Trauerrede für Walter Krimmel

Dr. Walter Krimmel und Bettina auf der Art Cologne 2016

Walter und Bettina bei der Art Cologne 2016

Erinnerung an Walter

Trauerrede anlässlich der Beisetzung von Walter Krimmel (08.07.1952 – 05.03.2017)
in der Grabeskirche St. Bartholomäus
Köln, 18. März 2017

von Lothar Krimmel

Wenn man den Bruder, den einzigen Bruder, in einem noch vergleichsweise jungen Alter verliert, dann ist das ein sehr schmerzhafter Einschnitt. Ich kannte Walter, solange ich denken kann, und deswegen ist sein Fortgang für mich immer noch eine täglich neue schmerzhafte Erfahrung. Wir haben uns in den langen Jahren unseres Berufslebens vielleicht gar nicht so oft gesehen, aber er war eben doch immer da und ein wichtiger Eckpfeiler in unserer Familie.

Ich habe in meinen ersten 14 Lebensjahren mit Walter ein gemeinsames Zimmer geteilt. Das war für ihn als dem über 4 Jahre Älteren sicher nicht immer einfach. Ohne dass ich ihn bewusst als Vorbild betrachtet hätte, bin ich Walter dann in vielen Dingen gefolgt. So habe ich nicht nur wie er Medizin studiert. Vor allem waren wir Zeit unseres Lebens durchgehend jeweils derselben politischen Richtung zugewandt, obwohl diese im Zeitverlauf kräftig changierte: Als junge Erwachsene waren wir stramme Sozialisten, was unsere unglücklichen Eltern seinerzeit insbesondere dem Einfluss der modernen christlichen Thesen von Pater Heribert zuschrieben.

Die Weisheit des Alters führte uns dann schließlich schon vor einigen Jahren gemeinsam ins liberal-konservative Lager. Aus dieser Warte heraus empfand Walter die aktuellen politischen Ereignisse als besonders spannend. Und er bedauerte auch in seinen letzten Lebenswochen sehr, dass er dies nicht mehr viel länger würde verfolgen dürfen.

Seine persönliche Trauer über die verkürzte Lebenszeit machte Walter in einer einfachen Rechnung deutlich: Als er mit 62 Jahren die Diagnose erhielt, waren aus seiner Erwartung von 80 plus x Jahren urplötzlich 64 plusminus x Jahre geworden, also eine Verkürzung um 90%, und ausgerechnet bezogen auf die Zeit, in der er zusammen mit Bettina ein glückliches Rentnerdasein genießen wollte.

Dass die „80 plus x“ keine allzu kühne Erwartung war, hatten die Lebensläufe unserer Vorfahren nahegelegt. Selbst unsere mit einer ganzen Reihe lebensverkürzender Erkrankungen belastete Mutter hatte die 80 Jahre deutlich überschritten. Und unser Vater versorgt sich bei geistiger und körperlicher Frische im 97. Lebensjahr noch selbst im eigenen Haus, auch wenn er schon seit dem 95. Lebensjahr nicht mehr selbst Auto fährt.

An dieser Stelle möchte ich der Bitte unseres Vaters nachkommen, ihn dafür zu entschuldigen, dass er nicht an dieser Trauerfeier teilnimmt. Trotz seines insgesamt erfreulichen Gesundheitszustands wäre die Anreise aus Würzburg und auch diese Trauerfeier selbst eine extreme körperliche und psychische Belastung für ihn. Er ist – wie jeder Vater – unendlich traurig über den Tod seines Sohnes und findet Trost insbesondere im Beistand seiner 94jährigen Partnerin, der vor einigen Jahren ein ähnlicher Schicksalsschlag widerfahren ist.

Die Trauer unseres Vaters um seinen Sohn Walter hat in unserer Familie eine sehr dramatische Vorgeschichte. Vor 62 Jahren, also im Alter von zwei Jahren, lag Walter in einer Würzburger Klinik aufgrund einer sehr schweren Erkrankung zwei Tage im Koma. Die Ärzte rechneten mit dem Schlimmsten und rieten unserem in Köln tätigen Vater, sich sofort in den Zug nach Würzburg zu setzen, wenn er Walter noch einmal lebend sehen wolle. Doch nur kurze Zeit nach Papas Eintreffen öffnete der Totgeglaubte die Augen und sprach die seither in unserer Familie legendären Worte: „Mama, A-A!“

Dieses Ereignis hat die Beziehung unseres Vaters zu Walter mit Sicherheit geprägt. Und es wird für ihn umso schmerzlicher sein, nunmehr 62 Jahre später tatsächlich den Tod des Sohnes betrauern zu müssen. Allerdings hat Walter unseren Vater zwar behutsam, aber durchaus konsequent auf sein vorzeitiges Ableben vorbereitet. Dabei mag es der Vater weniger als Trost, sondern fast schon als Vorwurf verstanden haben, wenn Walter ihm mit ironischem Unterton sagte: „Das hast Du nun davon, dass Du 96 Jahre alt werden musstest!“

Aber ich möchte hier nicht das gesamte Leben meines Bruders Revue passieren lassen. Ihr Alle habt Walter in einer jeweils einzigartigen Weise in Erinnerung. Und dass diese Erinnerung durchaus positiv besetzt ist, zeigt ihr dadurch, dass ihr so zahlreich an dieser Trauerfeier teilnehmt.

Ich werde meine weiteren Betrachtungen daher auf die letzten Lebensmonate meines Bruders beschränken, die sicher für ihn, aber auch für meine Erinnerung an ihn die wichtigsten sind und bleiben werden.

Denn wenn wir – bei aller Trauer – in diesen Tagen auch Trost und Genugtuung empfinden, so vor allem deshalb, weil Walter im Angesicht des Unausweichlichen seine wichtigsten Ziele vollständig erreicht hat. Er hat zum einen alles, wirklich alles, was ihm wichtig war, bis ins Detail regeln können. Damit meine ich nicht nur die zahlreichen weltlichen Dinge, sondern vor allem auch die ihm so überaus wichtigen spirituellen Vorbereitungen. Walter hat zum anderen bis auf die letzten zwei Wochen noch sehr viele genussvolle Monate in guter körperlicher Verfassung erleben dürfen. Und Walter hat schließlich seine letzten Tage und Stunden genau so verbringen können, wie er es sich in seinem von ihm so genannten „Best-Case-Szenario“ gewünscht hat.

Die letzten 36 Stunden sind die intensivsten, die ich von meinem Bruder in Erinnerung behalten werde. Am Samstagvormittag erhielt er von Pater Heribert, der seit 50 Jahren sein Seelsorger ist, das Sakrament der Krankensalbung. Walter hat mir dies als einzigartige spirituelle Erfahrung geschildert und war überaus dankbar, dass er es bei vollem Bewusstsein erleben durfte. Am Nachmittag hat er dann mich und meine Töchter empfangen. Er ist selbstständig vom Bett aufgestanden, hat sich in den Sessel gesetzt und nach einem sehr persönlichen und uns beide sehr bewegenden Gespräch ist er mit mir noch einmal sämtliche Formalitäten durchgegangen, um seinen Lieben einen möglichst reibungslosen Übergang seines weltlichen Besitzes zu ermöglichen.

Bei diesem Gespräch fiel mein Blick dann auf ein Exemplar der FAZ und ich fragte ihn: „Ah, Du lässt Dir die FAZ auch hierher ins Hospiz bringen?“ Daraufhin erhob er den belehrenden Zeigefinger, lächelte verschmitzt und sagte: „Ja, aber als Probe-Abo!“

Am darauffolgenden Sonntagvormittag haben dann Lorenz und Stefan von ihrem Vater intensiv Abschied nehmen können. Lieber Lorenz, lieber Stefan, trotz mancher Irrungen und Wirrungen in den Beziehungen zu Eurem Vater hat Walter Euch stets wissen lassen: Ihr Beide seid das größte Geschenk seines Lebens! Ein gut verdienender Pilot, der zwischen Brisbane, Abu Dhabi und Los Angeles hin und her tingelt, sowie ein leibhaftiger Diplomingenieur der RWTH Aachen, der jetzt in Luzern auch noch promoviert: Mehr hatte sich der stets um die Zukunft seiner Söhne besorgte Vater nicht erträumen können!

Kurze Zeit nachdem Lorenz und Stefan gegangen waren, gegen 12 Uhr, sagte Walter zu Bettina : “Es geht zu Ende!“ Es war die Zeit gekommen, die er – wie angekündigt – in sich gekehrt verbringen wollte. Das war die Zeit, in der er nur noch seine Frau Bettina um sich wissen wollte, die er so sehr geliebt hat und die ihm in guten und schlechten Zeiten eine so einzigartige Partnerin gewesen ist.

Walter hat den Prozess des Sterbens – gerade angesichts seiner festen, wenn auch keinesfalls konkreten Jenseitserwartung – wohl auch noch in diesen letzten Stunden als ein spirituelles Ereignis erlebt. Als nach einigen Stunden des Dämmerschlafs sich gegen 17 Uhr seine Atmung veränderte, trat Bettina an ihn heran, nahm seine Hand und sagte: „Es ist alles gut!“ Daraufhin drehte Walter leicht den Kopf zu ihr, öffnete seine Augen halb und hauchte mit seinem letzten Atemzug: „Ja!“

Es waren bei aller Trauer auch und vor allem diese letzten 36 Stunden seines Lebens, die uns Trost geben können. Walter hat trotz seines viel zu frühen Todes seine Ziele im diesseitigen Leben erreicht. Er hat dabei vor allem den Prozess des Sterbens, vor dem er sich durchaus gefürchtet hat, genau so kontrolliert, wie er es gewollt hat, aber wie es nicht vielen Menschen vergönnt ist.

Nach dem plötzlichen und völlig unerwarteten Tod seines engen Freundes Karl-Walter im vergangenen Jahr hat mir mein Bruder spontan am Telefon gesagt: „Ich bin sehr traurig, aber ich beneide ihn für diese Todesart.“ Damals hatte er nicht ahnen können, dass es ihm gelingen würde, sein Sterben praktisch bis zum Schluss entsprechend den eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Woody Allen hat einmal gesagt: „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte bloß nicht dabei sein, wenn es passiert.“ Das war definitiv nicht Walters Vorstellung. Er hat sich dem Prozess des Sterbens nicht verweigert, sondern diesen im Gegenteil aktiv gestaltet. Auch wenn die Vorbereitung fast zwei Jahre umfasste und sich der Prozess selbst glücklicher Weise letztlich auf zwei Wochen beschränkte.

Als jemand, der auch im Angesicht des Todes nur wenig dem Zufall überlassen wollte, hat Walter natürlich auch diesen einzigartigen Raum für die Trauerfeier und für seine letzte Ruhestätte selbst ausgewählt. Und ich denke, er hat uns nicht ohne Hintergedanken hier zusammenkommen lassen. Nämlich damit wir gemeinsam das erleben, was ein Motto dieser Grabeskirche ist: „Ein Ort des Gedenkens im Leben an die eigene Sterblichkeit“. Er selbst hat es mir gegenüber nach Besichtigung seines künftigen Urnenplatzes so ausgedrückt: „Selbst zu sehen, auf welch kleinem Raum man bald ruhen wird: das macht sehr demütig.“

Walter hat stets auf Studien verwiesen, dass bei seiner Erkrankung eine frühere Diagnose nur zu einer längeren Patientenkarriere führt, aber nicht zu längerer Lebenszeit. Doch diese Sichtweise ist umstritten. Und gerade weil ich ihn so vermisse, hätte ich mir sehr gewünscht, dass er die eigentlich lange überfällige Diagnose nicht über so viele Jahre verschleppt hätte. Erst nach der Diagnosestellung hat er im Rückblick erkannt, dass er über viele Jahre seine Marathons und 100km-Läufe bereits mit den Symptomen seiner Erkrankung absolviert hat.

Aber ich habe Walter natürlich dafür bewundert, wie souverän er in den knapp zwei Jahren nach der Diagnose sein Leben gestaltet hat. Dies war auch für einen Arzt, der über viele Jahrzehnte im beruflichen Alltag mit Kranken und Sterbenden zu tun hatte, nicht selbstverständlich. Ich habe dabei in ungewöhnlich intensiver Anschauung die Erkenntnis erleben dürfen, dass das Sterben zum Leben gehört. Denn gerade in seinem letzten Lebensjahr kamen Charaktereigenschaften zum Vorschein, die ich bei ihm so nicht kannte und die ich bewundere.

Ich denke, dass nur wenige Menschen in der Lage sind, nach einer solchen Diagnose, die ihm, wie er selbst sagte, „den Boden unter den Füßen weggezogen hat“, all die komplexen Herausforderungen derart konzentriert und umsichtig zu bewältigen: die notwendige und durchaus belastende Therapie, daneben die noch mehr als 12monatige Fortführung und schließlich Übergabe der Arztpraxis, die detaillierten Regelungen für seine Lieben, die Vorbereitung und gleichzeitig Tröstung der Angehörigen und natürlich die persönliche spirituelle Vorbereitung auf den unausweichlichen Abschied aus diesem Leben.

Wir haben im Restaurant Lichterfeld, wo wir uns im Anschluss zusammenfinden werden, einige Fotos ausgestellt, die ich von Walter in den vergangenen 12 Monaten gemacht habe. Wir haben uns bewusst auf diese letzten Monate beschränkt, weil seit der Diagnose ja bereits ein Jahr ins Land gegangen war und – wie Walter immer wieder betonte – im statistischen Durchschnitt bei seinem Krankheitsstadium nur ein weiteres Jahr an Lebenszeit verblieb. Doch egal ob bei der Art Cologne oder beim Besuch der Salzburger Festspiele: die Fotos zeigen bis zuletzt durchgehend den fröhlichen, liebenswürdigen, ja optimistischen Menschen, den wir in all den vorangegangenen Jahrzehnten erleben durften.

Auch deswegen ist es ein guter Wahlspruch, der nunmehr dauerhaft Walter´s Urnenplakette zieren wird: „Amor manet“: Die Liebe bleibt.

Walter hatte das große Glück, bereits im Diesseits seinen Frieden gefunden zu haben. Lasst uns hoffen, dass er nunmehr auch sein jenseitiges, ewiges Glück gefunden hat.

Walter und Bettina bei den Salzburger Festspielen 2016

Walter und Bettina bei den Salzburger Festspielen 2016