Trauerrede für Heinz Krimmel

Heinz Krimmel

Erinnerung an Opa Heinz

Trauerrede anlässlich der Beisetzung von
Heinz Krimmel (27.08.1920 – 18.10.2018)
auf dem Hauptfriedhof Würzburg
Würzburg, 29. Oktober 2018

von Lothar Krimmel

Ein Leben, das fast ein ganzes Jahrhundert durchwandert hat, lässt sich nicht an einem Stück abhandeln. Ich möchte den Rückblick auf das Leben meines Vaters daher in die drei wesentlichen Abschnitte gliedern: die 25 Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die anschließenden 40 Jahre im Zeichen von Familie und Beruf und schließlich die 33 krönenden Jahre als Pensionär, Großvater und Urgroßvater. Ich spreche dabei durchweg von Opa Heinz, da er ja für sieben seiner acht hier anwesenden Nachkommen mindestens Opa war. 

Opas Wurzeln

Opas Mutter Ida aus der Stammheimer Familie Feser war geprägt von einem Leben, dessen wichtigste Phasen von zwei Weltkriegen bestimmt wurden. Als sie 25 war, begann der Erste Weltkrieg, und als sie 56 war, endete der Zweite. Die bei den Fesers ohnehin vorhandene genetische Disposition für Sparsamkeit und Nüchternheit erfuhr dadurch noch eine deutliche lebenspraktische Verstärkung. Opa hat von seiner Mutter nicht nur die markanten Gesichtszüge. Vor allem die ausgeprägte Sparsamkeit hat sie an ihren Sohn Heinz und – wenn man seriösen Beobachtern Glauben schenken mag – sogar an eine hier anwesende Urenkelin weitergegeben.

Opas Vater Urban war Verwaltungs-Amtmann der Stadt Würzburg und hat wohl sehr früh Opas Wunsch nach einer Beamtenkarriere befördert. Urbans herausragende Leistung war die Rettung des Würzburger Stadtarchivs vor der Vernichtung im Bombenkrieg. Er traute den Stimmen nicht, die Würzburg in Sicherheit wähnten, und verschaffte das Stadtarchiv in die Rhön, rechtzeitig vor dem apokalyptischen 16. März 1945.

Urban war neben seiner Geselligkeit vor allem bekannt für seinen ausgeprägten Humor. Legendär ist seine Begrüßungsformel anlässlich der Reden vor unterfränkischen Beamtenkollegen: „Meine lieben Ochsen-, Schwein- und Haßfurter! Meine lieben Hammel-, Würz- und Aschaffenburger!“ Es gibt Freunde der Familie, die behaupten, der Urban´sche Witz habe über seinen Sohn Heinz hinaus tiefe Spuren in den Verzweigungen der Krimmel´schen Familie hinterlassen. Walter und Lothar werden da ebenso aufgeführt wie Katja und Stefan und neuerdings auch Noam.

Opa hatte drei ältere Geschwister: Erich, Robert und Gertrud, Trudl genannt. Mit drei Kindern aus einem gerade überstandenen Weltkrieg wollten es Urban und Ida eigentlich bewenden lassen. Aber die Pille war noch nicht erfunden. Und so erblickte dann doch noch Karl Heinz am 27. August 1920 das Licht der Welt.

1920: Der Erste Weltkrieg liegt weniger als zwei Jahre zurück. Der Versailler Vertrag tritt in Kraft, die NSDAP entsteht. Berlin hat mit 4 Millionen mehr Einwohner als heute und ist nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt. Opa schätzte einige Persönlichkeiten seines 20er Jahrgangs ganz besonders: Karol Wojtyla etwa, den späteren Papst Johannes Paul II., den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, den Fußballweltmeister Fritz Walter und den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

Als Opa 12 Jahre alt ist, übernehmen die Nazis die Macht. Er besucht das „Alte Gymnasium“ in Würzburg. Die Familie ist streng katholisch. Opa wirkt in der Kirchengemeinde mit und erlebt, wie eine Fronleichnamsprozession von der SA attackiert wird, weil sie von den regionalen Machthabern als Demonstration gegen die Diktatur verstanden wird. Er wird wegen spöttischer Bemerkungen über Nazi-Bonzen vorübergehend aus der Hitlerjugend ausgeschlossen. 

Die prägenden Jahre

Mit 19 Jahre macht Opa Abitur. Und nach einem Jahr Reichsarbeitsdienst wird er Soldat der Wehrmacht. Er wird zum Funker ausgebildet und verbringt die meiste Zeit des Krieges als Bordfunker in Aufklärungsflügen an der Ostfront. Zwar wird er dadurch niemals direkt in Kämpfe verwickelt, jedoch durchleidet er Todesängste bei manchen Starts und Landungen unter feindlichem Artilleriefeuer. Durch seine Arbeit hat er genaue Informationen über die Frontverläufe und auch über die sowjetischen Reserven im Hinterland. Für ihn steht daher bereits vor Stalingrad fest, dass dieser Krieg für Deutschland verloren ist.

Bei einem „20er Jahrgang“ ist für alle Nachgeborenen wichtig, wie die 12 Jahre der Nazi-Diktatur erlebt und überstanden wurden. Dies gilt sicher besonders in einer Familie, in der Opas Urenkel auch solche Vorfahren haben, die Holocaust-Überlebende sind oder als Kommunisten 12 Jahre in Gestapohaft und Konzentrationslager verbracht haben. Opa war sicher kein Widerstandskämpfer. Aber seine tiefe Frömmigkeit, seine konservative Grundhaltung, seine geradezu „preußische“ Standhaftigkeit und schließlich sicher auch eine Portion Glück haben ihn davor bewahrt, in diesen 12 Jahren besondere Schuld auf sich zu laden.

Er ist 24 Jahre alt, als sein Leben und seine Erinnerungen prägende Ereignisse eintreten. Er ist mit seiner Einheit in seiner Lieblingsstadt Dresden, als diese Stadt vom 13. bis 15. Februar 1945 in insgesamt vier Angriffswellen untergeht. Die meisten seiner Kameraden sterben durch den Volltreffer auf einen Bunker, während Opa auf den Elbwiesen Bombardierung und Feuersturm überlebt. Ende März betritt er dann erstmals wieder seine Heimatstadt Würzburg, die kurz zuvor, am 16. März 1945, bei einem kaum 20minütigen Angriff komplett zerstört worden war.

Von den rund 100 Abiturienten des Abiturjahrgangs 1939 am Würzburger Alten Gymnasium kamen fast 50 nicht aus dem Krieg zurück. Man kann sich das Leiden und die Gefühlswelten der damaligen jungen Generation heute nicht mehr vorstellen. Opa hat sein Überleben auf ein Marienbild zurückgeführt, das er während des Kriegs um den Hals getragen hat.

Die Gefühle und Hoffnungen gläubiger Christen in diesen letzten Kriegsmonaten hat wohl niemand besser ausgedrückt als der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, seine letzte theologische Schrift vor seiner Ermordung im KZ Flossenbürg, hat er im Dezember 1944 in den Folterkellern des Reichssicherheitshauptamts in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße verfasst.

Entschuldigt das einfache Klavierspiel und meine dünne Stimme. Aber ich bin es meinem Vater einfach schuldig, jetzt im Alter von über 60 Jahren in dieser schönen Fassung von Siegfried Fietz über die mutmaßlichen Gedanken und Hoffnungen zu singen, die er als gläubiger Christ in seinen 20er Jahren in diesem schlimmsten aller Kriege gehabt haben mag.

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Neubeginn

Wie so oft im menschlichen Leben, so liegen auch in diesen Monaten des Jahres 1945 für Opa Untergang und Neubeginn dicht beieinander. Denn durch die Zerstörung des Würzburger Hauses muss seine Mutter Ida in ihr Stammheimer Elternhaus ausweichen. Und als er sich nach Entlassung aus amerikanischer Kriegs­gefangenschaft im Sommer 1945 dorthin begibt, lernt er bei einer letzten Rast im Hofgut Öttershausen seine spätere Frau Frieda Stühler kennen, unsere Mutter, Oma und Uroma. Man mag zu kontrafaktischen Geschichtsphantasien stehen, wie man will: aber ohne die Zerstörung Würzburgs würde es wohl uns als Nachkommen von Heinz und Frieda Krimmel nicht geben.

Jedoch ist die Begegnung in der Küche des Herrenhauses in Öttershausen eine zwar notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Bedingung für die spätere Verbindung. Erforderlich ist eine weitere ausgeprägte Eigenschaft Opas, nämlich seine außerordentliche Höflichkeit. Denn Dutzende von jungen Männern hatten aus den verschiedensten Gründen die Gastfreundschaft der Stühlers in Anspruch genommen. Doch Opa Heinz ist der einzige, der sich später mit einer Postkarte bedankt. Das dürfte neben Frieda auch ihren Vater Lorenz beeindruckt haben, hatte der doch 30 Jahre zuvor um die Gunst seiner Maria mit einem schier endlosen Schwall von recht eindeutigen Postkarten geworben.

Opas Höflichkeit hat sich übrigens bis in seine letzten Lebensmonate hinein erhalten. Alle seine Pflegerinnen haben berichtet, dass sie niemals zuvor einen derart höflichen Menschen betreut hätten. Opa blieb bis zu seinem Ende ein „Kavalier der alten Schule“. 

Beruf und Familie

Nach dem Krieg hat Opa in Erlangen Jura studiert. Durch Zufall erhielt er bereits in der Referendarzeit Kontakt zur nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung. Und so kam es, dass er schließlich sein gesamtes berufliches Leben als Finanzjurist dort verbrachte, zunächst in Wipperfürth und Erkelenz und ab 1964 in Köln. Zuletzt leitete er die beiden großen Finanzämter Bergisch-Gladbach und Köln-Außenstadt.

Obwohl schon seit 1951 verheiratet, zogen Oma und Opa erst nach der endgültigen Entscheidung für das Rheinland im Jahr 1957 in eine gemeinsame Wohnung. So kam es, dass Walter die ersten 5 Lebensjahre in Öttershausen verbringen durfte und eine sehr innige Beziehung zu Opa Lorenz und Onkel Ludwig entwickelte.

Die 34 Kölner Jahre waren für die Familie eine durchaus glückliche Zeit. Mit meiner Geburt waren wir bereits ab 1957 zu viert. Auch Opa schätzte Köln und seine Zutaten sehr: den Dom, den Rhein, den FC, den Karneval und – wenn auch in Maßen – das Kölsch. Daher war es für viele Nachbarn und Freunde völlig unverständlich, dass Oma und Opa nach insgesamt 41 Jahren im Rheinland die Zelte dort abbrachen und fort von Kindern und Enkeln nach Würzburg zogen, wo sie die weitaus geringere Zeit ihres Lebens verbracht hatten.

Doch eine besonders hervorstechende Eigenschaft war Opas „langer Atem“ im Hinblick auf investive Entscheidungen. Das zeigte sich nicht nur in seinem sehr konservativen Anlageverhalten auf dem Aktienmarkt. Dieser „lange Atem“ ist auch die Antwort auf die Frage, warum er bis in seine letzten Tage in seinem Haus verbleiben wollte und das Angebot auf Umzug in die von mir vorbereitete Etage in Nürnberg abgelehnt hat. Denn mit seinem Haus verbindet ihn eine am Schluss 63jährige Geschichte, die mehr als 30 Jahre ein Traum und danach 30 Jahre lang Realität war.

Schon 1955 erhielt er von seinem Bruder Robert den Hinweis, dass in Frauenland ein Grundstück zum Verkauf stand, das später einmal Bauland werden könnte. Damals fassten Oma und er den Entschluss, nach seiner Pensionierung im Jahr 1985 ein Haus für den Lebensabend auf diesem Grundstück zu bauen. So kauften Oma und Opa ein Grundstück für ein 33 Jahre später realisiertes Projekt, in dem sie dann weitere 17 bzw. 30 Jahre wohnten.

Das jetzt folgende zweite Lied, „Großer Gott, wir loben Dich“, hatte in unserer Familie eine ganz besondere Bedeutung. Wir sind ja zwischen 1959 und 1974 mehrmals im Jahr als Familie vom Rheinland nach Würzburg und Öttershausen gefahren. Und jedes Mal, wenn wir bei der Rückkehr von einer der Rheinbrücken aus die Domtürme sehen konnten, hat Opa dieses Lied angestimmt. Es geht auf einen der ältesten christlichen Hymnen, das „Te Deum“, zurück und ist eines der wenigen liturgischen Lieder, die in der gesamten Christenheit bei freudigen Ereignissen und bei Dankgottesdiensten gesungen werden. Opas reiches Leben und gnädiges Sterben ist sicher ein guter Anlass für Freude und Dank gleichermaßen.

Ihr könnt mitsingen zu der besonders schönen Fassung von der Papstmesse in Regensburg im September 2006. Zuvor erteilt Benedikt XVI dort den apostolischen Segen. In Verbindung mit diesem Segen, der grundsätzlich nur vom Papst, bei Sterbenden ausnahmsweise auch vom Priester erteilt werden kann, wird ein vollkommener Ablass der zeitlichen Sündenstrafen erteilt. Für Nicht-Gläubige übersetzt heißt das: die Zeit im Fegefeuer wird verkürzt. Opa hat diese Papstmesse damals im Fernsehen gesehen. Und mit der heutigen Wiederholung anlässlich dieser Aussegnungsfeier möchte ich ein Versäumnis nachholen, dass nämlich Opa das Sakrament der Krankensalbung wegen des Fehlens einer lebensbedrohenden Erkrankung zu Lebzeiten nicht empfangen hat. Dass der päpstliche Segen nunmehr nur noch seiner Asche gespendet werden kann und außerdem nicht live sondern als youtube-Konserve, ist zwar ein bisschen geschummelt, aber ich hoffe, dass es uns allen – ihn eingeschlossen – ein gutes Gefühl gibt.

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Freude und Trauer

Im Alter von 60 Jahren wurde aus Papa gleich ein zweifacher Opa. Hannah und Lorenz sind heute 37, Stefan und Katja 35 Jahre alt. Ich dagegen war 4 bzw. 6 Jahre alt, als meine beiden Großväter starben. Die vier Enkel konnten also über fast vier Jahrzehnte eine ganz eigenständige Beziehung zu Ihrem Großvater aufbauen. Ich denke, das war für beide Seiten, Großvater und Enkel, eine unschätzbare Erfahrung. Hannah und Katja werden das herbstliche Treffen zur Produktion des seit Oma Friedas Zeiten beliebten Quittengelees aus eigenem Gartenanbau sicherlich sehr vermissen.

Opa durfte schließlich auch noch die Geburt und die ersten Jahre seiner bisher drei Urenkel miterleben. Dem Urenkel das Händchen halten zu können, dürfte zu den größten Freuden des Alters gehören. Und bei Aviv und Noam hat der unglaubliche Altersunterschied von rund 94 Jahren gehörigen Respekt ausgelöst.

Allerdings lernte Opa auch die schmerzhaften Seiten seines hohen Alters kennen. Seine Freunde gingen einer nach dem anderen, seine geliebte Frieda verlor er nach 54 Ehejahren, und sein Sohn Walter verstarb viel zu früh im März vergangenen Jahres. Aber Opa hat auch im Alter einen Neubeginn nicht gescheut. 2008 hat er sich ein Herz gefasst und – 62 Jahre nach der letzten Begegnung – seine Jugendliebe Heli angerufen. Es folgten 10 Jahre inniger Freundschaft mit vielen wechselseitigen Besuchen. 

Der Altersrekordler

Opa hat den Altersrekord der Familie nochmals gesteigert. Sein Vater Urban wurde 76, seine Mutter Ida sogar fast 91 Jahre alt. Seine Schwester Trudl hatte wenige Jahre zuvor schon 97 Jahre erreicht, allerdings bei deutlich schlechterer Gesundheit. Und wir erinnern uns alle einige Jahre zurück: ein Alter von 95 bei guter Gesundheit, täglichem Frühsport und gelegentlichem Autofahren hatte es vor Opa in unserer Familie noch nicht gegeben.

Opa hat stets glaubhaft versichert, dass er niemals mit dem Erreichen eines solchen Alters gerechnet hatte. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich ihn 1980 bei seinem 60. Geburtstag gefragt habe, was er im Jahr 2000 mit 80 Jahren machen würde. Und er hat in voller Überzeugung geantwortet, da würde ihm „kein Zahn mehr weh tun“. Und er hat tatsächlich Recht behalten. Denn er hatte nicht nur im Jahr 2000, sondern sogar bis zu seinem Tod mit 98 Jahren noch alle seine natürlichen Zähne – und es hat ihm bis zum Schluss tatsächlich kein Zahn weh getan.

Das alles kontrastierte mit seiner über viele Jahre gepflegten persönlichen Einschätzung eines baldigen Ablebens. Legendär sind die jährlichen Wortwechsel mit seinem Sohn Walter, wenn es um die Planung des nächsten Geburtstages oder des nächsten Weihnachtsfests ging. Auf sein regelmäßiges „Ach, das erleb´ ich doch eh nicht mehr!“ antwortete Walters stets ungerührt: „Egal, wir kommen trotzdem!“

Opas „Rezept“

Mit zunehmendem Alter wurde Opa immer häufiger gefragt, wie man denn körperlich und geistig dermaßen fit bleiben könne. Nun, Opa hat mehr oder weniger intuitiv die großen vier grundlegenden Empfehlungen für ein langes Leben berücksichtigt: Soziale Kontakte, gesunde Ernährung, körperliche Fitness und mentales Training.

Opa hat stets besonderen Wert auf die Pflege sozialer Kontakte gelegt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie. Eine intensive lebenslange Freundschaft verband ihn mit seinem Studienkollegen Otto Voll. Auch seiner Studentenverbindung, der Markomannia, blieb er immer verbunden. Und die jährlichen Klassentreffen hat er so lange organisiert, bis außer ihm niemand anderes mehr hätte teilnehmen können.

Um sich gegen die opulente fränkische Küche, die über die Familie seiner Frieda auch bei den Krimmels Einzug gehalten hatte, einigermaßen abschirmen zu können, hatte er sich frühzeitig ein Magenleiden zugelegt oder es jedenfalls glaubhaft vorgetäuscht. Im Alter wurde dann der Hüttenkäse in Verbindung mit dem Quittengelee aus eigenem Gartenanbau zu seinem Lebenselixier. Mit dem Wein dagegen hielt er es wie mit der Schokolade: Wenig selbst konsumieren, dafür umso reichlicher verschenken.

Als junger Erwachsener hat Opa für die erste Mannschaft der Würzburger Kickers Fußball gespielt. Den Kickers blieb er lebenslang verbunden, ebenso dem Nürnberger Club, gegen den er zweimal spielen durfte. Später hielt er sich bis ins hohe Alter fit mit Wandern, Gartenarbeit und gymnastischen Übungen.

Und für seine geistige Fitness und sein hervorragendes Gedächtnis, das er bis in sein 99. Lebensjahr hinein erhalten konnte, gibt es einen durchaus religiös zu nennenden Grund: Denn Opa hat nicht nur unzähligen Menschen regelmäßig zum Geburtstag gratuliert, er hat vielmehr auch alle Angehörigen und alle verstorbenen Freunde stets namentlich in seine abendlichen Gebete eingeschlossen. Sein Neffe Peter hat das einmal das „Heinz´sche Memory“ genannt. Und da die Zahl der verstorbenen Freunde mit der Zeit deutlich anstieg, hatte sich Opa ein Memory ausgesucht, das mit zunehmendem Alter immer schwieriger wurde.

Erholung und Entspannung hat Opa zeit seines Lebens fast immer in oder nahe den Alpen gesucht. Viele Jahre war das Berchtesgadener Land sein bevorzugtes Ziel. In den letzten 10 Urlaubsjahren zusammen mit seiner Frieda war dann Hagnau am Bodensee sein Lieblings-Ressort. Übrigens auch deshalb, weil die lebenslange innige Freundschaft zu seinem Bundesbruder, dem Schweizer Pastor Alois Lautenschlager, ihn immer wieder auf die nahe Iddaburg im Sankt Gallener Toggenburg geführt hat.

Der Abschied

Es gibt nach meinem Verständnis vier grundlegende Szenarien für das menschliche Ableben:

  1. den plötzlichen und unerwarteten Tod, z.B. durch Unfall, Herzinfarkt oder Schlaganfall,
  2. das Abgleiten in eine mehr oder weniger lange Phase der Demenz, z.B. durch Morbus Alzheimer,
  3. eine schwere Erkrankung, insbesondere Krebserkrankung, die zu einem einigermaßen kalkulierbaren Ende führt, und
  4. den „klassischen“ Tod an „Altersschwäche“ nach einem zumeist langen Leben.

Die beiden ersten Wege, also plötzlicher Tod und Demenz, sind vor allem für die Angehörigen unangenehm, da ein Abschiednehmen kaum möglich ist. Im engeren Familienkreis haben wir bei Frieda im Jahr 2005 und dann bei Walter 2017 die dritte Variante erleben dürfen, als die engsten Angehörigen bei vollem Bewusstsein des Sterbenden wenige Stunden bis Tage vor dem Tod bewusst Abschied nehmen konnten. Bei Opa haben wir nunmehr das vierte Szenario erlebt: ein langsames Abschiednehmen über fast 18 Monate ohne Möglichkeit der Eingrenzung auf ein bestimmtes Ereignis. Natürlich haben wir gesehen, dass sich sein Abbau in den letzten Wochen beschleunigt hatte. Aber eine Prognose hat sich niemand zugetraut, auch sein Hausarzt nicht.

Ich habe mit Opa in den vergangenen 18 Monaten seit Beginn seiner Pflegebedürftigkeit wiederholt über den Tod gesprochen. Er hatte nichts Bedrohliches für ihn. Er hat ihn sich erstmals bereits 2005 nach dem Ableben seiner Frieda gewünscht. Im Frühsommer 2017 war er sich sicher, seinen 97. Geburtstag nicht zu erleben. Wir haben bereits damals alles Notwendige besprochen. Das Schicksal hat ihm dann noch weitere 16 Monate geschenkt.

Als Opas Pflegerin dann die überraschende Nachricht über Opas voraussichtlich baldiges Ableben am 18. Oktober gegen 17.30 Uhr absandte, befand ich mich in Paris und seine vier Enkel waren in Berlin, Tokyo, Luzern und Suderburg. Ich habe daraufhin sofort Lucie gebeten, von Nürnberg aus nach Würzburg zu eilen, da ich wusste, dass Opa sie sehr mochte. Als dann Opas Hausarzt kam und meinte, er würde sicher noch zwei bis drei Tage leben, haben alle Nachkommen beschlossen, am folgenden Freitag nach Würzburg zu kommen. Lucie habe ich dann kurz vor 20 Uhr per WhatsApp noch Folgendes mit auf den Weg gegeben: „Wenn du bei ihm bist, kannst du auch mit ihm reden, wenn er nicht mehr richtig ansprechbar ist. Sag ihm ruhig, dass im Laufe des Freitags erst ich kommen werde, dann auch noch Hannah, Stefan und Lorenz und später auch Katja.“ Wie sich wenig später gezeigt hat, ist dieser Nachricht bei Opas letzten Atemzügen eine ganz besondere Bedeutung zugekommen.

Denn Opa hat sich ein Lied ganz besonders für diese Aussegnungsfeier gewünscht. „Segne Du Maria“ war sein ganz persönliches Lieblingslied, mit dem wir – in einer Fassung der „Schwarzwaldfamilie Seitz“ – diese Feier beenden wollen. Die Wahl dieses Lieds ist nicht nur Ausdruck seiner großen Marienverehrung, die er ja mit Oma geteilt hat. Ich denke, dass er vor allem mit der dritten Strophe ganz innig für die Gnade eines guten Todes gebetet hat:  „Segne Du Maria, unsre letzte Stund! Süße Trostesworte flüstre dann Dein Mund. Deine Hand, die linde, drück das Aug uns zu. Bleib im Tod und Leben unser Segen Du!“

Und dieser Wunsch ist ihm wahrlich erfüllt worden. Ich muss zugeben, dass ich ergriffen war, als Lucie mir – in Unkenntnis dieses Lieblingslieds – berichtete, dass sie ihm unmittelbar nach ihrer Ankunft meine Nachricht über das baldige Eintreffen von Sohn und Enkeln ins Ohr geflüstert habe, dass er dann noch die Lippen zu etwas nicht Verständlichem bewegt habe, dass er kurz darauf aufgehört habe zu atmen und dass sie ihm dann die Augenlider geschlossen und gebetet habe.

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