Politik nach Milchmädchenart

ARZT & WIRTSCHAFT (2002)
Politik nach Milchmädchenart

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Allgemeine Verblüffung machte sich breit, als Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im vergangenen Jahr fast schon beiläufig erwähnte, dass man in der Regierungskoalition erwäge, nach den Bundestagswahlen in diesem Herbst die Einkommensgrenze für die Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von derzeit 40.500 Euro auf das Niveau der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung – und damit auf 54.000 Euro – anzuheben.

Die Reaktion der Versicherten ließ nicht lange auf sich warten: Mehr als 100.000 haben in nur sechs Monaten das scheinbar sinkende GKV-Schiff in Richtung private Krankenversicherung verlassen. Damit hat sich einmal mehr erwiesen: Über die Versicherungspflichtgrenze redet man nur, wenn man sie auch tatsächlich sofort verändern will und kann. Die gesetzlichen Krankenkassen schäumen deshalb zu Recht vor Wut über die politische Einfältigkeit der Gesundheitsministerin, diesen Holzhammer ausgerechnet in der politisch vulnerabelsten Zeit des Vorwahlkampfes auszupacken.

„Muss ich doch nicht wissen!“, lautet ein häufiges Bonmot der Ministerin. Doch bei der Versicherungspflichtgrenze hätte sie es wissen müssen. Vor allem auch, dass man dem Gesundheitssystem durch die Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten sogar weitere Mittel entzieht. Denn der Zuwachs der GKV-Einnahmen würde nicht ausreichen, den Wegfall der Quersubventionen durch die private Krankenversicherung (PKV) zu kompensieren.

Dabei ist die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze für viele Gesundheitspolitiker der SPD nur ein erster Schritt. Langfristig zielt man dort auf die Volksversicherung und damit faktisch auf die Abschaffung der PKV. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Ideologie über die Kraft der Vernunft siegen würde. Allerdings dürfte unser Rechtssystem heute in der Lage sein, derart dreiste Anschläge auf die Freiheitsrechte der Bürger abzuwenden.

Denn der Idee einer Volksversicherung liegt die Vorstellung einer nivellierten Gesundheitsversorgung zugrunde. Dies aber kollidiert unmittelbar mit Artikel 2 unseres Grundgesetzes, wonach jeder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat. Es dürfte selbst strammen GKV-Funktionären nicht gelingen, das Bundesverfassungsgericht davon zu überzeugen, dass dieses Recht ausgerechnet für den Bereich der persönlichen Gesundheit keine Anwendung finden soll.

Vielleicht kann daher die Diskussion um die Versicherungspflichtgrenze sogar die Einsicht befördern, dass es nunmehr an der Zeit ist, dem Bürger nicht weniger, sondern mehr Wahlmöglichkeiten einzuräumen. Dies kann zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass auch den derzeit GKV-Pflichtversicherten die Chance gegeben wird, eine Privatbehandlung im Kostenerstattungs- Verfahren zu wählen. Dass dieses Recht auf das einkommensstarke oberste Fünftel unserer Gesellschaft beschränkt sein soll, ist unter ethischen Gesichtspunkten unerträglich und verstößt in massiver Weise gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Politik nach Milchmädchenart – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 04/2002

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