IGeL

Kostenerstattung und Individuelle Gesundheitsleistungen - neue Chancen für Patienten und Ärzte

Kostenerstattung und Individuelle Gesundheitsleistungen – neue Chancen für Patienten und Ärzte

Es waren vor allem drei Gründe, die Dr. Krimmel ab dem Jahr 1995 dazu bewegten, eine Systematik „Individueller Gesundheitsleistungen“ zu entwickeln:

  1. Erstens sollte auf berufspolitischer Ebene eine Option gefunden werden, der seit Einführung der Honorarbudgetierung im Jahre 1985 zu beobachtenden Erfolgs-Strategie der Kassenkassen zu begegnen, über eine Aufnahme und Vergütung insbesondere neuer Leistungen nicht mit der KBV zu verhandeln, sondern auf eine stillschweigende Erbringung dieser Leistungen durch die Kassenärzte zu Lasten ihrer budgetierten Honorare zu setzen.
  2. Zweitens sollte den Ärzten ein Mittel an die Hand gegeben werden, überbordende und damit in der Kassenmedizin „unwirtschaftliche“ Diagnostik- und Therapie-Ansprüche ihrer Patienten (wie etwa beweissichernde bildgebende Diagnostik nach Unfällen), bestimmte Sonderwünsche wie Atteste oder Tauglichkeitsuntersuchungen, aber auch über die Kassenmedizin hinausgehende haftungsrechtliche Gebote (wie etwa die präventive Augen-Tonometrie) auf das Feld privat zu bezahlender Zusatzleistungen zu verlagern.
  3. Und schließlich drittens sollte für die Patienten ein Bereich jenseits der Kassenmedizin etabliert werden, in welchem berechtigte individuelle Patientenanliegen (von der  Reisemedizin über Glatzenbehandlung und erektile Dysfunktion bis zur refraktiven Chirurgie) aus der leistungsrechtlichen Grauzone befreit und in transparenter Form dargestellt und damit auch nachgefragt und realisiert werden können.

Die beiden erstgenannten Entwicklungen hatte Dr. Krimmel seit 1986 in den Verhandlungen mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen hautnah erleben und ihre desaströsen Auswirkungen in Gestalt des unter Budgetbedingungen galoppierenden Preisverfalls ärztlicher Leistungen beobachten können. Es waren daher zunächst rein defensiv-strategische Gründe, die zur Entwicklung der IGeL-Systematik führten.

Das von Dr. Krimmel entwickelte Konzept wurde im Sommer 1996 zunächst mit einem kleinen Kreis ausgewählter Kassenärzte diskutiert und vertieft. Im Frühjahr und Sommer 1997 liefen sodann Abstimmungsgespräche mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen, da es das primäre Ziel der KBV war, einen mit den Kassen konsentierten Abgrenzungskatalog zu erstellen. Nach anfänglicher Kooperationsbereitschaft sagten die Spitzenverbände der Krankenkassen schließlich im September 1997 eine bereits gemeinsam terminierte abschließende Verhandlungsrunde ab. Hinter dieser Absage stand das klare politische Kalkül, dass ein solcher Katalog das Selbstverständnis der Kassen als „Rundumversorger“ erschüttern würde und dass es der KBV alleine niemals gelingen würde, das IGeL-Konzept gegen den massiven medialen Widerstand der Kassen in der ärztlichen und vor allem in der allgemeinen Öffentlichkeit zu etablieren.

Nachdem alle Versuche der Kassen gescheitert waren, durch persönliche Einflussnahme auf einzelne Verantwortungsträger der KBV die öffentliche Präsentation des IGeL-Konzepts zu verhindern, kam es zum historischen medialen „Doppelschlag“ am 17. und 18. März 1998 in Bonn. In Kenntnis des angekündigten Pressetermins der KBV am 18. März luden die Kassen – in völliger Fehleinschätzung der medialen Konsequenzen – bereits für den 17. März zu einer großen „Anti-IGeL-Pressekonferenz“ nach Bonn ein. Das Ergebnis war überwältigend, aber nicht so, wie die Kassen es sich vorgestellt hatten. Denn bereits am Morgen des 18. März waren alle Zeitungen voll von ersten IGeL-Berichterstattungen, und das Interesse an der Pressekonferenz der KBV sprengte alle Erwartungen: mehr als 100 Journalisten aus allen Teilen der Republik drängten sich in und vor dem Konferenzraum im Haus des „Deutschen Presseclubs“ in Bonn! Die ausgerechnet von den Kassen provozierte extreme mediale Aufmerksamkeit löste die entscheidende „leistungsrechtliche Schockwelle“ aus, die den Individuellen Gesundheitsleistungen im Bewusstsein von Ärzten und Patienten zum Durchbruch verhalf.

Der gesundheitspolitische „Ritterschlag“ des amtierenden Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer ließ nicht lange auf sich warten: „Endlich hat die KBV einmal nicht nur reagiert, sondern agiert!“

Die mit der IGeL-Einführung verbundenen strategischen Ziele der KBV wurden allesamt innerhalb relativ kurzer Zeit erreicht. Hilfreich war dabei sicherlich auch, dass sich das von Dr. Krimmel gewählte Projekt-Kürzel „IGeL“  als außerordentlich eingängig erwies und von den Medien bereitwillig übernommen wurde. Den drei genannten Gründen für das IGeL-Konzept entsprechen daher auch die drei wichtigsten Konsequenzen der IGeL-Einführung:

  1. Die Krankenkassen können ihren Versicherten neue Leistungen nur noch nach entsprechender Verhandlung über die zusätzliche Vergütung zur Verfügung stellen. Dies gilt auch für solche Leistungen, die erst durch den IGeL-Katalog der KBV als Nicht-Kassenleistungen erkennbar gemacht wurden, wie etwa die Untersuchung im Rahmen der Hautkrebsvorsorge. Allein diese hat den Ärzten 200 Millionen Euro an jährlichen Zusatzeinnahmen gebracht, die ohne die IGeL-Definition des Jahres 1998 – für die Kassen kostenlos – in der Gesamtvergütung untergetaucht wären.
  2. Eine leistungsrechtliche Diskussion in der Arztpraxis, die vor der Einführung der IGeL nahezu undenkbar war, gehört heute zum Alltag. Damit kann der enorme Druck, der sich aus dem Widerspruch zwischen Patientenwünschen und Patientenansprüchen einerseits sowie GKV-Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeitsgebot andererseits ergibt, vom Arzt an den Patienten und damit auch an die Krankenkassen zurückgegeben werden. Dies führt im Ergebnis zu einer geringeren Belastung der GKV-Budgets, zu zusätzlichen privaten Einnahmen und auch zu einer psychologischen Stärkung der ärztlichen Tätigkeit. Wer sich erst in „IGeL-Ära“, also etwa ab dem Jahr 2000, niedergelassen hat, kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie selbstverständlich Patienten vor der „IGeL-Ära“ ihre privaten Wunschleistungen wie Tauglichkeitsuntersuchungen, Bescheinigungen oder reisemedizinische Impfungen auf Chipkarte eingefordert und vom Kassenarzt auch erhalten haben.
  3. Den Patienten wurde ein weites Feld für gesundheitliche Optimierungswünsche jenseits der budgetierten und bürokratisch reglementierten Kassenmedizin eröffnet. Bestimmte Angebote wie etwa die sportmedizinische Vorsorge oder umweltmedizinische Leistungen wurden für viele Patienten durch die Definition als IGeL-Angebote überhaupt erst erkennbar. Der auf IGeL entfallende Teil des „zweiten Gesundheitsmarkts“ umfasst heute bereits ein Honorarvolumen von ca. 1,5 Milliarden Euro mit unverändert steigender Tendenz.

Dass sich im Laufe der Zeit auch Trittbrettfahrer insbesondere aus Bereichen der Medizin-Industrie mit teilweise fragwürdigen Angeboten das erfolgreiche IGeL-Konzept zu Nutze gemacht haben, ist nicht dem IGeL-Begriff anzulasten. Denn eine solche Vereinahmung würde und wird jedem erfolgreich vermarktbaren Begriff widerfahren. Um so wichtiger war und ist es, dass seriöse Stellen die ärztlich empfehlenswerten Leistungen (wie z.B. reise- und sportmedizinische Vorsorge) ebenso wie die ärztlich vertretbaren Patientenanliegen (wie z.B. erektile Dyfunktion, Haarausfall, Entfernung von Tätowierungen, Korrektur der Fehlsichtigkeit, kosmetische Leistungen, Untersuchungen für Bescheinigungen) gesondert katalogisieren und von fragwürdigen Angeboten abgrenzen. Dass die beiden am weitesten verbreiteten Kataloge dieser Art, nämlich die von Dr. Krimmel entwickelte MEGO und der vom Medizinischen Dienst betriebene IGeL-Monitor, unterschiedliche Ansätze verfolgen, ist durchaus vertretbar, solange die jeweiligen Bewertungskriterien offengelegt werden.

Zum Schluss noch eine kleine Anekdote: Im Jahre 1999 wurde einer US-Delegation unter Leitung des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums das deutsche Gesundheitswesen unter Einbeziehung der neu etablierten IGeL-Leistungen erläutert. Da es keine eindeutige Entsprechung im US-amerikanischen Gesundheitssystem gibt, wurde vereinfachend von „IGeL-Services“ gesprochen. Aufgrund der schriftlichen Notizen des Delegationsleiters kam es dann in den USA zu einer interessanten phonetischen Umdeutung: es war dort plötzlich von den „Eagle-Services“ die Rede! Nach telefonischer Aufklärung des Missverständnisses erläuterte der US-Kollege nachträglich seine spontane Assoziation: er habe an den deutschen Bundesadler als Schutzpatron dieser besonderen Eagle-Leistungen gedacht!

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