Irrweg Bürgerversicherung

ARZT & WIRTSCHAFT (2003)
Irrweg Bürgerversicherung

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Der von bestimmter Seite seit kurzem propagierte Begriff der „Bürgerversicherung“ erweist sich bereits auf den ersten Blick als sinnentstellender Euphemismus. Denn es ist nichts anderes gemeint als die staatlich verordnete Einheits- und Zwangsversicherung, die den einzelnen Zwangsversicherten für die gleichen Leistungen völlig unterschiedliche Beiträge abverlangt. Objekt einer solchen Bürgerversicherung ist – ganz im Gegensatz zu der sprachlich beabsichtigten Wirkung – nicht etwa der souveräne und mündige, sondern vielmehr der entmündigte und seiner Wahlfreiheiten beraubte Bürger.

Der Eifer, mit dem der verharmlosende Begriff der Bürgerversicherung von seinen Protagonisten derzeit verbreitet wird, erinnert ein wenig an die Bemühungen um das Einschwören auf die „Volksgemeinschaft“. Dabei wäre ein anderer Begriff aus der unseligen Zeit deutscher Geistesverwirrung besser geeignet, dieses Täuschungsmanöver zu entlarven: Bürgerversicherung bedeutet Gleichschaltung – nämlich die Gleichschaltung der deutschen Krankenversicherung. Die massiv betriebene semantische Inthronisierung der Bürgerversicherung ist daher das Ergebnis eines kühl kalkulierten politischen Zynismus. Die Bürgerversicherung sollte somit beste Chancen haben, zum Unwort des Jahres 2003 gekürt zu werden.

Denn eine Gleichschaltung der Krankenversicherung hätte unabsehbare Folgen für das Gesundheitswesen und den sozialen Frieden in Deutschland. Die Zwangsversicherung würde das gewachsene Gesicht der GKV radikal verändern. Vom Selbstverständnis einer sozialethisch begründeten Schutzgemeinschaft derjenigen, die im Krankheitsfall vor finanzieller Überforderung bewahrt werden sollen, hin zu einer staatlich legitimierten Umverteilungsbürokratie, in die auch diejenigen zwangsweise einbezogen werden, die einen solchen „Schutz“ weder wollen noch brauchen. Bereits hieraus ergibt sich die Verfassungswidrigkeit dieses gesundheitspolitischen Irrwegs.

Eine Bürgerversicherung im Gewand der heutigen GKV, in welcher die einzelnen Versicherten für die gleichen Leistungen völlig unterschiedliche, um ein Vielfaches auseinanderklaffende Beiträge zahlen müssen, hat ein klar vorherzusagendes Schicksal: Sie verkommt zu einem Anbieter mit minimalem Leistungskatalog, also im wahrsten Sinne zur „Holzklasse“ der Gesundheitsversorgung. Denn die neu hinzugewonnenen Zwangsversicherten werden sich dagegen zur Wehr setzen, mit ihren hohen Beiträgen auch solche Leistungen zu finanzieren, die außerhalb der großen, unbeeinflussbaren Lebensrisiken liegen.

Die Diskussion um die Ausgliederung der Kosten für Zahnersatz ist in dieser Hinsicht nur ein leichtes Vorgeplänkel. Unter den Rahmenbedingungen einer allgemeinen Zwangsversicherung wird diese Debatte auch vor vermeidbaren Krankheiten wie AIDS und Lungenkrebs nicht halt machen. Die „richtige“ Versorgung spielt sich dann zunehmend im Bereich privater Zusatzversicherungen ab. Eine Bürgerversicherung führt daher unweigerlich in die knallharte Zwei-Klassen-Medizin.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Irrweg Bürgerversicherung  – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 08/2003

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