Von der Budgetierung zu Rationierung und 2-Klassen-Medizin

Kassenärztetag der KV Brandenburg (1999)

Rot/Grüne Gesundheitspolitik im Abseits

Bereits unmittelbar nach Konstituierung der neuen rot/grünen Bundesregierung im Herbst 1998 konnte ein tiefgreifender Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik mit weitreichenden Auswirkungen insbesondere für die gesetzliche Krankenversicherung festgestellt werden. Vordergründig wurden sämtliche Politikfelder dem dominierenden Ziel eines „Bündnisses für Arbeit“ untergeordnet, wodurch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nur noch als arbeitsplatzgefährdende Belastung der Lohnzusatzkosten reflektiert werden. Mit dem gleichzeitig propagierten Wechsel von einer angebotsorientierten zu einer nachfrageorientierten Gesundheitspolitik soll der bisher als dominierend erlebte Einfluß der sog. Leistungsanbieter mit dem Ziel zurückgedrängt werden, die Stellung der Versicherten und der vorgeblich deren Interessen vertretenden Krankenkassen im Gesundheitssystem zu stärken.

Aus diesem konzeptionellen Ansatz wird ein neues, nicht mehr weiter hinterfragtes gesundheitspolitisches Dogma abgeleitet, wonach die bislang dem GKV-System „zur Verfügung gestellten“ ca. 250 Milliarden DM ausreichen, um selbst bei einer Anbindung an die (vielfachen sozialpolitischen Kürzungen ausgesetzte) sog. Grundlohnsummenentwicklung den künftigen Herausforderungen von demographischer Belastung und medizinisch-technischer Innovation zu widerstehen, wenn nur die im System vermuteten „Wirtschaftlichkeitsreserven“ ausgeschöpft werden. Um von den mit dieser Philosophie verbundenen Evidenzproblemen abzulenken, wird mit der schlichten Formel „Nicht mehr Geld, dafür mehr Qualität“ im Ergebnis die „Quadratur des Kreises“ in der Gesundheitspolitik versprochen.

Es hat sich gezeigt, daß dieser neue gesundheitspolitische Ansatz gerade aufgrund seiner Schlichtheit gegenüber der Öffentlichkeit außergewöhnlich gut vertreten werden kann. Andererseits ist offensichtlich, daß dieser Ansatz aufgrund der Fülle der ihm innewohnenden Widersprüche scheitern muß, jedenfalls aber das Gesicht der gesetzlichen Krankenversicherung bereits auf mittlere Sicht vollständig verändert. Insbesondere werden in der neuen Gesundheitspolitik der Bundesregierung folgende Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten verdrängt oder bewußt übersehen:

    1. Für jedes System mit einem Ausgabenvolumen von 250 Milliarden DM können Wirtschaftlichkeitsreserven postuliert werden. Dies gilt für den Bundeshaushalt ebenso wie für die gesetzliche Krankenversicherung. Aus dieser Feststellung ist jedoch keineswegs die Folgerung ableitbar, daß diese Wirtschaftlichkeitsreserven mit vertretbarem finanziellen und organisatorischem Aufwand identifiziert und dem Gesamtsystem im Sinne zusätzlicher Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können.
    2. Den vermuteten Wirtschaftlichkeitsreserven im Sinne einer „Überversorgung“ steht eine anhand der Kriterien der evidenzbasierten Medizin nachweisbare Unterversorgung ungleich größeren Umfangs gegenüber, so daß selbst bei der von allen Beteiligten anzustrebenden qualitätsverbessernden Umschichtung der Finanzmittel keinerlei Systemressourcen für die künftigen Herausforderungen der Gesundheitsversorgung mobilisiert werden können. So wurde erst vor wenigen Wochen von Schmerztherapeuten darauf hingewiesen, daß die Anpassung der kassenärztlichen Schmerztherapie an den medizinisch notwendigen Versorgungsumfang zusätzliche Finanzmittel in der Größenordnung von mehr als 5 Milliarden DM erfordern würde.
    3. Es wird durchgehend übersehen, daß sog. Wirtschaftlichkeitsreserven in einem großen Umfang gleichbedeutend sind mit entsprechenden Ansprüchen der Versicherten an das Versorgungssystem. Wenn z. B. von den niemals auch nur annähernd nachgewiesenen, jedoch permanent postulierten 25 Milliarden DM (entsprechend 10% der Gesamtausgaben) an Wirtschaftlichkeitsreserven allein eine Milliarde DM im Bereich der Massage-Verordnungen vermutet wird, so muß irgend jemand – und dies können und wollen nicht die Kassenärzte sein – den Versicherten sagen, daß ihre Versorgungsansprüche Gegenstand der Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven sind und daß sie aus diesem Grunde – um es in verständliches Deutsch zu fassen – für eine Milliarde DM (dies entspricht der Hälfte des derzeitigen GKV-Massagevolumens) auf Massage-Leistungen verzichten bzw. diese Leistungen privat bezahlen müssen.
    4. Geradezu unvereinbar mit einer verantwortlichen Gesundheitspolitik ist die fortgesetzte Leugnung des chronischen Einnahmedefizits der gesetzlichen Krankenversicherung, das durch einen wiederholten politischen Verschiebebahnhof zu Lasten der Krankenkassen in den vergangenen Jahren noch verstärkt worden ist. Wenn in den vergangenen 20 Jahren der Anteil der GKV-Ausgaben am westdeutschen Bruttoinlandsprodukt mit knapp 6 % praktisch konstant geblieben ist, während der durchschnittliche Beitragssatz von 11,5 auf 13,5 % gestiegen ist, so liegt dies ganz überwiegend an der beständig sinkenden Lohnquote – also dem Anteil des Volkseinkommens, aus dem die GKV finanziert werden muß. Eine verantwortliche Gesundheitspolitik muß aus dieser Tatsache Konsequenzen in Richtung auf eine Stärkung der Einnahmeseite ableiten, wenn sie nicht die GKV insgesamt in Frage stellen will.
    5. In der aktuellen Debatte wird gleichfalls durchgehend verdrängt, daß die Neuausrichtung der Gesundheitspolitik gerade unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten dem übergeordneten Ziel der Politik der Bundesregierung, nämlich Arbeitsplätze zu schaffen, zuwiderläuft. Es gilt auf der Grundlage entsprechender Studien zwischenzeitlich als gesichert, daß eine finanzielle Stärkung des GKV-Systems, auch wenn sich dies in Beitragssatzerhöhungen niederschlägt, einen positiven Nettoeffekt auf die Entwicklung der Beschäftigung hat. Dieses Argument kann sich in der gesundheitspolitischen Debatte offensichtlich deswegen keinen Raum verschaffen, weil sich die Gesundheitspolitik der rot/grünen Koalition zwischenzeitlich verselbstständigt hat und nur noch den eigenen, in der Oppositionszeit gefestigten ideologischen Grundsätzen gehorcht.
    6. Von Protagonisten der rot/grünen Gesundheitspolitik wird zunehmend davon gesprochen, dem GKV-System würden die Gesamtmittel in der aktuellen Größenordnung von 250 Milliarden DM pro Jahr gesetzlich „zur Verfügung gestellt“. Dabei wird vollständig unterschlagen, daß dem Gesundheitssektor selbstverständlich eine eigene Wertschöpfung zukommt, so daß es sich bei den Gesundheitsausgaben in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung keineswegs etwa um Transferzahlungen handelt. Die zugrundeliegende, volkswirtschaftlich schlichtweg falsche Betrachtungsweise offenbart allerdings auf eindrucksvolle Weise, daß die Einbettung des Gesundheitssystems in das volkswirtschaftliche Umfeld und die mit dieser Verflechtung verbundenen Chancen sowohl für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems als auch für die Beschäftigung im Gesundheitswesen schlichtweg ignoriert werden.
    7. Von besonderer Bedeutung für die Zukunft des Gesundheitssystems ist die dem Versicherten für die Zukunft zugedachte Rolle im System. Danach soll diese Rolle des Patienten insbesondere dadurch gestärkt werden, daß er auf ein größeres Angebot an „anbieterunabhängiger“ Beratung zurückgreifen und auf diese Weise stärker als bisher selbst über die Inanspruchnahme von Leistungen bestimmen kann. In einem an Absurdität kaum zu überbietenden Gegensatz zu dieser vorgeblichen Stärkung der Patientenrechte stehen die mit der neuen Gesundheitspolitik verknüpften leistungsrechtlichen Einschränkungen insbesondere im Hinblick auf die Inanspruchnahme des Kostenerstattungssystems. Mit anderen Worten: Der Patient wird über die verschiedenen Möglichkeiten des Gesundheitssystems ausgiebigst beraten, nur um anschließend erfahren zu müssen, daß sein Leistungsanspruch im System der gesetzlichen Zwangsversicherung, dem er als Pflichtversicherter unentrinnbar angehören muß, auf eine „Standardbehandlung“ begrenzt ist, in welcher er einer beständigen Rationierungsgefahr aufgrund der totalen Durchbudgetierung der Kassenmedizin ausgesetzt ist.

Im Ergebnis gefährdet der umfassende Budgetierungsansatz der rot/grünen Gesundheitsreform nicht nur den Anspruch der Versicherten auf eine optimale Behandlung im Krankheitsfall sondern letztlich auch das Vertrauen in die Schutzfunktion einer gesetzlichen Krankenversicherung. Dies gilt trotz der vorgesehenen Stärkung der Finanzkraft der ostdeutschen Krankenkassen auch und gerade für die medizinische Versorgung in den neuen Bundesländern. Angesichts zahlreicher weiterer versorgungsfeindlicher Bestimmungen – insbesondere der als Integrationsversorgung getarnten Aufforderung zur Risikoselektion – kann die GKV-Gesundheitsreform 2000 daher nur insgesamt abgelehnt werden.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Von der Budgetierung zu Rationierung und 2-Klassen-Medizin: Rot/Grüne Gesundheitspolitik im Abseits. In: MedWell-Beiträge zur Gesundheitspolitik: Statement anlässlich des 4. Kassenärztetages der KV Brandenburg, (Potsdam, 13. November 1999)

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