Sind die Kassenärzte noch zu retten?

Forum für Gesellschaftspolitik (1999)

Deutschland vor dem Systemwechsel im Gesundheitswesen

Die Eckpunkte der Regierungskoalition zur Strukturreform 2000 im Gesundheitswesen skizzieren nicht mehr und nicht weniger als einen vollständigen Wechsel des medizinischen Versorgungssystems in der Bundesrepublik Deutschland. Der Schritt über den Atlantik in Richtung auf US-amerikanische Versorgungsverhältnisse ist offensichtlich gewollt und er wird politisch unumkehrbar sein. Dies muß den rot-grünen Koalitionären in Bonn klar sein. Sie werden sich nicht darauf berufen können, sie hätten die Konsequenzen ihres Handelns nicht vorhergesehen oder zumindest so nicht beabsichtigt. Aus der politischen Verantwortung für das ohne Not zerstörte System einer einheitlichen, überschaubaren medizinischen Versorgung ohne Risikoselektion und auf verläßlichen vertraglichen Grundlagen werden weder die grüne Gesundheitsministerin noch die SPD-Fraktion entlassen werden.

Insbesondere grüne Gesundheitspolitik scheint unempfänglich für die Erkenntnis, daß es beim Gesundheitswesen in Deutschland um nicht mehr und nicht weniger als das hoch komplexe Zusammenspiel der gesundheitlichen Interessen von 72 Millionen Menschen und der beruflichen Interessen von 4 Millionen Beschäftigten geht. Jedenfalls fühlt sich die Koalition hierdurch nicht gehindert, die Versicherten bundesweit mit einem kassenzentrierten und damit patientenfernen Versorgungssystem zu konfrontieren. Dies ist um so weniger begreiflich, als gerade die ambulante kassenärztliche Versorgung, deren Zersetzung nunmehr zum offiziellen Eckpunkt der Regierungskoalition erhoben worden ist, in der Vergangenheit trotz Bewältigung der enormen Herausforderungen durch medizinischen Fortschritt und demographische Veränderungen sogar noch zur Stabilisierung der GKV-Finanzen beitragen konnte (vgl. Abbildung 1).

Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben der GKV von 1992 bis1997

Abb. 1: Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben der GKV von 1992 bis1997

Gerade vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, daß ausgerechnet die dem Gedanken einer solidarischen Krankenversicherung traditionell verpflichtete Sozialdemokratische Partei offensichtlich eine systemverändernde Reform mitzutragen bereit ist, die Risikoselektion und eine chaotische Versorgungslandschaft bringen wird und damit wesentliche Prinzipien einer solidarischen Krankenversicherung außer Kraft setzt.

Grüne Widersprüche

Insbesondere manche grüne Vorstellungen im Gesundheitswesen werden bereits an ihren inneren Widersprüchen scheitern müssen. Ein Beispiel hierfür ist die Forderung, einerseits für die Beachtung von Leitlinien und Evidence-Based-Medicine einzutreten, andererseits jedoch auch die Patientenautonomie und die Patientenmitwirkung an der Behandlung zu fördern, sich jedoch gleichzeitig dagegen zu verwahren, daß die über eine Leitlinien-gestützte Behandlung hinausgehenden Leistungsansprüche der nunmehr informierten Patienten auf den privatmedizinischen Sektor verwiesen werden. Auch die Forderung nach einer Positivliste für Arzneimittel unter Erhalt eines Schutzzauns für die in der grünen Wählerschaft so beliebte „Blümchen- Medizin“ entspricht dem Versuch der Quadratur des Kreises in der Gesundheitspolitik. Es ist nicht nur medizinisch unsinnig, sondern auch verfassungsrechtlich fragwürdig, wenn die Frage der Umstrittenheit von Arzneimitteln entsprechend den ideologischen Vorlieben einer Regierungspartei beurteilt wird. Es würde das Vertrauen der Bevölkerung in eine gesetzliche Krankenversicherung aufs Schwerste erschüttern, wenn künftig Rentnerinnen, die keine Grünen-Wähler sind, die von ihnen beanspruchten Venenmittel zu 100 Prozent selbst bezahlen müssen, während die jungen Angestellten die nicht minder umstrittenen, jedoch grünen Vorlieben näherstehenden „Naturheilmittel“ weiter auf Kassenrezept erhalten.

Pyrrhussieg der Krankenkassen

Die Krankenkassen kann man im Hinblick auf die Eckpunkte der Regierungskoalition – jedenfalls bei vordergründiger Analyse – nur beglückwünschen. Sie haben letztlich sämtliche strategischen Forderungen der vergangenen Jahre durchgesetzt. Mit der Strukturreform werden sie endgültig zum alleinigen Machtzentrum des deutschen Gesundheitswesens und können nach Belieben die bislang einheitliche und überschaubare Versorgung zersplittern, Prestigeprojekte im Sinne solidarisch finanzierter Werbekampagnen ohne Widerstand einer dem Gesamtsystem verpflichteten Kassenärztlichen Vereinigung durchsetzen und schließlich durch nachhaltige, gerade auch vertragspolitische Risikoselektion ihren Versichertenbestand um die „schlechten Risiken“ der chronisch Kranken bereinigen. Daß sich eine gesetzliche Krankenversicherung damit ad absurdum führt und an diesem Pyrrhussieg schwer zu tragen haben wird, steht auf einem anderen Blatt und wird die aktuellen Triumpfgefühle der Krankenkassen kaum beeinträchtigen.

Wie problematisch die Vorstellungen der rot-grünen Koalition gerade in diesem Punkt sind, zeigt sich an der irrigen Meinung, dem Hang der Krankenkassen zur Risikoselektion könne durch die Verpflichtung der Kassen zum „gemeinsamen und einheitlichen“ Vertragsschluß mit einzelnen Ärzten und Arztgruppen begegnet werden. Tatsächlich wird jedoch auf diese Weise die Risikoselektion zum einheitlichen Vorgehensprinzip, da die Krankenkassen künftig weder durch die KV als Verhandlungspartner noch durch den Wettbewerb untereinander veranlaßt werden, neue Konzepte für die Versorgung insbesondere von chronisch Kranken anzubieten, wenn diese keine unmittelbare Kostenreduktion versprechen. Damit ist die Reduzierung der Krankenversorgung auf eine Billigmedizin unausweichlich festgelegt. Dies muß zu schwersten verfassungsrechtlichen Bedenken führen, da es nicht angehen kann, 60 Millionen Bürgerinnen und Bürger zwangsweise auf eine Krankenversicherung zu verpflichten, die als alleiniger Monopolist im Gesundheitswesen die Versorgung gerade der „schlechten Risiken“ nach eigenem Belieben herunterfahren kann.

Appeasement-Politik ist gescheitert

Den Krankenkassen ist es im übrigen auch im täglichen Verhandlungsgeschäft gelungen, ihre jeweiligen Positionen weitgehend durchzusetzen, in dem sie – teilweise durch schlichte Verweigerung, teilweise unter Einsatz von Drohungen – in jede strategische Lücke nachgestoßen sind, die von der kassenärztlichen Selbstverwaltung im Zuge der bis zuletzt praktizierten „Appeasement-Politik“ geöffnet worden ist. Insbesondere den Ersatzkassen war nahezu jedes Mittel recht, ihre strategische Zielvorgabe durchzusetzen, die Ausgaben für die ambulante Versorgung herunterzufahren. Der Erfolg dieser Bemühungen läßt sich an den in den letzten Jahren dramatisch gesunkenen Anteilen der kassenärztlichen Versorgung an den gesamten Leistungsausgaben der Krankenkassen ablesen (vgl. Abbildung 2).

Entwicklung der Anteile von ambulanter* und stationärer Versorgung an den Leistungsausgaben der GKV

Abb. 2: Entwicklung der Anteile
von ambulanter* und stationärer Versorgung
an den Leistungsausgaben der GKV

Das Jahr 1998 ist sogar zu einem regelrechten Triumpf der unnachgiebigen Ersatzkassenstrategie gegenüber den bis zuletzt ängstlich taktierenden Kassenarztvertretern geraten (vgl. Abbildung 3).

Ausgabenentwicklung 1998 bei den Angestellten-Ersatzkassen (VdAK) (Bundesgebiet gesamt)

Abb. 3: Ausgabenentwicklung 1998 bei den Angestellten-Ersatzkassen (VdAK)
(Bundesgebiet gesamt)

Ganz ungeniert konnten die Ersatzkassen ihren Verwaltungsapparat weiter aufblähen, indem sie die hierfür notwendigen Mittel – praktisch ohne Gegenwehr der Kassenärzte – aus der ambulanten Versorgung abgezogen haben.

Nach der Vorlage der Eckpunkte der Regierungskoalition für eine Gesundheitsreform 2000 steht die kassenärztliche Selbstverwaltung damit vor einem Scherbenhaufen. Erst jetzt, viel zu spät, wird erkannt, daß die Sicherstellung einer kostengünstigen und gleichzeitig qualitativ hochstehenden Krankenversorgung mit gleichartigen Bedingungen in ganz Deutschland nicht mehr gefragt ist. Gewonnen haben diejenigen, die sich um die eigentliche Aufgabe der Krankenversorgung nur bruchstückhaft gekümmert und statt dessen die die Versorgung tragenden Kassenärzte und Kassenärztlichen Vereinigungen an den Pranger gestellt haben.

Aus Sicht der Kassenärzteschaft rächt sich jetzt, daß sie der spätestens seit 1995 klar erkennbaren und konsequent durchgesetzten Strategie der Krankenkassen, die ohne Rücksicht auf den Bestand des bewährten Versorgungssystems ausschließlich auf die Stärkung der eigenen Machtpositionen gerichtet war, nicht entschlossen entgegengetreten ist. Den Krankenkassen ist es auf diese Weise gelungen, die Kassenärztlichen Vereinigungen als den entscheidenden Stabilitätsfaktor einer solidarischen Krankenversorgung massiv und nachhaltig angreifen zu können, ohne auf Widerstand zu stoßen. Von besonderer Qualität sind vor diesem Hintergrund die in den Eckpunkten vorgesehenen Regelungen zur Fortsetzung der Arzneimittel- und Heilmittelbudgets. Anstatt diese mit dem Vorschaltgesetz 1999 wieder verbindlich eingeführten Budgets als Ausdruck einer unmenschlichen Budgetierungs- und Rationierungsideologie zu brandmarken und eine ausschließliche finanzielle Verantwortung der Kassenärzte angesichts fehlender Steuerungsinstrumente sowie der Mitverantwortung insbesondere der Krankenkassen, der Pharmaindustrie, der Apotheker und der Krankenhäuser grundsätzlich abzulehnen, haben ausgerechnet Mandatsträger der kassenärztlichen Selbstverwaltung den Eindruck erweckt, als könnten planwirtschaftliche Budgets ohne Steuerungsinstrumente und trotz der gewaltigen Herausforderungen durch medizinischen Fortschritt und demographische Entwicklung eingehalten werden, wenn sogenannte „Wirtschaftlichkeitsreserven“ erschlossen würden. Das Ergebnis dieser fatalen Strategie ließ in Gestalt der Eckpunkte für eine Strukturreform 2000 nicht lange auf sich warten. Der Regierungskoalition fiel es angesichts der auf Selbstgeißelung angelegten kassenärztlichen Budgetpolitik nicht schwer, ihr in der Diskussion um das Vorschaltgesetz 1999 gegebenes Wort hinsichtlich einer auf 1999 befristeten Budgetierung zu brechen und statt dessen nunmehr wieder unbefristete Arzneimittel- und Heilmittelbudgets vorzusehen. Wie diese Budgets angesichts des Ausscheidens der entmachteten Kassenärztlichen Vereinigungen als Budgetträger künftig funktionieren sollen, ist allerdings unerfindlich.

Als zusätzliche Demütigung sollen die Arzneimittelbudgets künftig in einem „Benchmarking-Verfahren“ bundesweit u. a. an den Ausgaben derjenigen beiden Kassenärztlichen Vereinigungen festgemacht werden, deren Vorsitzende die kassenärztliche Arzneimittelpolitik im Vorstand der KBV bestimmen. Diesem Ansatz liegt ein totales Mißverständnis des Benchmarking-Verfahrens zugrunde, das im unternehmerischen Handeln stets output-bezogen, aber niemals – wie jetzt von der rot-grünen Koalition vorgesehen – ausschließlich kostenbezogen ist. Als Ergebnis dieses Verfahrens wird künftig möglicherweise die schlechteste, aber billigste Versorgung die „Benchmark“ in der Arzneimittelbehandlung sein. Im übrigen bleiben bei einem solchen Benchmarking die zwischenzeitlich wissenschaftlich klar belegten morbiditätsbezogenen Unterschiede zwischen den Bundesländern unberücksichtigt. Insbesondere herzkranken Bürgerinnen und Bürgern aus Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern ist vor dem Hintergrund solchen planwirtschaftlichen Unsinns dringend anzuraten, ihren Wohnsitz in Bundesländer mit günstigerem „Risikoprofil“ wie etwa Hessen oder Baden-Württemberg als den beiden reichsten Bundesländern zu verlegen.

Bei der unbefristeten Fortsetzung der unmenschlichen Budgetierungspolitik hat die Regierungskoalition im übrigen billigend in Kauf genommen, daß die Hausärzte auch künftig die Hauptlast der absehbaren Budgetüberschreitungen zu tragen haben werden. Damit ist klar, daß die Koalition die Hausärzte gegen die Etablierung eines geschlossenen Widerstandes der Kassenärzteschaft benutzt hat, um sie nunmehr fallenzulassen und in die politische Generallinie eines Abstrafens der Kassenärzte einzubeziehen .

Die KV als Auslaufmodell

Wenn die Eckpunkte der Regierungskoalition – was kaum zu erwarten ist – nicht in den wesentlichen, die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung betreffenden Passagen geändert werden, wird die kassenärztliche Selbstverwaltung gezwungen sein , den faktischen Rückfall des Sicherstellungsauftrages an die Krankenkassen auch politisch nachzuvollziehen. Auf der Grundlage der Eckpunkte mit weitgehendem Einkaufsrecht der Krankenkassen bei gleichzeitiger Einvernehmensregelung über die Honorarverteilung im „Auslaufmodell“ der kassenärztlichen Versorgung werden die Kassenärztlichen Vereinigungen diesen Sicherstellungsauftrag nicht mehr wahrnehmen können. Man mag ein solches Pseudo-Solidarsystem. von seiten der Politik ggf. unter Einsetzung von Staatskommissaren in den Kassenärztlichen Vereinigungen noch kurzfristig am Leben halten können, es wird jedoch nicht mehr als eine provisorische Hülse ohne Bedeutung und vor allem ohne jegliche Legitimation durch die kassenärztliche Basis sein.

Die Regierungskoalition hat angekündigt, daß sie ihre eindeutig auf die Ablösung des bisherigen bewährten Versorgungssystems gerichteten Eckpunkte „ergebnisoffen“ mit den sog . Leistungserbringern zu diskutieren beabsichtigt. Dieses „Angebot “ dürfte jedoch nicht mehr als ein politisches Manöver sein, zumal die systemzerstörenden Eckpunkte offensichtlich im Bundeskanzleramt vor dem Hintergrund eines „Bündnisses für Arbeit“ längst abgestimmt sind. Wer in seinen Eckpunkten auf die Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigungen und auf die Ablösung des über alle Stürme der Vergangenheit bewährten Kollektivvertragssystems durch eine chaotisierte, ganz auf Risikoselektion gestützte Versorgungslandschaft abzielt, der läßt sich auch durch eine „ergebnisoffene Diskussion“ hiervon nicht abbringen. Wer die Revolution von oben will, macht für ihre Durchsetzung keine öffentliche Ausschreibung.

Strategische Antworten der Kassenärzte

Die Kassenärzte tun vor diesem Hintergrund gut daran, sich unmittelbar und damit vielleicht noch rechtzeitig auf die neue Versorgungswelt einzustellen, die von Krankenkassen dominiert werden wird, die nicht nur im Hinblick auf die Gestaltung der eigentlichen Krankenversorgung wenig kompetent sind, sondern im existenzentscheidendem Wettkampf um gute Risiken hieran auch überhaupt kein ernsthaftes Interesse haben. Bei erster Annäherung an eine strategische Antwort auf die von den Krankenkassen spätestens seit 1995 betriebene und nunmehr von der Koalition übernommene Zersetzungsstrategie gegenüber der Kassenärzteschaft ergeben sich 6 wesentliche Eckpunkte:

  1. Offenlegung der Inkompetenz der Krankenkassen in der Krankenversorgung sowie ihrer auf Risikoselektion und damit gegen die Patienteninteressen gerichteten Wettbewerbsstrategien.
  2. Forderung nach Vervollständigung des Wettbewerbsmodells mit Öffnung der Krankenversicherung auch für ärztlich beeinflußte und damit an den Interessen der Kranken orientierte Versicherungsanbieter.
  3. Rascher Aufbau einer starken Kassenärzte-Gewerkschaft in Abstimmung mit den bestehenden ärztlichen Verbänden und den vorübergehend noch fortbestehenden Kassenärztlichen Vereinigungen.
  4. Dezentrale Organisation schlagkräftiger ärztlicher Netzverbünde zur Vorbereitung auf die Welt der Einkaufsmodelle und damit zur optimalen Nutzung der erheblichen Optionen chaotisierter Versorgungsstrukturen.
  5. Übernahme der politisch gewollten finanziellen Reduktion der GKV auf eine Grundsicherung auch in das tägliche ärztliche Handeln mit entsprechend massiver Leistungsreduktion auf das medizinisch unbedingt Notwendige.
  6. Forcierte Etablierung und Strukturierung des durch GKV-Leitlinien und Evidence-Based Medicine erheblich wachsenden privatmedizinischen Sektors außerhalb der GKV-Zuständigkeit.

Aufbrechen des GKV-Kartells

Erst die Umsetzung dieser Strategien wird den Charakter des bevorstehenden Wandels der GKV in voller Tragweite kenntlich machen und damit letztlich auch die GKV selbst im Kern in Frage stellen. Allerdings ist der definitive Abschied von einer solidarischen Krankenversicherung bereits in den Eckpunkten der Regierungskoalition festgeschrieben, und es kann daher den Kassenärzten nicht angelastet werden, wenn sie nunmehr die notwendigen Konsequenzen für eine optimale Krankenversorgung sowie zur Sicherung ihrer eigenen Existenz und der Existenz ihrer 500.000 Mitarbeiterinnen ziehen. Die lnfragestellung einer durch Chaotisierung der Versorgungsstrukturen und massive Risikoselektion zum Selbstzweck entarteten Krankenversicherung wurde bislang sowohl von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen als auch von den ärztlichen Verbänden trotz Vorliegens zahlreicher diesbezüglicher Hinweise bewußt vermieden, um das Vertrauen der Versicherten in den Schutz einer gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu erschüttern. Dies war bisher zu rechtfertigen, da die Kassenärztlichen Vereinigungen als gleichberechtigte Partner der Krankenkassen in der Lage waren, die schlimmsten Auswüchse des Kassenwettbewerbs zu verhindern. Da mit der Etablierung der Krankenkassen als alleinige Machtzentren des Gesundheitswesens dieses Gegengewicht künftig entfallen wird, ist die Kassenärzteschaft gerade aus ihrer Verantwortung gegenüber ihren Patienten verpflichtet, diese auf die dramatischen Folgen des Systemwechsels hinzuweisen. Dabei werden auch die teilweise massiven Rechtsverstöße der Krankenkassen , die vom Bundesversicherungsamt ermittelt worden sind, zur Sprache gebracht werden müssen (vgl. Abbildung 4).

Auswahl von Mängeln, Versäumnissen, Unwirtschaftlichkeiten und Rechtsverstößen der Krankenkassen im Jahre 1997

Abb. 4: Auswahl von Mängeln, Versäumnissen,
Unwirtschaftlichkeiten und Rechtsverstößen der
Krankenkassen im Jahre 1997

Darüber hinaus muß die Kassenärzteschaft ab sofort die Forderung stellen, das Kartell der rund 500 gesetzlichen Krankenkassen aufzubrechen und damit einen echten Wettbewerb unter den Anbietern eines Krankenversicherungsschutzes auf gesetzlicher Grundlage herzustellen . Vor dem Hintergrund europäischen Rechts wird es ohnehin unvermeidlich sein, daß eine wettbewerblich organisierte gesetzliche Krankenversicherung mit umfassenden Einkaufs-Vollmachten für alle Versicherungsanbieter geöffnet wird, welche die gesetzlichen Auflagen gegen sich gelten lassen. Auf diese Weise könnten insbesondere solche Versicherer Zugang erhalten, in denen – im Gegensatz zu den bisherigen Krankenkassen – ärztliche Kompetenz und ärztliche Verantwortung ein ausschließlich fiskalisch dominiertes Risiko-Management in die Schranken weisen. Zur Übernahme dieser erweiterten Versicherungsaufgaben bieten sich insbesondere die bestehenden Kassenärztlichen Vereinigungen an, da in ihnen der ärztliche Sachverstand sowie die notwendigen Erfahrungen im Versorgungs-Management gebündelt sind. Im übrigen sind die Kassenärztlichen Vereinigungen bereits heute durch die umfassende Budgetierung für 40 Prozent der Leistungsausgaben direkt verantwortlich, so daß sie auch in dieser Hinsicht die notwendigen Erfahrungen für die Übernahme der Aufgaben eines Krankenversicherers einbringen können. Wie wichtig eine solche Erweiterung des Kassenangebots ist, zeigen die Erfahrungen in den USA mit den im gegenseitigen Wettbewerb außer Kontrolle geratenen HMO-Krankenkassen. Derzeit wird ein Gesetz vorbereitet, das die Macht der HMO ’s zum Schutz von Patienten und Ärzten beschneidet (vgl. Abbildung 5).

Anti-HMO-Gesetz 1999 in den USA

Abb. 5: Anti-HMO-Gesetz 1999 in den USA

Aufbau der Kassenärzte-Gewerkschaft

Von besonderer Bedeutung für die Besetzung ärztlicher Anliegen in der Öffentlichkeit wird der rasche Aufbau einer starken genossenschaftlichen Vertretung der Kassenärzte jenseits der politisch entmachteten und durch staatliche Intervention der ärztlichen Legitimation beraubten Kassenärztlichen Vereinigungen sein. Die gemeinsame Vermutung von Krankenkassen und Regierungskoalition, die niedergelassenen Ärzte würden nach Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigungen nicht mehr in der Lage sein, ihre Interessen genossenschaftlich zu organisieren , kann nur als naiv bezeichnet werden. Angesichts der spezifischen deutschen Erfahrungen um die Auseinandersetzungen zwischen Kassenärzten und Krankenkassen in den ersten drei Jahrzehnten des 20 . Jahrhunderts ist es ohnehin erstaunlich, daß Krankenkassen und Politik ausgerechnet vor dem Hintergrund massiver medizinischtechnischer und demographischer Umwälzungen bereit sind, eine Wiederholung der historischen Auseinandersetzungen auf der Stufe hochentwickelter Organisationsstrukturen zu provozieren . Es wurde offensichtlich übersehen , daß die Kassenärztlichen Vereinigungen in der Vergangenheit wesentlich mehr zur Disziplinierung der Kassenärzte als zur „gebündelten Organisation der Anbieterinteressen “ beigetragen haben. Die Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigungen wird daher zur Freisetzung eines enormen genossenschaftlichen Potentials in der Kassenärzteschaft beitragen , das sich insbesondere aus der massiven Unzufriedenheit mit den zunehmend verschlechterten Arbeitsbedingungen speist. Es wird Aufgabe einer künftigen Kassenärzte-Gewerkschaft sein, dieses enorme Frustrationspotential, das bislang in den Kassenärztlichen Vereinigungen durch deren Stellung als mittelbare Staatsgewalt in Schach gehalten wurde, zur entschlossenen Wahrnehmung der Interessen der 600 .000 Beschäftigten in der ambulanten Versorgung sowie ihrer 72 Millionen Patienten zu nutzen.

Neben dem Aufbau einer sowohl bundesweit als auch regional vertretenen Kassenärztegewerkschaft wird es darauf ankommen, möglichst rasch auf lokaler Ebene schlagkräftige ärztliche Netzverbünde zu organisieren, welche die erheblichen Optionen nutzen können, die auf der Grundlage von Einkaufsmodellen und hierdurch chaotisierten Versorgungsstrukturen bestehen. Dabei wird man nicht umhinkommen, sich über den ärztlichen Sachverstand hinaus eines professionellen Managements zu bedienen, das in der Lage ist, den Wettbewerb der Krankenkassen für die Durchsetzung definierter Ziele zu nutzen. Insbesondere Verbünde von hochqualifizierten Anbietern mit gutem Marketing und hoher Akzeptanz vor Ort werden in der Lage sein, den „Wettbewerbsspieß“ umzudrehen , um ihrerseits ein Einkaufsmodell gegenüber den Versicherungsanbietern zu praktizieren . Dabei wird das Marketing dieser ärztlichen Verbünde darauf gerichtet sein, durch entsprechende Ausgestaltung der Angebote insbesondere die aus Sicht der Krankenversicherung „guten Risiken“ an sich zu binden. Ein zufriedener Patient wird nicht den Arztverbund wechseln, sondern die Kasse unter Druck setzen, wenn diese das Vertragsangebot des Arztverbundes ablehnt.

Grundsicherung und Privatmedizin

Selbst wenn die niedergelassenen Ärzte auch künftig zur Sicherung der Existenz ihrer Praxen auf die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung angewiesen sein werden, so darf doch nicht übersehen werden, daß der Praxisumsatz aus dieser Tätigkeit weiter zurückgehen wird . Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen hat die finanziellen Restriktionen für die gesetzliche Krankenversicherung in einem Maße festgelegt, daß die Reduzierung des Leistungsanspruchs der Versicherten auf eine Grundsicherung unausweichlich ist. Eine solche Grundsicherung ist sowohl nach sozialpolitischen als auch sozialethischen Kriterien absolut vertretbar, da sie die für die Krankenversorgung unbedingt notwendigen Leistungen weiter vorhalten wird . Dagegen werden sämtliche Sonderwünsche und Komfortansprüche der 72 Millionen GKV-Versicherten künftig deutlich stärker als bisher auf den Sektor der Privatmedizin verwiesen werden müssen. Die in den Eckpunkten der Regierungskoalition sich abzeichnende Strukturreform 2000 bedeutet insoweit ein massives Anschubprogramm für den Ausbau der Privatmedizin. Um die im Sinne einer Grundsicherung „unwirtschaftlichen“ Leistungsansprüche der Bürgerinnen und Bürger befriedigen zu können , wird das von KBV und ärztlichen Verbänden initiierte Konzept der Individuellen Gesundheitsleistungen deutlich ausgebaut werden müssen. Hierfür sind auch neue strukturelle und organisatorische Wege zu schaffen, um den Dienstleistungsansatz ärztlicher Tätigkeit und die Qualität der angebotenen Leistungen stärker im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger zu verankern. Solche Überlegungen schließen auch Angebote für die private Absicherung komfortmedizinischer bzw. privatmedizinischer Behandlungsangebote ein.

Insofern war es auch nur konsequent , daß die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die ärztlichen Verbände nach Vorliegen der Eckpunkte der Regierungskoalition den Empfehlungskatalog der Individuellen Gesundheitsleistungen (sog. ,,IGeL-Liste“) in einem ersten Schritt um weitere 11 Leistungen auf nunmehr 80 Leistungen und Leistungskomplexe erweitert haben. Unter den neu aufgenommenen Verfahren befinden sich diesmal präventivmedizinische Kernleistungen wie die Mammographie zur Brustkrebsfrüherkennung und die Früherkennungsuntersuchung auf Hautkrebs, wodurch die zunehmende Reduzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine Grundsicherung deutlicher als bisher zu Tage tritt.

Wenn vor dem Hintergrund der dargestellten Aspekte die eingangs gestellte Frage, ob die Kassenärzte noch zu retten sind, beantwortet werden soll, so kann diese Antwort nur ein eindeutiges „ja“ sein. Allerdings bedarf die Realisierung dieser Rettung der Einsicht einer Mehrheit der derzeitigen Verantwortungsträger in der Kassenärzteschaft, daß die über lange Jahre beibehaltene Strategie des Taktierens, Nachgebens und Zurückweichens angesichts des permanenten Nachsetzens von Politik und Krankenkassen sofort zu beenden ist. Es müssen vielmehr unmittelbar Vorbereitungen getroffen werden, die es den Kassenärzten ermöglichen, nach der von der Regierungskoalition mit Unterstützung der Krankenkassen durchgeführten Zerschlagung des bisherigen, kollektivvertraglich abgesicherten Versorgungssystems auf neuen Strukturen aufzubauen, in denen entschlossene kassenärztliche Interessenvertretungen eine moderne Patientenversorgung durch dem Dienstleistungsansatz verpflichtete und dadurch auch wirtschaftlich gesicherte Praxen ermöglichen.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Sind die Kassenärzte noch zu retten? In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), März 1999, S. 67-72.

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