Stiller Abschied vom „medizinisch Notwendigen“

Deutsches Ärzteblatt (2000)

Budgetierung und Leistungsausschlüsse sind in der medizinischen Versorgung der GKV-Patienten längst Alltag. Zahlen die Krankenkassen dennoch alles, was aus ärztlicher Sicht notwendig ist?

Seit der Einführung von Kollektiv- und Individualbudgets in die ambulante kassenärztliche Versorgung im Jahre 1993 gewinnt die Rationierungsdiskussion in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an Schärfe. Gesundheitspolitiker ziehen sich häufig auf die Position zurück, von den Krankenkassen würde nach wie vor „alles medizinisch Notwendige“ bezahlt. Angesichts der erdrückenden Budgetierungsregelungen der jüngsten Gesundheitsreform gebietet es aber zwischenzeitlich die ärztliche Ethik, die stille Rationierung von Gesundheitsleistungen aufzudecken und damit die Patienten vor weiterem Schaden zu bewahren.

GKV soll vor finanzieller Überforderung schützen

Die Gesetzliche Krankenversicherung ist bereits von ihrem Ausgang des 19. Jahrhunderts festgelegten Gründungszweck auf eine medizinische Grundversorgung beschränkt. Sie sollte und soll den Einzelnen im Krankheitsfall vor finanzieller Überforderung und damit vor einem krankheitsbedingten sozialen Abstieg schützen. An diesem damals wie heute fortschrittlichen Grundgedanken haben auch die auf Leistungsausweitung zielenden Gesetze in der Folgezeit nichts geändert.

Aufgrund der heute üblichen Auslegung des Sozialgesetzbuches V hat der Versicherte nämlich – anders, als dies manche Politiker und Krankenkassen glauben machen wollen – keineswegs einen uneingeschränkten Anspruch auf die medizinisch notwendige Behandlung. Dieser Anspruch wird de facto durch das Wirtschaftlichkeitsgebot eingeschränkt. Mit anderen Worten: Der Anspruch des Versicherten besteht nur, wenn und soweit die beanspruchte medizinisch notwendige Leistung auch wirtschaftlich ist.

Dass der Konflikt zwischen Leistungsmöglichkeiten und Leistungsansprüchen auf der einen sowie den Finanzierungsmöglichkeiten auf der anderen Seite erst vor etwa zwanzig Jahren begonnen hat, liegt ausschließlich daran, dass noch bis zum Ende der Siebzigerjahre mehr Finanzmittel für die GKV zur Verfügung standen, als durch den damaligen Stand der Medizin, die damaligen demographischen Verhältnisse und das damalige Anspruchsverhalten der Versicherten abgefordert wurden.

Die Abkoppelung der Kassenmedizin vom medizinisch Notwendigen wird besonders deutlich bei den gesetzlichen Leistungsausschlüssen. So sind gemäß § 34 Abs. 1 SGB V zum Beispiel Schnupfenmittel, Schmerzmittel, hustendämpfende Mittel und Abführmittel von der Leistungspflicht der Krankenkassen bei Erwachsen ausgenommen, obwohl niemand bestreiten wird, dass die Anwendung dieser Mittel in den entsprechenden Fällen durchaus medizinisch notwendig ist. Dasselbe gilt für die nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossenen Hilfsmittel.

Ein zweiter gesetzlicher Ausschlusstatbestand betrifft die Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten. Derartige Untersuchungen sind – unabhängig von ihrer medizinischen Notwendigkeit – nur dann Leistungen der Krankenkassen, wenn sie in den gesetzlichen Anspruch der §§ 25 und 26 SGB V fallen und zusätzlich vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den jeweiligen Richtlinien konkret als Kassenleistungen definiert worden sind. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass aus Sicht des einzelnen Bürgers medizinisch notwendige Leistungen nicht in diesem Sinne in den Leistungskatalog aufgenommen wurden.

Prominente Beispiele aus der aktuellen Rationierungsdiskussion sind zum einen die Mammographie zur Früherkennung des Brustkrebses und zum anderen die Untersuchung zur Früherkennung des grünen Stars (Glaukom). In beiden Fällen hat der Bundesausschuss bisher aufgrund der spezifischen Anforderungen an ein so genanntes „Massen-Screening“ die Aufnahme in den Leistungskatalog zurückgestellt, auch wenn der individuelle Nutzen für einen einzelnen Bürger und insbesondere sein individueller Anspruch auf das Wissen um seine Gesundheit diese beiden Untersuchungen als „medizinisch notwendig“ erscheinen lassen.

Ein dritter Bereich, in dem gesetzliche Vorgaben die Kassenleistungen von medizinisch notwendigen Maßnahmen ausschließen, betrifft die eigenverantwortliche medizinische Vorsorge. Beispiele hierfür sind die reisemedizinischen Beratungen und Impfungen sowie die sportmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen, etwa vor Aufnahme ambitionierter sportlicher Tätigkeit im mittleren Lebensalter. In beiden Fällen sind die jeweiligen Vorsorgemaßnahmen aus ärztlicher Sicht als medizinisch notwendig und empfehlenswert einzuschätzen, und in beiden Fällen liegt keinerlei Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkassen vor.

Ambulante Versorgung ist „durchbudgetiert“

Seit dem Jahre 1993 ist die ohnehin schon fragwürdige Garantie des „medizinisch Notwendigen“ durch eine zunehmende Durchbudgetierung der Kassenmedizin vollends entwertet worden. Zwar gibt es in der ambulanten Versorgung keine Budgets für den einzelnen Patienten, jedoch bestehen auf allen Stufen der Versorgung Budgetierungsgrenzen: Kollektivbudgets bei den Kassenärztlichen Vereinigungen, Integrationsbudgets bei den Arztnetzen und schließlich Praxisbudgets bei den einzelnen Praxen.

Behandlungsstil tendiert zum „Ausreichenden“

Es entspricht nicht nur jeder menschlichen Erfahrung, sondern ist auch zwischenzeitlich durch Untersuchungen belegt, dass unter dem zunehmenden Budgetdruck der „Behandlungsstil“ in der Kassenmedizin immer weiter in den Bereich des gerade noch Ausreichenden abdriftet und damit hinter den medizinischen Möglichkeiten zurückbleibt. Dass dies nicht etwa den Ärzten vorzuwerfen ist, sondern vielmehr Krankenkassen und Politikern, die diese Form der stillen Rationierung gegenüber den Bürgern auch noch herunterspielen, liegt an dem weiten Interpretationsspielraum, den der Begriff der „medizinischen Notwendigkeit“ eröffnet.

So dürfte ein Arzt, der regelmäßig Arzneimittel verordnet, die zehn Prozent wirksamer sind oder zehn Prozent weniger Nebenwirkungen haben, dafür jedoch doppelt soviel kosten, regelmäßig von Strafzahlungs-Sanktionen in Form von Regressen bedroht sein. Wer dies als Arzt einmal erlebt hat, wird künftig nur noch die zwar deutlich billigere und damit „wirtschaftliche“, jedoch eindeutig weniger gute Behandlungsvariante wählen. Die Abbildung zeigt, wie auf diese Weise der Budgetdruck etwa im Bereich der Hochdruck- und der Alzheimerbehandlung zu einer Abkopplung der Kassenmedizin vom medizinischen Fortschritt geführt hat.

Unterschiede in der Versorgung mit modernen Bluthochdruck- und Alzheimer-Präparaten 1998

In der budgetfreien Privatmedizin werden Hochdruckpatienten zweimal
und Alzheimer-Patienten dreimal so häufig mit modernen Arzneimitteln
versorgt wie in der budgetierten Kassenmedizin. Quelle: IMS

Medizinischer Fortschritt scheint unter Budgetbedingungen weitgehend der Privatmedizin vorbehalten zu sein.

Im Interesse der Patienten muss den Krankenkassen und Politikern widersprochen werden, wenn sie behaupten, die Krankenkassen würden auch im Zeitalter einer Durchbudgetierung der Kassenmedizin weiterhin alles Notwendige leisten. Erfolgt kein Widerspruch, wird die Budgetspirale noch weiter angezogen. Die Botschaft an die Kassenpatienten muss daher lauten: Die Kassen leisten keineswegs mehr alles medizinisch Notwendige, und sie werden es umso weniger tun, je weniger die Budgets für die Patientenversorgung den tatsächlichen Versorgungsbedarf berücksichtigen.

Möglicherweise ist der Prozess des Abkoppelns der Kassenmedizin von den medizinischen Möglichkeiten nicht mehr aufzuhalten. Die gesetzliche Verselbstständigung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität lässt dies jedenfalls vermuten.

Deshalb haben insbesondere die Kassenärzte die Pflicht, den Patienten andere Wege zur Anhebung des medizinischen Versorgungsniveaus auf einen optimierten Behandlungsstil aufzuzeigen. Die private Krankenversicherung wird auf Dauer nicht umhinkommen, ähnlich wie im stationären nun auch im ambulanten Sektor Zusatzversicherungen für ein „privatmedizinisches Upgrading“ des Versorgungsniveaus anzubieten.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Stiller Abschied vom „medizinisch Notwendigen“. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 97, Heft 16, 21. April 2000, S. A-1052f.

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