PKV-Standardtarif: Eine Chance für die Ärzteschaft

Deutsches Ärzteblatt (1995)

PKV-Standardtarif

Mit der Einführung des Standardtarifs in der PKV ist in der Ärzteschaft ein Streit über die Frage entbrannt, wie man es mit der Liquidation ärztlicher Leistungen für diesen Versichertenkreis halten solle. Noch kontroverser wird die Diskussion geführt, seitdem der PKV-Verband der Kassenärztlichen Bundesvereinigung einen Vertrag über den Standardtarif angeboten hat.

Seit Juli 1994 muß die private Krankenversicherung für ihre über 65jährigen Versicherten einen brancheneinheitlichen Standardtarif anbieten, der den durchschnittlichen Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung nicht überschreiten darf. Damit reagierte der Gesetzgeber auf die erheblichen Beitragssteigerungen der PKV in den letzten Jahren, die bei sozial schwächeren, älteren Versicherten zu teilweise unzumutbaren finanziellen Belastungen geführt haben.

Der Leistungskatalog des Standardtarifs umfaßt die gesamte ambulante ärztliche Behandlung, einschließlich der Früherkennung. Die vollständige Kostenerstattung für die entsprechenden Leistungen ist jedoch aufgrund der Kalkulationen der privaten Krankenversicherung im Standardtarif auf bestimmte Steigerungssätze der Amtlichen Gebührenordnung für Ärzte GOÄ begrenzt. Die Kostenerstattung an den Versicherten erfolgt zu 100 Prozent bei einer Liquidation des 1,7fachen für persönliche Leistungen, des 1,3fachen für medizinisch- technische Leistungen und des 1,1fachen für Laboratoriumsleistungen. Liquidieren Ärzte mit einem höheren Multiplikator, müssen die Versicherten für den übersteigenden Betrag eine 20prozentige Selbstbeteiligung (höchstens jedoch 600 DM pro Jahr) leisten.

Mit der Einführung des Standardtarifs ist es in der Ärzteschaft zu erheblichen Auseinandersetzungen darüber gekommen, wie bei der Liquidation ärztlicher Leistungen für diesen Versichertenkreis zu verfahren ist. Diese Auseinandersetzungen spitzten sich zu, nachdem der Verband der privaten Krankenversicherung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im September 1994 angeboten hatte, einen Vertrag über den Standardtarif abzuschließen.

In der sich anschließenden Diskussion ist es bislang nicht gelungen, die letztlich positiven Auswirkungen auf die privatärztlichen Liquidationsmöglichkeiten und die darüber hinausgehende politisch-strategische Bedeutung eines solchen Vertrages deutlich zu machen.

Hat die „Basis“ kein Verständnis?

Als besorgniserregend muß in diesem Zusammenhang das gelegentlich verwandte „Pauschalargument“ gewertet werden, „die Basis“ habe „für solche Verträge kein Verständnis“. Besorgsniserregend deswegen, weil eine Selbstverwaltung, der es nicht gelingt, Strategiediskussionen jenseits von Unkenntnis und Vorurteilen zu führen, die ärztlichen Interessen nicht konsequent vertreten kann und letztlich sich selbst in Frage stellt. Die Vorab-Resignation vor der vermeintlichen Haltung der ärztlichen Basis ist um so enttäuschender, als bislang nicht einmal der Versuch unternommen worden ist, über die Hintergründe der Standardtarif-Problematik zu informieren.

Zunächst zu den Zahlenrelationen beim Standardtarif: Von den derzeit rund sieben Millionen Privatversicherten sind etwa zehn Prozent (also rund 700 000) 65 Jahre und älter. Wiederum rund 70 Prozent davon sind Beamte, für die der Standardtarif nicht gilt. Somit kommen derzeit maximal 210 000 Versicherte für einen Wechsel in den Standardtarif infrage.

Tatsächlich haben bisher nur etwa 300 Privatversicherte den Standardtarif gewählt. Die PKV selbst geht davon aus, daß in den nächsten Jahren nur etwa 20 Prozent der berechtigten Privatversicherten wechseln werden. Das hieße: Es ist mit höchstens 50 000 Standardtarif- Versicherten zu rechnen, was einem Anteil von weniger als einem Prozent der Privatversicherten entspricht. Trifft diese Annahme zu, so würde durch die Beachtung der Kostenerstattungsgrenzen des Standardtarifs durch die liquidierenden Ärzte das privatärztliche Honorarvolumen um maximal 0,2 Prozent geschmälert. Eine vertragliche Absicherung dieser Kostenerstattungsgrenzen führt zu keiner zusätzlichen Reduzierung, wenn man unterstellt, daß sich die überwiegende Mehrheit der Ärzte auch ohne eine solche vertragliche Regelung an die Kostenerstattungsgrenzen halten wird.

Zur Zeit ist die Gestaltung der Rahmenbedingungen der ärztlichen Privatliquidation einer Einflußnahme seitens der ärztlichen Standesvertretungen weitgehend verschlossen. Eine Folge dieses unbefriedigenden Zustands ist, daß sich die Bundesregierung in den vergangenen zwölf Jahren seit Einführung der neuen GOÄ nur einmal zu einer geringfügigen Anhebung der Liquidationssätze veranlaßt sah. Die bisherigen Gesprächsrunden zwischen der KBV und dem PKV-Verband zum Thema Standardtarif lassen nunmehr erkennen, daß mit einem Vertrag über den Standardtarif außerhalb der Kompetenz des Verordnungsgebers eine gewisse Dynamik in die Regelungen zur Privatliquidation gebracht werden kann:

  • Die im Standardtarif geltende Höchstregelung („bis zum 1,7fachen“) kann vertraglich als fester Multiplikator übernommen werden. Dies hat erhebliche Bedeutung für andernorts angestellte Überlegungen, das 1,7fache des Einfachsatzes grundsätzlich als „Mittelwert“ zwischen dem einfachen und dem 2,3fachen festzuschreiben. Wenn eine derartige Festschreibung bereits für den Standardtarif erfolgt, so sollte diese Diskussion hinsichtlich der übrigen PKVVersicherten ausgestanden sein.
  • Die KBV könnte künftig unmittelbar Einfluß auf die tariflichen Erstattungsregelungen für die Vergütung ärztlicher Leistungen nehmen, und zwar — in Verbindung mit einer Sonderkündigungs-Regelung — über jährliche Vergütungsverhandlungen mit dem PKV-Verband. Dies ist angesichts der erheblichen Verzögerungen von Punktwertanhebungen in der GOÄ von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
  • Der Arzt soll künftig die Möglichkeit (keineswegs die Verpflichtung) erhalten, die Rechnungen direkt an das Krankenversicherungsunternehmen zu richten. Dieses wäre dann verpflichtet, die Rechnungen innerhalb von vier Wochen zu begleichen. Der Arzt würde auf diese Weise dem in der gesamten privaten Krankenversicherung nicht unerheblichen Inkasso-Risiko entgehen.

Solange eine vertragliche Absicherung des Standardtarifs aussteht, haben im übrigen die Gegner einer Punktwertanhebung in der GOÄ reichlich Argumentationsstoff, um auch in den nächsten Jahren diese dringend überfällige Punktwertanhebung zu verhindern. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit ist nämlich zu folgern, daß die Fälle einiger weniger sozial schwächer gestellter Standardtarif- Versicherter, denen Liquidationen jenseits der Kostenerstattungsgrenze gestellt wurden, ausreichen, um auch für die Liquidation bei den übrigen 99.9 Prozent der Privatversicherten eine Punktwertanhebung zu verhindern. Der Vertrag über den Standardtarif befreit insofern die Punktwertdiskussion in der GOÄ vom Problem der sozial bedürftigen älteren Privatversicherten.

In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß die Einführung eines Standardtarifs von der PKV mit massiven Forderungen begleitet worden war, die Begrenzung der ärztlichen Liquidation auf das 1,7fache (bzw. 1,3- und 1,lfache) direkt in der Amtlichen Gebührenordnung GOÄ festzuschreiben. Verhindert wurde dies letztlich nur, weil der Bundesgesundheitsminister eine solche Festlegung in einer amtlichen Gebührentaxe als systemwidrig erkannt hat. Horst Seehofer hat jedoch klar zum Ausdruck gebracht, daß er von der Ärzteschaft eine maßvolle Liquidation bei Standardtarif-Versicherten durch freiwillige Bindung an die Erstattungsgrenzen erwartet.

Keine Eingriffe in die GOÄ

Sobald erste Berichte über die Mißachtung entsprechender Empfehlungen der Bundesärztekammer auftauchen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Diskussion um die Festschreibung der Standardtarif-Sätze in der GOÄ erneut aufflammt und dann möglicherweise nicht bei der Frage der Beschränkung im Standardtarif haltmacht, sondern auf die Grundsatzfrage der Anwendung des Multiplikators in der GOÄ ausgedehnt wird.

Die Einführung des Standardtarifs hat auch die private Krankenversicherung vor eine völlig neue Situation gestellt. Sie ist faktisch verpflichtet, ihren Standardtarif-Versicherten Auskunft darüber zu geben, welche Ärzte sich an die Erstattungsgrenzen des Standardtarifes halten. Die PKV hat daher für den Fall des Scheiterns eines Vertragsabschlusses mit der KBV ein eigenes „Einkaufsmodell“ angekündigt. Sie wird in diesem Fall an alle niedergelassenen Ärzte mit der Frage herantreten, ob sie bereit sind, ihre Liquidation bei den wenigen Standardtarif-Versicherten freiwillig auf die entsprechenden GOÄ- Sätze zu begrenzen. Diejenigen Ärzte, die sich hierzu bereit erklären, werden in bundesweite Listen aufgenommen, die den Versicherten zur Verfügung gestellt werden.

Auf diese Weise würde ausgerechnet im Bereich der privaten Krankenversicherung das Modell vorexerziert, das sich derzeit zahlreiche Kassenfunktionäre und Gesundheitspolitiker für die gesetzliche Krankenversicherung so sehr herbeiwünschen: die Spaltung und Entsolidarisierung der Ärzteschaft zum Zweck des „Einkaufs“ von Ärzten unter dem Preisdiktat der Kassen.

Der von der PKV angebotene Standardtarif gilt im übrigen ausdrücklich nicht für die Beihilfeberechtigten. Deren Anteil an der Gesamtzahl der Privatversicherten liegt bei rund 50 Prozent. Das Beihilfevolumen ist daher in den Haushaltsansätzen der Bundesländer ein durchaus relevanter Posten, was den permanenten und seit einigen Jahren zunehmenden Druck der Länder-Finanzminister auf die privatärztlichen Liquidationsmöglichkeiten erklärt.

Die Gegner eines Vertrags über den Standardtarif mit der PKV befürchten nun, daß ein solcher Vertrag in negativem Sinne beispielgebend sein könnte für künftige Regelungen hinsichtlich der Beihilfeberechtigten. Bei solchen Überlegungen wird jedoch offensichtlich die Bereitschaft der Bundesländer unterschätzt, angesichts leerer Haushaltskassen den Druck auf die Liquidationsmöglichkeiten bei Beihilfeberechtigten noch zu verstärken und vielleicht sogar das gesamte Beihilfe-System in die Nähe der gesetzlichen Krankenversicherung zu rücken.Dies wäre mit der Gefahr verbunden, daß die jetzt im Standardtarif der PKV festgelegten Erstattungsgrenzen sozusagen „im freien Fall“ passiert werden könnten. Liegt hingegen ein funktionsfähiges Modell vor, das auf der Ebene der Selbstverwaltung Lösungen für die privatärztliche Liquidation bei bestimmten Personengruppen anbietet, so werden hierdurch zusätzliche Spielräume eröffnet, die einseitige gesetzliche Lösungen zu Lasten der Ärzteschaft verhindern könnten. Das dem Vertrag über den Standardtarif unterstellte Gefahrenpotential wandelt sich daher bei realistischer Einschätzung des aktuellen Diskussionsstandes um die Beihilfeproblematik zu einer wichtigen strategischen Option der Ärzteschaft im Ringen um vernünftige Lösungen. Hinzu kommt, daß ein solcher Vertrag auch einem weiteren wichtigen Anliegen der Ärzteschaft dient, nämlich der langfristigen Stärkung der privaten Krankenversicherung und des Kostenerstattungssystems als Alternative zu einer immer stärker wirtschafts- und arbeitsnehmerpolitischen Diktaten unterworfenen GKV.

Hohe Bedeutung für die Zukunft

Die ärztliche Selbstverwaltung hat in den vergangenen zehn Jahren eine zunehmende Deformierung aufgrund von staatlichen Interventionen — vor allem durch das Gesundheits- Reformgesetz und das Gesundheitsstrukturgesetz — hinnehmen müssen. Hier kann die Möglichkeit, für einen völlig anderen, sozialpolitisch nicht unbedeutsamen Bereich der ärztlichen Versorgung Verantwortung übernehmen zu können, einer „Trendwende“ gleichkommen.

Die Entscheidung über den Abschluß eines Standardtarif-Vertrages mit der privaten Krankenversicherung reicht daher weit über die aktuelle honorarpolitische Diskussion hinaus. Sie ist von ganz grundsätzlicher Bedeutung für den Stellenwert der ärztlichen und insbesonderen der kassenärztlichen Selbstverwaltung im künftigen Gesundheitssystem.

Wenn es richtig ist, daß auf die zunehmende staatliche Deformierung und Schwächung der kassenärztlichen Selbstverwaltung der zwischenzeitlich vielfach existenzbedrohende wirtschaftliche Abstieg der Kassenärzte gefolgt ist, so ist das Gebot der Stunde nicht die Überwindung, sondern im Gegenteil die Festigung der Position eben dieser Selbstverwaltung. Der Vertragsabschluß mit der PKV wäre ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  PKV-Standardtarif: Eine Chance für die Ärzteschaft. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 92, Heft 17, 28. April 1995, S. A-1213-A-1215 (15-17)

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