Bei Anruf Paxlovid: Wird Lauterbach auch diesen Skandal politisch überleben?

Tichys Einblick (2022)

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med Lothar Krimmel seit 2019

Ein potenziell tödliches AIDS-Medikament soll mit aller Macht bei Älteren vermarktet und deren Hausärzte sollen zu Erfüllungshilfen degradiert werden. Welche Interessen treiben den Gesundheitsminister? Die Sorge um das Wohl der Patienten kann es jedenfalls nicht sein.

Auf Twitter hat der zum Bundesgesundheitsminister aufgestiegene Selbstvermarkter Karl Lauterbach vor wenigen Tagen zu einem auch für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Doppelschlag gegen die Patientenversorgung und gegen den Arztberuf ausgeholt.

Am 21. August schrieb er:

„Weiterer Tipp für Ältere oder deren Kinder/Freunde: wenn Symptome und Schnelltest eindeutig kann der Hausarzt per Anruf die COVID Diagnose stellen. Hausärzte sind dafür Profis. Auf telefonische Verordnung kann dann der Bote das Medikament vorbei bringen. Das kann Leben retten.“

Am 25. August legte er dann nach:

„In Deutschland wird COVID Medikament Paxlovid viel zu selten eingesetzt. Es könnte vielen das Leben retten. Daher wird Verschreibung jetzt einfach: Anruf beim Arzt mit Test und Symptomen, dann kann Bote kommen. Oder Gang zum Arzt: der händigt Paxlovid aus.“

Man muss sich das zentrale Anliegen beider Tweets auf der Zunge zergehen lassen, um die Dimension des Verstoßes gegen das Patientenwohl und gegen die Prinzipien ärztlichen Handelns ermessen zu können: „Anruf beim Arzt mit Test und Symptomen, dann kann Bote kommen.“

Potenziell tödlicher Wirkstoff aus der AIDS-Therapie

Paxlovid ist ein modernes antivirales Kombinationspräparat. Der Hauptwirkstoff Nirmatrelvir ist ein sogenannter Protease-Inhibitor und stört die Funktion eines bestimmten Enzyms, welches das Corona-Virus zur Vermehrung benötigt. Der aus der AIDS-Therapie bekannte Nebenwirkstoff Ritonavir verlangsamt den Abbau des Hauptwirkstoffs in der Leber, so dass dieser ausreichend lange im Körper gegen das Virus wirken kann.

Es ist unbestritten, dass Paxlovid einen erheblichen Fortschritt in der Covid-Therapie darstellt. Aber:

  • Die Vorteile zeigen sich offenbar nahezu ausschließlich bei älteren und ungeimpften Risiko-Patienten.
  • Es verfügt in Europa bislang lediglich über eine vorläufige (bedingte) Zulassung, so dass mögliche Langzeit-Schäden noch nicht beurteilbar sind.
  • Es hat – wie auch viele andere AIDS-Medikamente – zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen.
  • Und vor allem: es weist eine schier unendliche Anzahl von teils potenziell tödlichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten auf.

Weitere bekannte oder vermutete Nachteile sind:

  • Rebound-Effekte, also ein Wiederaufflammen der Infektion nach Absetzen des Mittels (bekanntes Beispiel: Joe Biden),
  • Resistenzentwicklungen bei unkritischem Einsatz,
  • Verhinderung eines Trainings des Immunsystems,
  • Störung anderer Entgiftungsprozesse insbesondere in der Leber.

Abgesehen von potenziellen Langzeitschäden durch den noch wenig bekannten Hauptwirkstoff besteht das Problem der Paxlovid-Verordnung in der ungeheuren Zahl von Wechselwirkungen des Nebenwirkstoffs Ritonavir. Diese sind der durch Ritonavir bewirkten unspezifischen Abbau-Hemmung in der Leber geschuldet, von der auch zahlreiche andere Substanzen betroffen sind, die sich dadurch in gefährlicher Konzentration im Körper anreichern können.

Schon der „Wechselwirkungs-Check“ des Herstellers Pfizer ist nicht geeignet, Vertrauen in die von Lauterbach empfohlene telefonische Abwicklung eines derart komplexen Entscheidungsprozesses zu wecken. Auch auf der Webseite des RKI befindet sich eine ellenlange Liste von Substanzen, deren Aufführung ausdrücklich als lediglich beispielhaft dargestellt wird. Zur „Gebrauchsanweisung“ werden in Fettdruck nach zahlreichen Hinweisen unter anderem folgende Empfehlungen gegeben:

„Aus diesen Gründen ist es essentiell, vor dem Einsatz von Paxlovid die aktuelle Komedikation als auch Drogen- und Genussmittelkonsum genau zu erfragen und auf mögliche Wechselwirkungen mit Ritonavir ausführlich zu prüfen.“

„Eine Rücksprache mit dem mitbehandelnden Facharzt oder mit einem in der Anwendung von Ritonavir erfahrenem HIV-Spezialisten wird dringend angeraten.“

Verrat an Grundsätzen des Arztberufs

Und das alles soll nach Lauterbachs Vorstellung der Hausarzt während eines Telefonats mit dem Patienten oder dessen Angehörigen erledigen, bevor er den Boten ohne Verifizierung der geschilderten Symptome und Testergebnisse mit dem Paxlovid in dessen Haus oder ins Pflegeheim schickt.

Der erste Richter, der einen auf diese Weise provozierten Patientenschaden zu verhandeln hat, dürfte den dafür verantwortlichen Arzt mit allem Recht fragen, ob dieser noch bei Sinnen war, als er mit einem gegen jede ärztliche Sorgfaltspflicht verstoßenden Procedere ein derart gefährliches Arzneimittel freigegeben hatte. Der Hinweis auf die allgemeine Empfehlung, dass mit einer Paxlovid-Behandlung innerhalb von fünf Tagen nach einer bestätigten Covid-Diagnose begonnen werden sollte, wird diesen Arzt jedenfalls nicht retten können.

„Primum nil nocere!“, also: „Vor allem nicht schaden!“, lautet ein elementarer Grundsatz des Hippokratischen Eids, dem jeder Arzt verpflichtet ist. Die beiden skandalösen Paxlovid-Tweets des Gesundheitsministers zielen offenbar darauf ab, diesen Jahrtausende alten ärztlichen Leitsatz zu pulverisieren.

Dabei scheint der Umfang des Paxlovid-Einsatzes schon auf ganz natürliche Weise begrenzt zu sein. Denn wer sich als Senior in den vergangenen 20 Monaten standhaft den diversen Impfkampagnen verweigert hat (und vor allem für diese Gruppe ist der Nutzen belegt), dürfte nicht leicht von der Notwendigkeit einer Paxlovid-Einnahme zu überzeugen sein. Und selbst wenn, wofür es derzeit keine belastbaren Anhaltspunkte gibt, eine reale Unterversorgung mit Paxlovid in Deutschland vorliegen sollte: Mit dem Aufruf zum unkontrollierten Konsum dieses Medikaments kann man jedenfalls nicht darauf reagieren.

Anstiftung zum Chaos in den Hausarztpraxen

Doch es bleibt in Lauterbachs Welt nicht bei der sorglosen Konsum-Empfehlung potenziell tödlicher Substanzen. „Weiterer Tipp für Ältere oder deren Kinder/Freunde“ stellt der von allen guten ärztlichen Geistern verlassene Minister seinem Werbe-Tweet voran. Mit anderen Worten: Wenn der Senior selbst keine Lust hat, den Arzt zum Einsatz von Paxlovid zu drängen, dann sollen das gefälligst deren Kinder und Freunde (sic!) übernehmen.

Selbst ein „Arzt“ wie Karl Lauterbach, der wohl niemals auch nur einen einzigen Patienten eigenverantwortlich behandelt hat, sollte wissen, in welches Chaos er mit solch absurden „Tipps“ die ohnehin überlastete hausärztliche Versorgung treibt. Diskussionen mit Kindern und „Freunden“ von Patienten über die hochkomplexen Überlegungen zum Paxlovid-Einsatz sind jedenfalls das letzte, was die am Limit kämpfenden Hausärzte gebrauchen können.

Und natürlich wird der Aufruf zum Sturm auf die Hausarztpraxen dazu führen, dass viele „Freunde“ mit ihren Forderungen nicht lange fackeln und nach dem Motto „Viel hilft viel“ den Stoff auch für solche Patienten einfordern, die von Paxlovid nach der Studienlage überhaupt nicht profitieren und stattdessen mit schweren, eventuell tödlichen Komplikationen des Paxlovid-Konsums rechnen müssen.

Alle, die Donald Trump als den verrücktesten Twitterer aller Zeiten ausgemacht haben, dürften noch keine Tweets von Karl Lauterbach gelesen haben. Das „Karlozän“ hat das Anthropozän jedenfalls innerhalb der Twitter-Blase schon jetzt auf einen einsamen erdgeschichtlichen Höhepunkt getrieben.

Die Interessen des Ministers

Gut: Mit dem Heilmittelwerbegesetz und dem ärztlichen Berufsrecht wird man Lauterbach nicht belangen können, solange das Vorliegen eigener wirtschaftlicher Interessen nicht nachzuweisen ist.

Erkennbar sind zunächst insbesondere die politischen Interessen, um die es Lauterbach geht. Denn wie schon bei den Corona-Impfstoffen hat er wieder einmal in großem Stil beim Pharma-Riesen Pfizer eingekauft: diesmal sage und schreibe 1.000.000 Behandlungseinheiten Paxlovid mit Marktpreisen jenseits der 500 Euro. Nach einem halben Jahr waren davon weniger als 3 Prozent abgerufen, so dass der Vorwurf der erneuten Verschwendung von Steuergeldern zugunsten desselben Pharmakonzerns nur noch eine Frage der Zeit war.

Dem hat Lauterbach jetzt vorgebeugt, indem er Zehntausende von Hausarztpraxen und zudem die Alten- und Pflegeheime mit „Notfallpaketen“ an Paxlovid ausstatten ließ. Doch damit nicht genug: Parallel rührt er die Werbetrommel und lockt die Ärzte mit einem Handgeld von 15 Euro je abgegebener Packung.

Auch Der Spiegel ließ sich bereitwillig vor den Werbekarren spannen und wertete die Zurückhaltung von Hausärzten bei der Verordnung des AIDS-Mittels bei hochbetagten und multimorbiden Patienten als „Paxlovid-Skandal“. Dabei ist nicht etwa die sachgerechte Abwägung in den Hausarztpraxen der Skandal, sondern das unverantwortliche Puschen seitens des Gesundheitsministers.

Auch wenn viele Ärzte inzwischen aus Prinzip das Gegenteil von den Empfehlungen ihres „Kollegen“ Minister machen: Bei Paxlovid dürfte Lauterbach die Hausärzte mit dem Handgeld von 15 Euro je Packung und der zusätzlichen Drohung mit den „Freunden“ der Patienten auf Linie gebracht haben.

Nur durch Corona aus der Versenkung aufgetaucht

Das Paxlovid-Chaos macht auch einmal mehr das strukturelle Defizit der deutschen Gesundheitspolitik in der Lauterbach-Ära deutlich. Denn natürlich ist dem talentierten Selbstvermarkter bewusst, dass er nur durch das Corona-Thema aus der politischen Versenkung an die mediale Oberfläche gespült wurde. Dieses „Erfolgsrezept“ will er unbedingt perpetuieren und ist daher an allem interessiert, was dieses Thema befeuert.

Dass es ihm dabei in keiner Weise um Patienteninteressen geht, zeigt die mit seiner „Coronomanie“ verbundene massive Vernachlässigung anderer Herausforderungen des Krankheitsgeschehens. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Derzeit sterben in Deutschland pro Tag knapp 3.000 Menschen, davon etwa 100 „mit Corona“. Angesichts der hohen Prävalenz und der hohen Testdurchdringung gerade in Krankenhäusern dürften somit täglich maximal 50 Menschen „an Corona“ sterben.

Gleichzeitig sterben jedoch jeden Tag etwa 50 Frauen nur am Mammakarzinom, also an Brustkrebs. Schon bei dieser einen Krebslokalisation gibt es mannigfaltige spezifische Herausforderungen auch für die Gesundheitspolitik: von ungenutzten Präventionsmöglichkeiten über Defizite bei der Früherkennung und der genetischen Diagnostik bis hin zu Problemen bei der Implementierung moderner Konzepte zur personalisierten Medizin. Dennoch hört man vom Gesundheitsminister zu all dem: nichts! Von weniger häufigen Krankheiten gar nicht zu reden. Alle Herausforderungen jenseits der Corona-Blase werden von seinen monomanen Twitter-Salven erschlagen.

Doch Lauterbach vernachlässigt beim eitlen Tanz um sein vermeintliches Erfolgs-Virus nicht nur zahlreiche andere Krankheitsbereiche von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Mit der exzessiven Strapazierung des Corona-Themas entzieht er auch dem politischen System wichtige Ressourcen, die dann für die Formulierung und Durchsetzung essenzieller politischer Reformanliegen nicht mehr zur Verfügung stehen. Angesichts der derzeit enormen strukturellen Herausforderungen kann dies den Absturz des deutschen Gesundheitswesens in die Zweitklassigkeit besiegeln.

Die „Causa Lauterbach“ wird dem Kanzler auf die Füße fallen

Es ist so gut wie sicher, dass Lauterbachs erratisches, ja irres Agieren der Bundesregierung auf die Füße fallen wird. Warum also gibt der Bundeskanzler einem seit Jahren als monomanem politischem Autisten bekannten Selbstdarsteller weiterhin die Gelegenheit, mit einer rein privaten Agenda das deutsche Gesundheitssystem an die Wand zu fahren? Vielleicht weil er mit seinen eigenen Problemen zu sehr beschäftigt ist?

Der massive Einsatz des Gesundheitsministers für die maximale Vermarktung eines risikoreichen AIDS-Mittels bei hochbetagten Patienten ist jedenfalls derart auffällig, dass man es vielleicht nicht allein mit seinem Geltungsdrang erklären kann. Gibt es möglicher Weise auch private Interessen anderer Art?

Das sollte jedenfalls Gegenstand gezielter journalistischer Recherche sein. Eventuell zeigt sich der „Paxlovid-Skandal“ ja noch von einer bislang unbekannten Seite. Oder um es mit einer Analogie zum beliebten Schlusssatz wissenschaftlicher Arbeiten zu formulieren: Weitere Studien sind erforderlich, um das dubiose Verhalten des Gesundheitsministers auf mögliche geschäftliche Interessen hin zu untersuchen.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Bei Anruf Paxlovid: Wird Lauterbach auch diesen Skandal politisch überleben? In: Tichys Einblick, 02.09.2022

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