Schwerpflegebedürftigkeit – Wichtige Aufgaben für den niedergelassenen Arzt

Deutsches Ärzteblatt (1991)

Auf den niedergelassenen Arzt kommen im Zusammenhang mit der Versorgung pflegebedürftiger Patienten wichtige Aufgaben zu – vor allem die Koordination der vielfältigen medizinischen, pflegerischen und sozialen Maßnahmen. Neben den Anstrengungen bereits zur Vermeidung von Schwerpflegebedürftigkeit wird ein weiterer Schwerpunkt in der Einleitung von sinnvollen Rehabilitationsleistungen zu sehen sein. Zur Zeit erstellen die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Krankenkassen Arbeitsmaterialien für die Organisation der Versorgung von Pflegebedürftigen. Einen ersten wichtigen Schritt bedeutet in diesem Zusammenhang die kurz vor dem Abschluß stehende Vereinbarung zwischen der KBV und den Krankenkassen über die Auskünfte des behandelnden Arztes im Rahmen der Feststellung des Vorliegens von Schwerpflegebedürftigkeit. Der genaue Text der Vereinbarung wird in einer der nächsten Ausgaben des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES im Heftteil „Bekanntmachungen“ veröffentlicht werden. Der nachfolgend veröffentlichte Beitrag stellt bereits vorab die für den Arzt relevanten Aspekte der Schwerpflegebedürftigkeits-Problematik vor.

Das Gesundheits-Reformgesetz hat zwei neue Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen für schwerpflegebedürftige Versicherte eingeführt: Bereits seit dem 1. Januar 1989 (und seit dem 1. Januar 1991 auch in den fünf neuen Bundesländern) besteht für Zeiten eines Erholungsurlaubs der Pflegeperson oder deren sonstiger Verhinderung (zum Beispiel Erkrankung) ein Anspruch auf Ersatzpflegeleistungen für bis zu 28 Tage je Kalenderjahr. Die Krankenkasse darf hierfür pro Jahr maximal 1800 DM aufwenden. Dies gilt auch dann, wenn der Schwerpflegebedürftige während der Zeit der Verhinderung außerhalb des Haushalts oder der Familie — zum Beispiel in einem Pflegeheim — versorgt wird.

Voraussetzung für diese Leistungen der Krankenkassen ist allerdings, daß der Schwerpflegebedürftige vor der Verhinderung ohne größere Unterbrechungen über mindestens zwölf Monate gepflegt worden ist. Seit dem 1. Januar 1991 steht im gesamten Bundesgebiet den Schwerpflegebedürftigen darüber hinaus eine monatliche Pflegeleistung in Form von 25 Pflegestunden oder ein Geldbetrag in Höhe von monatlich 400 DM zu. Ist die Schwerpflegebedürftigkeit von der zuständigen Krankenkasse einmal festgestellt worden (die Krankenkasse überprüft diese Entscheidung in „angemessenen Abständen“), so kann der Versicherte — je nach seinen Bedürfnissen — Inhalt und Zeitpunkt der Einsätze in Abstimmung mit den Pflegehilfen selbst festlegen und auch mehrere Pflegeeinsätze pro Tag beanspruchen, allerdings jeweils nur bis zur Höchstgrenze von 25 Einsätzen pro Monat. Will der Schwerpflegebedürftige die häusliche Pflegehilfe nicht in Anspruch nehmen, weil er sich lieber durch eine ihm vertraute Pflegeperson betreuen lassen möchte, so zahlt die Krankenkasse dafür 400 DM pro Monat. Allerdings muß gewährleistet sein, daß die Pflege in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang sichergestellt ist.

Die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit umfassen sowohl die sogenannte Grundpflege als auch die hauswirtschaftliche Versorgung. Zur Grundpflege gehören insbesondere Pflegemaßnahmen wie Betten und Lagern, Körperpflege, Hilfen im hygienischen Bereich, Messen der Körpertemperatur sowie Tag- und Nachtwachen. Die hauswirtschaftliche Versorgung des Schwerpflegebedürftigen umfaßt die Zubereitung von Mahlzeiten, die Reinigung der Wohnung im engeren Bereich am und um das Krankenbett, erforderliche Einkäufe und ähnliche Tätigkeiten. Wichtig ist dabei, daß die häusliche Pflegehilfe als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen nur im Haushalt oder in der Familie des Schwerpflegebedürftigen durchgeführt werden kann. Neben dem Anspruch auf häusliche Pflegehilfe kann — wie bisher — ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege (Behandlungspflege) bestehen, wenn dies erforderlich ist, um Krankenhausbehandlung zu vermeiden oder abzukürzen oder um „das Ziel der ärztlichen Behandlung zu sichern“. Da Schwerpflegebedürftige nicht selten auch in einer Weise erkrankt sind, daß sie Anspruch auf häusliche Krankenpflege haben, können sich die Maßnahmen der häuslichen Pflegehilfe und der häuslichen Krankenpflege im Einzelfall sinnvoll ergänzen.

Definition der Schwerpflegebedürftigkeit

Schwerpflegebeduerftigkeit

Zuständig für die Anerkennung von Schwerpflegebedürftigkeit nach § 53 Abs. 3 Sozialgesetzbuch V sind die Spitzenverbände der Krankenkassen, die hierfür einheitliche Richtlinien beschließen. Nach der Definition des Gesetzgebers sind Schwerpflegebedürftige solche Personen, „die nach ärztlicher Feststel- lung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen“. Die Richtlinien der Krankenkassen — seit Mitte 1989 in Kraft — präzisieren das folgendermaßen:

• Hilflosigkeit im Sinne des gesetzlichen Begriffs kann durch körperliche, psychische und/oder geistige Defizite bedingt sein.

• Hilflosigkeit liegt in der Regel vor, wenn der Patient in mindestens drei von vier Bereichen (Mobilität und Motorik, Hygiene, Ernährung und Kommunikation) regelmäßig auf intensive Hilfe angewiesen ist (Darstellung 1).

• Bei der Beurteilung, ob der Patient in einem bestimmten Bereich regelmäßig auf intensive Hilfe angewiesen ist, soll folgendes berücksichtigt werden:

1.) Es muß sich um einen Dauerzustand handeln, wobei eine vorübergehende zeitweilige Besserung im Befinden des Pflegebedürftigen dem nicht entgegensteht, wenn die intensive Hilfe in diesem Bereich zumindest in einer gewissen Regelmäßigkeit erforderlich ist.

2.) Ein durch Hilfsmittel vollständig ausgeglichener Funktionsausfall bleibt bei der Beurteilung außer Betracht.

3.) Die Fähigkeit zur Ausübung einer Verrichtung ist auch dann als nicht gegeben anzusehen, wenn die Verrichtung zwar motorisch ausgeführt werden kann, jedoch die Notwendigkeit der Verrichtung nicht erkannt oder nicht in sinnvolles Handeln umgesetzt werden kann. Dies trifft zum Beispiel bei Störungen der Orientierung, des Antriebs oder der Psyche zu.

Trotz der Vorgabe, daß die intensive Hilfebedürftigkeit in mindestens drei der vier genannten Bereiche bestehen muß, setzt die Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit eine Gesamtschau voraus. Dabei geht es nicht nur um die Anzahl, sondern auch um den Umfang und die Bedeutung der einzelnen festgestellten Defizite. Besondere Belastungen bei der Pflege sind ebenfalls in die Beurteilung einzubeziehen. Im übrigen ist die Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit grundsätzlich unabhängig vom Alter des Versicherten. Die Definition der Schwerpflegebedürftigkeit ist aber trotz der gegenüber dem Gesetzestext präziseren Beschreibung in den Richtlinien nicht eindeutig. Das bedeutet: Sowohl für die ärztliche Feststellung als auch letztlich für die Entscheidung der Krankenkassen besteht ein erheblicher Ermessensspielraum. Aus diesem Grunde kann auch die Größenordnung des Personenkreises, der die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, derzeit nicht genau abgeschätzt werden (Darstellung 2 auf Seite A-1890):

Schwerpflegebeduerftigkeit

Aufgrund der voraussichtlichen demographischen Entwicklung kann jedoch erwartet werden, daß bereits in naher Zukunft rund zwei Millionen Versicherte diese Anspruchsvoraussetzungen erfüllen werden. Die Zahl der aktuell in Frage kommenden Personen läßt sich wahrscheinlich in einigen Monaten wesentlich genauer abschätzen, nachdem in jüngster Zeit eine zunehmende Zahl von Anträgen von den Krankenkassen zu bearbeiten war (Darstellung 3 auf Seite A-1890):

Schwerpflegebeduerftigkeit

Verfahren zur Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit

Das Verfahren zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit ist sowohl in den Schwerpflegebedürftigkeits-Richtlinien der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen vom 9. August 1989 als auch in der sogenannten Begutachtungsanleitung des Medizinischen Dienstes vom 8. Oktober 1990 geregelt. Danach ergeben sich folgende Verfahrensschritte:

1. Antrag
Voraussetzung für die Einleitung des Feststellungsverfahrens ist grundsätzlich ein Antrag des Versicherten oder seiner Angehörigen bei der zuständigen Krankenkasse. Allerdings genügt auch ein entsprechender Hinweis des behandelnden Kassenarztes oder auch des Krankenhausarztes an die zuständige Krankenkasse, um das Verfahren in Gang zu setzen.

2. Vorprüfung durch die Krankenkasse
Die Krankenkasse prüft, ob die für eine Leistungsgewährung erforderlichen Vorversicherungszeiten erfüllt sind. Ist dies der Fall, wird in der Regel der behandelnde Arzt von der Krankenkasse gebeten, seine Einschätzung über das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit mitzuteilen (siehe Punkt 3).

3. Bescheinigung des Arztes
Kommt der Arzt zu dem Ergebnis, daß Schwerpflegebedürftigkeit vorliegt, so soll er dies auf einem Rezeptvordruck bestätigen (zum Beispiel: „Schwerpflegebedürftigkeit liegt vor“) und die für diese Feststellung maßgebliche funktionale Diagnose (zum Beispiel: „hohe Querschnittlähmung“) angeben. Die Notwendigkeit für eine solche Bescheinigung entfällt, wenn der Arzt diese Feststellung — etwa auf Bitte des Patienten — bereits bei der Antragstellung getroffen hat.

4. Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen

Auf der Basis des Antrages und der entsprechenden Bescheinigung des behandelnden Arztes läßt die gesetzliche Krankenkasse durch ihren Medizinischen Dienst prüfen, ob Schwerpflegebedürftigkeit vorliegt. Dazu ist sie nach § 275 Abs. 2 Sozialgesetzbuch V verpflichtet. Diese Prüfung soll in der Regel in der häuslichen Umgebung des Versicherten geschehen (siehe unten).

5. Bescheid durch die Krankenkasse
Erkennt die Krankenkasse — was derzeit in etwa 80 bis 85 Prozent der Anträge der Fall ist (Darstellung 3) — aufgrund eines entsprechenden Gutachtens des Medizinischen Dienstes das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit an, so kann der Versicherte — und zwar rückwirkend ab dem Tage der Antragstellung — die ihm gesetzlich zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen.

Probleme des Verfahrens

Als problematisch haben sich bei diesem Verfahren insbesondere die Hausbesuche durch Ärzte des Medizinischen Dienstes erwiesen. Nicht zuletzt aus den seit dem 1. Januar 1990 laufenden Feldversuchen in den Regionen Amberg und Münster ist bekannt, daß der Hausbesuch durch Ärzte des Medizinischen Dienstes häufig gerade nicht geeignet ist, einigermaßen objektive Erkenntnisse über das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit zu gewährleisten. Dies liegt insbesondere daran, daß zum einen ein solcher Hausbesuch bei einem chronisch kranken Patienten nicht mehr als eine Momentaufnahme darstellt, die in der Regel nur schwerlich Aufschluß über die tatsächlichen dauerhaften Beeinträchtigungen und Behinderungen geben kann. Zum anderen führt die befremdende Situation der Begutachtung im Rahmen eines Hausbesuchs nicht selten zu schwer beurteilbaren Reaktionen seitens der Patienten und ihrer Angehörigen. Eine unbewußte Untertreibung des tatsächlichen Ausmaßes der Behinderungen könnte zum Beispiel die Folge sein. • Daher muß die Einschätzung des behandelnden Hausarztes, der den Patienten aufgrund einer kontinuierlichen Betreuung sehr viel besser kennt, maßgeblich in die Beurteilung der Krankenkassen und ihres Medizinischen Dienstes einbezogen werden. Eine solche Einbeziehung ist in den vergangenen beiden Jahren, in denen Schwerpflegebedürftige bereits Anspruch auf Urlaubs- beoder Verhinderungspflege hatten, regional sehr unterschiedlich gehandhabt worden. Während im Bereich der Primärkassen zum Beispiel in Bayern und Niedersachsen entsprechende Vereinbarungen getroffen worden sind, war dies in anderen Bundesländern — und bei den Ersatzkassen sogar bundesweit — nicht der Fall. Hier kam es dann unter anderem zu Aufforderungen von Krankenkassen an Ärzte, ohne Honorar umfangreiche gutachtliche Stellungnahmen abzugeben. Auch wandten sich Ärzte des Medizinischen Dienstes häufig telefonisch an ihre niedergelassenen Kollegen, um an die für eine sachgerechte Beurteilung erforderlichen Informationen zu gelangen. Die Erteilung solcher telefonischen Auskünfte ist aber zumeist mit einem erheblichen Zeitaufwand und einer unangenehmen Störung des Praxisablaufs verbunden.

Zwei bundesweit anzuwendende Formulare

Da dieses regional und je nach Kassenart sehr unterschiedlich (beziehungsweise überhaupt nicht) geregelte Verfahren der Informationsweitergabe vom behandelnden Arzt an den Arzt des Medizinischen Dienstes von allen Beteiligten als dringend regelungsbedürftig angesehen wurde, haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen auf zwei bundesweit anzuwendende Formulare verständigt, über die künftig die Ärzte des Medizinischen Dienstes ihre Auskunftsersuchen an die behandelnden Ärzte richten werden. Der erste Vordruck (ein Entwurf ist in Darstellung 4 wiedergegeben)

Schwerpflegebeduerftigkeit

sieht teils anzukreuzende, teils frei zu formulierende Angaben zu insgesamt sieben Bereichen vor. Er wird über die Nr. 8100 abgerechnet und mit 50 DM (in den neuen Bundesländern: vorläufig 30 DM) vergütet. • Ein zweiter Vordruck gibt dem Arzt des Medizinischen Dienstes die Möglichkeit, eine Frage zu einem bestimmten Bereich an den beoder handelnden Arzt zu richten. Die vom Arzt frei zu formulierende Auskunft wird über die Nr. 8101 abgerechnet und mit 25 DM (in den neuen Bundesländern: vorläufig 15 DM) vergütet. Zur Vermeidung von Konflikten hinsichtlich des Umfangs der Fragen wird vereinbart, daß bei Anfragen zu mehr als zwei der auf dem ersten Vordruck aufgeführten sieben Bereiche vom behandelnden Arzt die mit 50 DM vergütete Nr. 8100 berechnet werden kann. Es bleibt zu hoffen, daß mit diesem nunmehr vereinbarten Auskunftsverfahren die in der Vergangenheit in diesem Zusammenhang aufgetretenen Probleme und Mißverständnisse überwunden werden können. Für den einzelnen Arzt dürfte sich in jedem Fall eine Verbesserung ergeben. Zum einen wird er nicht mehr mit — je nach Krankenkasse — völlig unterschiedlichen Formularen konfrontiert, zum anderen erhält er endlich für seine gutachtliche Tätigkeit im Rahmen der Schwerpflegebedürftigkeits-Feststellung eine angemessene Vergütung.

Verfasser:
Dr. med. Lothar Krimmel

Erstveröffentlichung:
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 88, Heft 21, 23. Mai 1991