelassene Arzneimittel, die über einen definierten Anwendungsbereich verfügen und von den Patienten zur individuellen Beschwerdelinderung nachgefragt werden.

„Die Sparzitrone ist ausgepreßt“

Angesichts der Innovationsdynamik auf dem Arzneimittelsektor, die allenthalben zu entscheidenden therapeutischen Verbesserungen geführt hat, kann es nur als sensationell gewertet werden, daß trotz eines Anstiegs im Innovationssektor um 56,6 Prozent der Gesamtmarkt in den vergangenen sechs Jahren nur um 6,3 Prozent gewachsen ist. Unter Einbeziehung der geänderten Zuzahlungsregelungen betrug die Ausgabenbelastung für die GKV sogar nur 2,8 Prozent oder weniger als 0,5 Prozent pro Jahr. Wie vor diesem Hintergrund die Bundesregierung den Arzneimittelsektor, dessen Anteil an den GKV-Ausgaben in den letzten sechs Jahren von 15,9 Prozent auf 13,4 Prozent zurückgegangen ist, zum „entscheidenden Problem“ für die finanzielle Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung hochstilisieren kann, muß unerfindlich bleiben. Vielmehr wird immer klarer, daß der bereits weitgehend reduzierte Bereich der sogenannten „umstrittenen Arzneimittel“ nicht annähernd mehr das Reservat an „Wirtschaftlichkeitsreserven“ bieten kann, um die für die Zukunft sich bereits abzeichnenden weiteren Innovationsschübe aufzufangen. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer hat diese Erkenntnis in das klassische Bild der „ausgepreßten Sparzitrone“ gefaßt. Oder, wie es ein KV-Vorsitzender immer wieder formuliert: „Soviel Venenmittel können wir gar nicht weglassen, um auch nur ein oder zwei Innovationen im Bereich der Krebs- oder AIDS-Therapie zu finanzieren!“

Zu welch explosivem Gemisch sich die Verleugnung der Morbiditäts- und Innovationsdynamik einerseits und die Stärkung von Rundum-Versorgungs-Ansprüchen in Gestalt von Zuzahlungsabsenkungen vermischen, hat die Zunahme der Arzneimittelausgaben um 15 Prozent im ersten Quartal 1999 gezeigt. Wer sich aber heute der Einsicht in die Realitäten verschließt und ausschließlich ideologisch motivierte Luftschlösser und Verantwortungsverschiebungen konstruiert, wird morgen auf eine Problemeskalation treffen, die möglicherweise nur noch unter Aufgabe der Idee einer solidarischen Krankenversicherung aufgelöst werden kann.

Vor diesem Hintergrund ist mit dem Globalbudget als dem Kernstück der geplanten Gesundheitsreform 2000 der Marsch der Gesetzlichen Krankenversicherung in eine rationierte Grundversorgung bereits vorgezeichnet.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Morbidität und Innovation: Die Fortschrittsfalle. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 96, Heft 30, 30. Juli 1999, S. A-1953f.

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