Optimierte Individualmedizin statt rationierter Kassenmedizin

Hauptstadtkongress „Medizin und Gesundheit“ (2000)

Wege aus den Rationierungsfallen der gesetzlichen Zwangsversicherung

Angesichts des nicht mehr zu verdeckenden Missverhältnisses zwischen dem Versorgungsbedarf der Bevölkerung und der Finanzierungsschwäche der gesetzlichen Krankenkassen hat die Rot-Grüne Regierungskoalition mit dem Vorschaltgesetz des Jahres 1999 und der sog. „Gesundheitsreform“ des Jahres 2000 ein beispielloses Ablenkungsmanöver inszeniert. Das Grundproblem der zunehmend ungenügenden Finanzierung eines explodierenden Versorgungsbedarfs soll auf die Ebene der sog. „Leistungserbringer“ verschoben werden. Im Zentrum dieser Verschiebung steht die Aussage, nicht die Finanzierung sei das Problem, sondern die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung, und nicht der Versorgungsbedarf und der Leistungskatalog seien das Problem, sondern die Qualität der Leistungserbringung. Dieses absurde Szenario soll durch irreführende Wortspielereien politisch begründet werden, wenn etwa die Rede davon ist, man wisse nicht, wie hoch die Rationalisierungsreserven in der Gesetzlichen Krankenversicherung seien, man halte jedoch „25 Milliarden DM für eine konservative Schätzung“.

Die gesetzlichen Leerformeln, welche die Verschiebung der entscheidenden Leistungs- und Finanzierungsfrage auf die Ebene von Qualität und Wirtschaftlichkeit begründen sollen, heißen Vernetzung, Verzahnung und „integrierte Versorgung“. Im Ergebnis sollen insbesondere die Kassenärzte in ein „Qualitäts-Hamsterrad“ gezwungen werden, in dem sie für eine pauschale, deutlich hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleibende Gesamtvergütung nicht nur den wachsenden Versorgungsbedarf zu fallenden Leistungsvergütungen abdecken, sondern dies auch noch unter zunehmenden Qualitätsauflagen tun sollen.

Tatsache ist jedoch, dass wir in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht etwa eine „Qualitätskrise“, sondern vielmehr eine seit Jahren zunehmende Finanzierungskrise zu konstatieren haben. Neben den Antriebsfaktoren der demographischen Veränderungen, des medizinischen Fortschritts und der wachsenden Patientenansprüche ist für dieses Missverhältnis von Versorgungsbedarf und Finanzierung insbesondere die Gesundheitspolitik verantwortlich. Diese hat jahrelang zugesehen, wie sich die Gesetzliche Krankenversicherung trotz relativer Ausgabenstabilität aus einer dramatisch sinkenden Lohnquote mit immer höheren Beitragssätzen finanzieren musste. Dennoch wurden unverantwortliche gesundheitspolitische Verschiebebahnhöfe beschlossen, wie etwa im Jahre 1995, als der gesetzlichen Krankenversicherung Einnahmen in der Größenordnung von 5 Milliarden DM zugunsten anderer Bereiche, insbesondere der Bundesanstalt für Arbeit, entzogen wurden.

Dabei ist gerade unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten eine weitere finanzielle Austrocknung der Gesetzlichen Krankenversicherung kontraproduktiv. Es kann zwischenzeitlich als gesichert gelten, dass ein Anstieg des durchschnittlichen GKV-Beitragsatzes von derzeit 14% auf 16% einen positiven Netto-Effekt auf die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland haben würde, da der hieraus resultierende Zuwachs von Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen den im Zusammenhang mit der Lohnnebenkosten-Diskussion befürchteten Abbau von Arbeitsplätzen in anderen Sektoren deutlich übersteigen würde.

Die zunehmende Budgetierung der Kassenmedizin ist daher nicht nur wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv, sie führt vielmehr auch zu einer zunehmenden Rationierung von Gesundheitsleistungen bei Kassenpatienten. Die Zwei- oder Mehrklassenmedizin hat daher ihren Status als Schreckgespenst oder fernes Zukunfts-Szenario längst verloren: Sie ist im Jahre 2000 Realität für 72 Millionen Kassenpatienten in Deutschland. In der Arzneimittelversorgung ist beispielsweise konkret belegbar, dass die Rationierungslücke zwischen der budgetierten Kassenversorgung und der budgetfreien Privatversorgung immer größer wird. Moderne und wegen der Entwicklungskosten vielfach auch teure Arzneimittel werden in der Privatmedizin heute zwei bis drei mal häufiger eingesetzt als in der Kassenmedizin. Besonders betroffen sind Patientengruppen ohne eigene Interessenvertretung wie etwa Demenzkranke oder Alzheimer-Patienten.
Ein weiterer Bereich der zunehmenden Rationierung in der Kassenmedizin ist das große Feld der Laboratoriumsdiagnostik. Unter dem Druck einer budgetierten Gesamtvergütung wurden im Einheitlichen Bewertungsmaßstab die Budgets für die Laboratoriumsdiagnostik dramatisch nach unten gefahren. Die Nachteile für den Kassenpatienten sind insbesondere im Zusammenhang mit der deutlich reduzierten Diagnostik zum Ausschluss oder zur genaueren Eingrenzung von Krankheiten offensichtlich. Zu konstatieren sind zwischenzeitlich eine ganze Reihe von Rationierungslücken:

  1. Bei unspezifischer Symptomatik bleiben manche Infektionskrankheiten zunächst „budgetbedingt“ unerkannt.
  2. Die Diagnostik wird verzögert, wodurch sich auch die Gesamt-Behandlungsdauer verlängert.
  3. Es erfolgt zunehmend eine Behandlung nach den Grundsätzen von „ Versuch und Irrtum“, wenn eine umfassende laboratoriumsdiagnostische Krankheits-Eingrenzung unterbleibt.
  4. Aufgrund zu grober Diagnostik kommt es gehäuft zu „Schrotschuss-Therapien“, wenn etwa Breitband-Antibiotika eingesetzt werden, weil „aus Wirtschaftlichkeitsgründen“ eine genaue Erreger-Identifizierung unterbleibt.
  5. Schließlich kommt es vermehrt zu unnötigen Krankenhauseinweisungen aufgrund der Zunahme von „Schmalspur-Diagnostik“.

Vor diesem Hintergrund sind folgende sechs Feststellungen zu treffen:

  1. Die Entscheidung, die Finanzmittel für die gesetzlichen Krankenkassen zu limitieren, muss als politische Entscheidung hingenommen werden, auch wenn dies den Wachstums- und Arbeitsplatzchancen des Gesundheitsmarktes zuwiderläuft. Es ist allen Beteiligten klar, dass dies auf Dauer zu weitgehenden Finanzierungsproblemen der gesetzlichen Krankenkassen führen wird, da die zur Entlastung postulierten „Wirtschaftlichkeitsreserven“ insbesondere angesichts der finanziellen Dimensionen des medizinischen Fortschritts faktisch nicht existieren. „Wirtschaftlichkeitsreserven“ sind vielmehr häufig nichts anderes als gezielte Rationierungsabsichten bei Patientengruppen ohne ausreichende Lobby (z.B. Alzheimer-Patienten).
  2. Unter der strikten Budgetierung der Kassenmedizin wird es zwangsläufig zu einem zwar noch ausreichenden, jedoch „suboptimalen Behandlungsstil“ kommen. Damit dies nicht in einer patienten- und verbraucherfeindlichen „stillen Rationierung“ endet, müssen die Defizite der Kassenmedizin ebenso wie die daneben bestehenden medizinischen Möglichkeiten der Zusatzversorgung konsequent aufgezeigt werden.
  3. Der Begriff der „medizinischen Notwendigkeit“ wird im wesentlichen zur Irreführung der Patienten und Verbraucher zweckentfremdet. Tatsache ist, dass dieser Begriff nicht nur äußerst dehnbar ist, sondern auch von Krankenkassen, Kassenärzten und Patienten jeweils unterschiedlich interpretiert wird. Die damit zwangsläufig verbundene und wohl politisch beabsichtigte Irreführung der Patienten und Verbraucher muss offengelegt werden.
  4. Ein autoritäres Versorgungsmodell, in dem Krankenkassen die Gesundheitsentscheidungen kollektiv für alle Patienten treffen wollen, muss in seinen patienten- und verbraucherfeindlichen Dimensionen bekanntgemacht werden. Die Patienten sollten vorbehaltlos sowohl über die Restriktionen einer budgetierten Kassenmedizin als auch über die daneben bestehenden Gesundheitschancen aufgeklärt werden, damit sie frei nach ihren eigenen Präferenzen und Bedürfnissen über die Inanspruchnahme der zur Verfügung stehenden Gesundheitsmöglichkeiten entscheiden können. Wahlfreiheit und Verbraucherschutz stehen daher im Mittelpunkt eines strukturierten und qualitätsgesicherten „Zweiten Gesundheitsmarktes“.
  5. Die Medizin des 21. Jahrhunderts leistet mehr als nur die notwendige Krankenbehandlung. Zu den Zielgrößen der Medizin gehören zwischenzeitlich auch Werte wie Schönheit, Fitness, Wellness, Komfort und maximale Sicherheit. Die Inanspruchnahme der betreffenden Leistungen obliegt stets der persönlichen Entscheidung des Einzelnen und kann daher niemals von einer solidarischen Krankenversicherung umfasst werden.
  6. Im Hinblick auf die Allokation privater Finanzmittel werden medizinische Komfort-und Zusatzleistungen zunehmend mit anderen Luxusgütern (z.B. Urlaub, Auto, Haus) konkurrieren. Es gibt keinen Grund, die medizinischen Dienstleistungen außerhalb der notwendigen Grundversorgung aus diesen Allokationsentscheidungen auszublenden.

Verfasser des Vortrags
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Optimierte Individualmedizin statt rationierter Kassenmedizin – Wege aus den Rationierungsfallen der gesetzlichen Zwangsversicherung.
Statement auf dem Hauptstadtkongress „Medizin und Gesundheit“ – 29. bis 31. Mai 2000 im ICC Berlin.

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