Historisches

Die Geschichte der kassenärztlichen Organisationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ebenso spannend wie wechselhaft. Organisationsrechtliche Meilensteine sind

  • die Gründung des „Leipziger Verbandes (L.V.)“ durch Hermann Hartmann im September 1900,
  • nach dem Tod des Gründers die Umbenennung in „Hartmannbund“ im Jahre 1924,
  • dessen Aufgehen in den „Kassenärztlichen Vereinigungen“ auf der Grundlage einer Notverordnung des Reichspräsidenten vom Dezember 1931,
  • deren Ablösung durch die „Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD)“ bereits im August 1933,
  • deren Auflösung durch den Alliierten Kontrollrat im Jahre 1945,
  • die Neugründung privatrechtlicher Kassenärztlicher Vereinigungen nach 1945
  • sowie schließlich die Begründung von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch das von allen Bundestagsparteien getragene „Gesetz über Kassenarztrecht“ vom August 1955, welches insbesondere der visionären Kraft und dem politischen Geschick der überragenden politischen Arztpersönlichkeit der frühen Nachkriegsjahre zu verdanken ist: Dr. med. Ludwig Sievers, des ersten Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist funktionale und insbesondere auch rechtliche Nachfolgeorganisation der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (1933 – 1945) und damit auch des Hartmannbundes (1900 – 1935). Der 1949 neu gegründete Verband gleichen Namens hat dagegen rechtlich mit dem von 1900 bis 1935 bestehenden Hartmannbund bzw. Leipziger Verband nichts zu tun.

An dieser Stelle werden drei beeindruckende Schriftstücke aus dem Umfeld der beiden genannten Vorgängerorganisationen der KBV dokumentiert:

1912 Vertrauliches Material über die Personalien einer Anzahl von Ärzten, die sich bewusst in Gegensatz zur Organisation gestellt haben.

Der Organisationsgrad, die Kampfbereitschaft und die Schlagkraft des Leipziger Verbandes bzw. Hartmannbundes sind legendär und insbesondere aus heutiger Sicht phänomenal. Die von ihm organisierten ärztlichen Generalstreiks hatten gravierende Auswirkungen und haben tiefe Spuren im kollektiven und auch im politischen Gedächtnis hinterlassen. Auf dieser Zeit der kassenärztlichen Arbeitskämpfe gründet der große Respekt, der auch heute noch von manchen Politikern der KBV und den Kassenärztlichen Vereinigungen entgegengebracht wird. Die hohe Kampfbereitschaft des Hartmannbundes fand ihren Ausdruck auch darin, dass mit Krankenkassen ebenso hart umgegangen wurde wie mit Gegnern aus den Reihen der Ärzteschaft. Das hier wiedergegebene vertrauliche Dokument sollte die regionalen Vertrauensmänner in die Lage versetzen, ärztliche Kritiker aufgrund der Kenntnis kompromittierender Sachverhalte zur Raison zu bringen oder auszuschalten. Entstanden ist eine einzigartige Zusammenstellung mehr als 50 bizarrer „Arztbiographien“ aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Wenn wir uns heute fragen, was Geheimdienste wie die NSA im Zeitalter der globalen digitalen Vernetzung über uns sammeln können, so darf man durchaus feststellen: der Hartmannbund hat dies bereits vor über 100 Jahren gekonnt!

1938 Vertrauliches Rundschreiben des Reichsärzteführers vom 22.12.1938

Ein „Stimmungsbild“ aus der Vorweihnachtszeit des Jahres 1938, wenige Wochen nach der „Reichspogromnacht“ am 9. November, gibt ein vertrauliches Rundschreiben des „Reichsärzteführers“ Dr. med. Gerhard Wagner, in welchem einer seiner beiden Stellvertreter, der für die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands zuständige „Reichsführer KVD“ Dr. med. Heinrich Grote, das Problem der Behandlung jüdischer Patienten durch die aufgrund von Verfolgung und Inhaftierungen nicht mehr ausreichende Anzahl „jüdischer Behandler“ thematisiert. Trotz oder gerade wegen der nüchternen Diktion, in der die Adressierung eines Versorgungsproblems mit rassistischer Ideologie verknüpft wird, ist dies ein Dokument des Grauens. Es belegt auf beklemmende, ja furchtbare Weise, wie nach nur wenigen Jahren nationalsozialistischer Indoktrination nicht nur ärztliche Werte sondern elementare Menschenrechte von gleichgeschalteten ärztlichen Organisationen – und zwar noch in Friedenszeiten und außerhalb der Konzentrationslager – mit Füßen getreten wurden.

1938 Programm des 10. Jungärztelehrganges der Führerschule der deutschen Ärzteschaft

Dass die verbrecherische Ideologie des Nationalsozialismus weite Teile der deutschen Ärzteschaft infiltrieren konnte, liegt auch an den Aktivitäten der „Führerschule der deutschen Ärzteschaft“ im mecklenburgischen Weiler Alt-Rehse. Dieses ehemalige Rittergut am Tollensesee bei Neubrandenburg wurde im August 1934 zunächst zugunsten des Hartmannbundes zwangsenteignet und gelangte dann mit dessen Auflösung durch Inkrafttreten des Reichsärzteordnung am 1. April 1936 in den Besitz der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD). Dort wurden zwischen 1935 und 1943 auf Initiative des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) rund 10.000 Ärzte und damit fast 20% der damals berufstätigen Ärzte „geschult“. Neben naturheilkundlichen, ernährungswissenschaftlichen und militärmedizinischen Themen wurde schwerpunktmäßig nationalsozialistisches Gedankengut vermittelt, wie das hier wiedergegebene „Programm des 10. Jungärztelehrganges“ im Mai 1938 zeigt. Im Verlauf solcher vierwöchigen Lehrgänge wurden gezielt junge Ärzte zur Vorbereitung auf künftige Führungsaufgaben in die Kernbereiche dieser verbrecherischen Ideologie eingeführt, die im „Programm“ u.a. mit folgenden Überschriften angekündigt werden:
– Erbbiologie und Rassenpflege
– Die Hintergründe der entarteten Kunst
– Die weltanschaulichen Folgen der Rassenlehre
– Bevölkerungspolitische Maßnahmen im nationalsozialistischen Staat
– Erbbiologie in der Staatsführung
– Entstehung des Judentums
– Sippenforschung im nationalsozialistischen Staat

Die nachgeborenen deutschen Ärzte können sich glücklich schätzen, niemals unter einem totalitären Regime mit solchen „Lehrplänen“ konfrontiert worden zu sein. Aus solchem Glück erwächst jedoch auch die Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass sich Vergleichbares niemals wiederholen kann.

Neustart nach dem Krieg mit Dr. Ludwig Sievers

Die Strukturen von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung auch im 21. Jahrhundet gehen im Wesentlichen auf eine einzige Arztpersönlichkeit zurück: Dr. Ludwig Sievers, den überragenden ärztlichen Gesundheitspolitiker der ersten 12 Nachkriegsjahre. Er gründete u.a. die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, den Deutschen Ärzteverlag und den Bundesverband der Freien Berufe. Ein Zeitzeuge, Dr. Jürgen Bösche, der von Dr. Sievers 1955 eingestellt wurde und bis 1997 die gemeinsame Rechtsabteilung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung leitete, hat im Jahr 2010 in seinem 83. Lebensjahr anlässlich einer Kuratoriumssitzung der Ludwig-Sievers-Stiftung den Gründervater der ärztlichen Nachkriegsorganisationen in einem einzigartigen „Persönlichkeitsprofil“ beschrieben.

Downloads

NameGrößeHits
NameGrößeHits
Historisches
Icon of 1912-12-31 : Historisches Dokument des Hartmannbundes (1912) 1912-12-31 : Historisches Dokument des Hartmannbundes (1912)10.1 MB1093
Icon of 1938-05-04 : Programm des 10. Jungärztelehrganges der Führerschule der deutschen Ärzteschaft im Mai 1938 1938-05-04 : Programm des 10. Jungärztelehrganges der Führerschule der deutschen Ärzteschaft im Mai 19383.0 MB556
Icon of 1938-12-22 : NS-Reichsärzteführer zur ärztlichen Versorgung (1938) 1938-12-22 : NS-Reichsärzteführer zur ärztlichen Versorgung (1938)2.5 MB713