„In Zukunft kann die Patientenversorgung wieder im Mittelpunkt stehen“: Interview mit Lothar Krimmel

Forum für Gesellschaftspolitik (1997)

Die wichtigsten Regelungen der beiden Neuordnungsgesetze

Das 1. und das 2. NOG enthalten eine Vielzahl von Neuregelungen, die die Gestaltungsspielräume und die Finanzverantwortung der Selbstverwaltung erweitern und die Eigenverantwortung der Versicherten stärken. Dabei sind insbesondere folgende Maßnahmen vorgesehen:

  1. Anhebung bestehender Zuzahlungen um 5 DM bzw. 5 Prozentpunkte
  2. Koppelung von Beitragssatzanhebungen einzelner Krankenkassen mit Zuzahlungserhöhungen
  3. Außerordentliches Kündigungsrecht der Versicherten bei Beitragssatzerhöhungen und Satzungsänderungen
  4. Verbesserung der Härtefallregelung für chronisch Kranke
  5. „Partnerschaftslösung“ statt „Gestaltungsleistungen“
  6. Versichertenfinanzierte Satzungsleistungen
  7. Gestaltungsmöglichkeiten durch Beitragsrückerstattung, Selbstbehalt und Zuzahlungen
  8. Verbesserte Informationsrechte und Möglichkeit der Kostenerstattung für alle Versicherten
  9. Erweiterung von Modellvorhaben und Vertragsgestaltung
  10. Neuregelung der ärztlichen Vergütung
  11. Ablösung der Arznei- und Heilmittelbudgets durch Richtgrößen

Darüber hinaus werden mit dem 2. NOG neue Weichenstellungen in der zahnmedizinischen Versorgung vorgenommen und die Reform der Krankenhausversorgung durch die Erweiterung der Gestaltungsspielräume und Stärkung der Finanzverantwortung der Vertragspartner fortgesetzt. Im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung ist die Erweiterung der Prävention bei gleichzeitiger Begrenzung der Zahnersatzleistungen durch Festzuschüsse vorgesehen. Außerdem erhalten die Versicherten Ansprüche auf Kassenzuschüsse bei Hospizleistungen.

Bundesministerium für Gesundheit

Interview mit Dr. Lothar Krimmel

Wie bewerten Sie die 3. Stufe in der vom Bundestag beschlossenen Form?

Angesichts der äußerst ungünstigen Umstände für diese Reformarbeiten, insbesondere der Totalverweigerung seitens der SPD, ist es schon erstaunlich, daß für die wichtigsten Herausforderungen der Zukunft tragfähige Lösungsansätze geschaffen wurden. Da kann man es schon verschmerzen, daß die Koalition bei den ebenfalls sinnvollen Gestaltungsleistungen nicht zuletzt aufgrund des massiven Drucks der Krankenkassen eingeknickt ist. Die Krankenkassen dürften sich mit dieser Strategie im übrigen keinen Gefallen getan haben. Wer sich in öffentlichen Anhörungen dazu bekennt, dann verantwortungslos und gegen die Interessen der eigenen Versicherten zu handeln, wenn ihm hierzu Gelegenheit gegeben wird, der stellt gleichzeitig seine Kompetenz bei der sachgerechten Definition des medizinischen Versorgungsbedarfs in Frage.

Es ist im übrigen bedauerlich, daß angesichts der endlosen Diskussion um die Reform des EBM und die Einführung von Praxisbudgets die gute politische Arbeit der KBV in den Jahren nach Inkrafttreten des GSG innerärztlich kaum gewürdigt worden ist. Für die Ärzteschaft bedeutet es nichts Gutes, wenn sie die mit dem 2. NOG einhergehenden Perspektiven aus lauter Verstrickung in die kaum mehr nachvollziehbaren Details der Honorarverteilung überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Die Honorarverteilung bisheriger Prägung, also die Aufteilung einer begrenzten Gesamtvergütung auf immer mehr Ärzte und immer mehr Leistungen, ist nichts anderes als ein permanentes Konkursverfahren. Ich hoffe, daß die Entscheidungsträger in der Ärzteschaft mit diesem Konkursverfahren nicht zu sehr verwachsen sind und rechtzeitig die Perspektiven erkennen, die sich aus der Vereinbarung fester Punktwerte und der damit verbundenen Kalkulierbarkeit der ärztlichen Honorare ergeben.

Welche Akzente, Prioritäten und Probleme sehen Sie bei der Umsetzung?

Das 1. und das 2. GKV-Neuordnungsgesetz enthalten eine Fülle von Handlungsaufträgen für die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen. Aus meiner Sicht stehen dabei vier Bereiche im Vordergrund:

  • Die Überprüfung des Leistungskatalogs in der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere hinsichtlich der ärztlichen Leistungen (§ 135 Abs. 1 SGB V), der Heilmittel (§ 92 Abs. 6 SGB V) sowie der Arzneimittel;
  • die Neuordnung der kassenärztlichen Honorierung auf der Grundlage eines arztgruppenbezogenen Regelleistungsvolumens je Vertragsarzt unter gleichzeitiger Vereinbarung fester Punktwerte (§ 85 Abs. 2 SGB V);
  • die Ablösung anonymer Kollektivbudgets für Arzneimittel und Heilmittel durch arztgruppenspezifische Richtgrößen, die sich am tatsächlichen Versorgungsbedarf orientieren (§ 84 Abs. 3 SGB V);
  • die Entwicklung von „Managed Care“-Strukturen durch einvernehmliche Vereinbarungen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen auf der Grundlage einer freiwilligen Teilnahme von Ärzten und Versicherten (§ 73 a SGB V).

Die in diesen vier Bereichen enthaltenen gesetzlichen Optionen sind bereits deswegen gar nicht hoch genug einzuschätzen, weil sie einerseits zu einer Stabilisierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen, andererseits aber den Kassenärzten dabei durchaus auch Perspektiven eröffnen: In Zukunft kann die Patientenversorgung wieder im Mittelpunkt stehen.

Natürlich beinhalten die Chancen der neuen gesetzlichen Regelungen gleichzeitig auch gewisse Risiken. Eines dieser Risiken betrifft z.B. eine Abnahme der hausärztlichen Inanspruchnahme, wenn aufgrund einer deutlichen Erhöhung der Zuzahlungen künftig mehr als 20 Prozent der Arzneimittelverordnungen aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen entfallen. Wenn gleichzeitig aufgrund der Vereinbarung fester Punktwerte die bisher in den meisten Kassenärztlichen Vereinigungen bestehenden „Honorartöpfe“ für die Hausärzte aufgelöst werden, besteht durchaus die Gefahr, daß die hausärztlichen Einkommen noch weiter nach unten abrutschen. Dies wiederum könnte den Forderungen der Hausärzte nach Einführung eines Primärarztsystems Auftrieb verleihen. Die Fachärzte würden den sich dann abzeichnenden “Zwei-Fronten-Kampf” zwischen den nach Primärarztstatus drängenden Hausärzten und den auf die ambulante fachärztliche Versorgung zugreifenden Krankenhäusern nicht lange aushalten können. Aus diesem Grunde müßten gerade die Fachärzte ein hohes Interesse daran haben, daß die Stellung der Hausärzte im System der gesetzlichen Krankenversicherung – ohne Einführung eines Primärarztsystems – gefestigt wird.

Was die Ablösung der Kollektivbudgets für Arznei-und Heilmittel durch Richtgrößen angeht, befürchte ich, daß die Krankenkassen ähnlich kurzsichtig und perspektivlos wie beim Budgetmanagement vorgehen und die große Chance einvernehmlicher Richtgrößenvereinbarungen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen verstreichen lassen. Diejenigen KVen, die in den Richtgrößen das größere Übel sehen und daher lieber am Kollektivbudget festhalten wollen, können im übrigen beruhigt sein: Wenn sie sich hierin mit den Krankenkassen einig sind, wird sie niemand zwingen, die Budgets durch Richtgrößenvereinbarungen abzulösen. Die gesetzlichen Neuerungen in § 84 SGB V geben den Kassenärztlichen Vereinigungen lediglich die Möglichkeit an die Hand, die Ablösung im Zweifelsfall selbst erzwingen zu können. Doch auch für diejenigen, die beim Budget bleiben möchten, hat die gesetzliche Neuregelung wohl eine positive Seite: Die Krankenkassen werden angesichts der Wahl zwischen bequemen Kollektivbudgets und ungeliebten Richtgrößen voraussichtlich deutlich mehr als bisher bereit sein, Zugeständnisse im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Anhebung der Budgets zu machen. Ich frage mich allerdings, wie lange eine KV-Führung das Festhalten an Kollektivbudgets gegenüber ihren Kassenärzten wird durchhalten können.

Die Einzelheiten künftiger Richtgrößenvereinbarungen sind derzeit noch nicht absehbar. In der Ärzteschaft besteht wohl allerdings Übereinstimmung darin, daß das lange diskutierte „DreiteilungsmodeH“ nicht zum Zuge kommen wird, weil es weder politisch noch innerärztlich auf Konsens trifft. Im Ergebnis dürfte jedes Richtgrößenmodell jedoch innovative Therapieprinzipien eher fördern, zumal dann, wenn für besondere Versorgungsanliegen insbesondere im Bereich des unabweisbaren Behandlungsbedarfs bei schwerwiegenden Erkrankungen Zusatzbudgets formuliert werden.

Eine ganz besondere Option bei der Weiterentwicklung des Versorgungssystems sehe ich in der Ermöglichung von „Strukturverträgen“ im Sinne der Einführung „Managed Care“-artiger Versorgungsstrukturen auf der Grundlage des § 73 a SGB V. Ich prophezeie diesen Versorgungsformen auch in Deutschland eine große Zukunft, zumal unter den hier bestehenden Rahmenbedingungen einer solidarischen Krankenversicherung die in den Vereinigten Staaten festzustellenden Fehlentwicklungen mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden können. Im übrigen haben insbesondere die Jahre seit Einführung des Gesundheitsstrukturgesetzes zu einer massiven beruflichen Frustration der Kassenärzte geführt, so daß die entscheidenden Impulse für den Einstieg in neue Versorgungsformen gerade von den Kassenärzten selbst kommen werden. Mit dieser Entwicklung kommt auch eine neue Bewährungsprobe auf die Kassenärztlichen Vereinigungen zu: Packen sie die neue Vertragsoption in Kooperation mit den betreffenden Arztgruppen zielstrebig und geschickt an, so können sie die wirksame Vertretung kassenärztlicher Interessen mit einer qualitätssichernden Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung kombinieren. Verschlafen sie dagegen diese Chance oder versuchen sogar, aus der Kassenärzteschaft kommende Ansätze zu verhindern, so könnte sich die innerärztliche Legitimationsund Akzeptanzkrise der Kassenärztlichen Vereinigungen noch verschärfen.

Allerdings habe ich den Eindruck, daß die stärksten ärztlichen Kritiker des Kollektivvertragssystems zu den größten Nutznießern eben dieses Systems zählen. Viele Kassenärzte, die die schmerzhaften Folgen der Finanzierungskrise im Gesundheitswesen in Unkenntnis der gesundheitspolitischen Zusammenhänge auf die Kassenärztlichen Vereinigungen projizieren, haben offensichtlich noch nicht realisiert, was es heißt, in solch schweren Zeiten aus der trotz allem geschützten Umgebung des Kollektivvertragssystems in die „freie Wildbahn“ von Einzel- und Gruppenverträgen mit den Krankenkassen entlassen zu werden. Angesichts der klaren Wettbewerbsvorstellungen der Krankenkassen würden nach meiner Einschätzung bei einem vollständigen Systemwechsel in Richtung auf nicht von der Kassenärztlichen Vereinigung kontrollierte Einzel- und Gruppenverträge mindestens 10.000 Kassenärzte dies wirtschaftlich nicht überleben. Gerade weil hiervon auch eine große Zahl von qualitätsvoll und stark patientenorientiert arbeitenden Ärzten betroffen wäre, ist der Einstieg in Managed-care-Strukturen aus kassenärztlicher Sicht sinnvoll nur unter dem Dach der Kassenärztlichen Vereinigungen möglich.

Welche Faktoren werden nach Ihrer Meinung unser Gesundheitswesen in den nächsten Jahren bestimmen?

Die nächsten Jahre werden nach meiner festen Überzeugung einerseits geprägt sein von einem boomenden Gesundheitsmarkt, also einer weiter zunehmenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, sowie andererseits von einer dramatisch sich zuspitzenden Mittelverknappung in dem Teil des Gesundheitswesens, der von der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt wird. Den Krankenkassen wird durch das insuffiziente Wirtschaftswachstum, die steigende Arbeitslosigkeit sowie die zunehmende Problemati-sierung der Lohnnebenkosten die Einnahmeseite weiter wegbrechen. Da jedoch gleichzeitig durch unabänderliche demographische Entwicklungen sowie medizinische Innovationen bei unverändert hohem Anspruchsniveau der Bevölkerung immer mehr und immer teurere Gesundheitsleistungen auch in der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch genommen werden, können nur noch sehr einschneidende Maßnahmen dieses System überhaupt für eine weitere Reihe von Jahren über Wasser halten. Es wird sich nicht vermeiden lassen, sowohl die Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren als auch – da dies alleine nicht ausreichen wird – die Einnahmeseite zu stärken.

Welche Leistungen können denn heute ausgegrenzt werden?

Die Versicherten werden eine ganze Reihe von Ansprüchen abbauen müssen. Die sogenannten versicherungsfremden Leistungen im engeren Sinne – von der Empfängnisverhütung bis zum Sterbegeld – in einem Gesamtvolumen von 4 bis 5 Milliarden DM müssen kurzfristig in die Steuerfinanzierung überführt werden. Im Bereich der verordneten Leistungen halte ich z.B. die Massagen für nicht auf Dauer zu Lasten der GKV finanzierbar.

Auch im ärztlichen Bereich wird es zu Leistungsausschlüssen kommen müssen. Leistungen wie die regelmäßige Knochendichtemessung – Osteodensito-metrie – oder die künstliche Befruchtung dienen nicht der Krankenbehandlung, sondern gehören in die persönliche Bedürfnissphäre und sind daher nicht mit dem Auftrag einer gesetzlichen Krankenversicherung vereinbar. Auch alternative Methoden wie etwa die klassische Homöopathie, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nicht belegt ist, gehören nicht in eine gesetzliche Krankenversicherung. Ich glaube aber, daß eine solche Bereinigung des GKV-Leistungsangebots sowohl von den Patienten als auch von den Ärzten letztlich akzeptiert wird. Voraussetzung ist, daß diese Leistungen und Methoden in einem klar definierten Rahmen als individuelle Gesundheitsleistungen außerhalb einer gesetzlichen Krankenversicherung ange-boten und in Anspruch genommen werden können.

Und was sind Ihre Vorschläge für eine Anhebung der Einnahmeseite?

Ich meine, daß die Koalitionsfraktionen und insbesondere der Bundesgesundheitsminister auf dem absolut richtigen Weg sind. Vor allem im Hinblick auf die Durchsetzung höherer Zuzahlungen hat sich die deutsche Gesundheitspolitik bereits viel zu lange hinter dem Paradoxon aus dem „Hauptmann von Köpenick“ verschanzt. Dort hieß es: „Keinen Paß – keine Arbeit, keine Arbeit – keinen Paß!“ In der Gesundheitspolitik heißt das Dogma: Eine wirksame Selbstbeteiliguhg ist unsozial, eine sozial verträgliche Selbstbeteiligung ist unwirksam! Es ist das große persönliche Verdienst von Horst Seehofer, insbesondere mit dem 1. GKV-Neu-ordnungsgesetz dieses Ammenmärchen als solches entlarvt zu haben.

Wenn bekannt ist, daß 90 Prozent der Gesundheitsausgaben von nur 10 Prozent der Versicherten ausgelöst werden, so müssen aus dieser Erkenntnis die notwendigen Konsequenzen gezogen werden, wenn die GKV nicht vollends im finanziellen Chaos versinken soll. Es ist doch beileibe nicht so, daß diese 10 Prozent der Versicherten nur diejenigen Leistungen in Anspruch nehmen würden, die unbedingt notwendig sind. Auch kranke Menschen nehmen unsinnige oder überflüssige Leistungen von sich aus in Anspruch, so daß es durchaus Sinn macht, ihnen einen finanziellen Anreiz zu geben, sich bei der Inanspruchnahme auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Auf diese Weise kann auch eine sozialverträgliche Anhebung der Zuzahlung durchaus steuernde Wirkung haben.

Die Fundamentalisten im Kampf gegen eine höhere Selbstbeteiligung der Patienten verwenden gerne das „Totschlagargument“, wer schon das Pech habe, zu erkranken, der dürfe nicht auch noch finanziell bestraft werden. Diese Argumentation geht jedoch an der Sache vorbei: Die soziale Krankenversicherung hat die Aufgabe, insbesondere Schwerkranke und chronisch Kranke wegen der hohen Krankheitskosten vor dem sozialen Absturz zu bewahren. Aber es kann doch niemand ernsthaft behaupten, daß die von den Koalitionsfraktionen geplante höhere Zuzahlung zum sozialen Absturz führt, wenn selbst Schwerstkranke, deren Behandlung die Solidargemeinschaft pro Jahr mehrere Hunderttausend DM kostet, maximal 1 Prozent ihres Bruttoeinkommens an Zuzahlungen aufzubringen haben.

Ein großes Problem sehe ich allerdings darin, daß • mehr als 20 Millionen GKV-Mitglieder vollständig von Zuzahlungen befreit sind, so daß bei diesen „Versicherten“ der Anreizcharakter der Zuzahlung im Hinblick auf eine sparsame Inanspruchnahme der solidarisch aufgebrachten Mittel völlig entfällt. Auf diese Weise wird sich in Deutschland zunehmend eine „Zwei-Klassen-Medizin von unten“ etablieren, in der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose modernste Spitzenmedizin weitgehend beitrags- und zuzahlungsfrei in Anspruch nehmen können, während die finanziellen Träger des Solidarsystems, insbesondere also die freiwillig Versicherten, durch die hohen Selbstbeteiligungen zu immer größerer Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gezwungen werden. Dieses Problem wird sich zu einem Sprengsatz erster Ordnung für das Solidarsystem entwickeln: Bei rationaler Entscheidung wird den jungen, gut verdienenden freiwillig Versicherten, also den „besten Risiken“ der GKV, nichts anderes übrig bleiben als in die private Krankenversicherung zu wechseln. Damit würde die gesetzliche Krankenversicherung innerhalb kurzer Zeit ihre finanzielle Grundlage weitgehend einbüßen.

Welche Konsequenzen haben diese Entwicklungen für die Kassenärzte?

Die Ärzteschaft, und hier insbesondere die niedergelassenen Ärzte, werden sich in dem von mir eingangs erwähnten Spannungsfeld zwischen wachsendem Gesundheitsmarkt und begrenztem GKV-Sektor richtig positionieren müssen. Gerade wegen ihres natürlichen Schwerpunkts auf dem zunehmend belasteten GKV-Sektor werden die Kassenärzte alle Anstrengungen unternehmen müssen, um sich ein weiteres Standbein im Bereich der Gesundheitsleistungen außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verschaffen. Ich bin überzeugt, daß die Kassenärzte einem erheblichen Praxissterben nur dann werden entgehen können, wenn es ihnen gelingt, ihre Einkünfte aus privatärztlicher Tätigkeit in den nächsten 10 Jahren zu verdoppeln. Damit meine ich nicht etwa ein Mehr an Leistungen in der privaten Krankenversicherung, sondern vielmehr privatärztliche Leistungsund Serviceangebote gerade auch für gesetzlich Krankenversicherte.

In der gesetzlichen Krankenversicherung werden die Kassenärzte verhindern müssen, daß sie zu den Dauerverlierern der Gesundheitspolitik gehören. In Zeiten von Finanzierungskrisen werden die gesetzlichen Krankenkassen versuchen, mit dem geringsten Aufwand die größten Einsparungen zu realisieren. Das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 hat ihnen die Möglichkeit gegeben, die Kassenärzte an die Wand zu drängen und den Ausgabenanteil des ambulanten Sektors massiv zurückzufahren. Da ihnen in allen anderen Bereichen – vom Krankenhaus bis zum Krankengeld – die Hände gebunden waren und sie zudem durch aufwendige Marketing-Maßnahmen auch im Verwaltungsbereich viel Geld verbraucht haben, haben sie die im Verhältnis zu den Kassenärzten mit dem GSG bewirkte Verschiebung der Verhandlungsmacht konsequent zu ihren Gunsten genutzt. Die Krankenkassen haben damit die gescheiterte Kostendämpfungspolitik der Vergangenheit aus eigenem Antrieb fortgesetzt und die kostengünstige ambulante Versorgung zu Lasten der teuren, gesetzlich ungleich stärker geschützten Krankenhausversorgung abstürzen lassen.

Dies darf den Kassenärzten nicht ein weiteres Mal passieren. Für die Zukunft ist auf eine Wiederherstellung der Machtbalance im Verhältnis zu den Krankenkassen zu bestehen. Wenn dies erreicht ist, müssen auch in Verhandlungen mit den Krankenkassen die unbestreitbaren Vorzüge der ambulanten Versorgung im Verhältnis zur stationären Versorgung thematisiert und die notwendigen auch honorarpolitischen Konsequenzen eingefordert werden. Gelingt diese Trendwende nicht, werden die Kassenärzte selbst auf Dauer eine Interessenvertretung durch Kassenärztliche Vereinigungen in Frage stellen müssen, da ihnen nicht daran gelegen sein kann, zwangsweise in ein Kollektivvertragssystem eingebunden zu sein, in dem die Machtverhältnisse – Stichworte wie Punktwertverfall und Arzneimittelbudgets belegen dies – nahezu vollständig zugunsten der Krankenkassen verschoben sind.

Was halten Sie von der Behauptung der Krankenkassen, die Gesundheitsausgaben könnten um 25 Milliarden DM reduziert werden, wenn Einzel- und Gruppenverträge mit Ärzten außerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen möglich wären?

Diese Aussage ist ein trauriges Beispiel der Perspektivlosigkeit und Konzeptunfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Zum einen sind in dieser Rechnung unsinnige Posten wie etwa die Ausgrenzung von durchblutungsfördernden Mitteln und Venenmitteln aus der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten. Es handelt sich dabei um zugelassene Arzneimittel, auf deren Verordnung Zehntausende von gesetzlich Krankenversicherten Anspruch erheben. Wie paßt es zusammen, daß die Krankenkassen einerseits gegen Leistungsausgrenzungen polemisieren, andererseits aber selbst immer wieder ganz bestimmte Leistungsausgrenzungen, die den betroffenen Versicherten sehr weh tun werden, einfordern? Ich habe mich gerade in diesem Punkt auch stets gefragt, wie es sozialdemokratische Gesundheitspolitiker ausgerechnet ihrem ureigenenen Klientel, also dem pflegebedürftigen Rentner und der Beinschmerz-geplagten Verkäuferin, erklären wollen, daß es Sozialdemokraten gewesen sind, die die Entlassung der betreffenden Arzneimittel in die hundertprozentige Zuzahlung gefordert und ggf. durchgesetzt haben.

Soweit die Krankenkassen vorgeschlagen haben, Einzel- und Gruppenverträge mit Ärzten zuzulassen, widersprechen sie sich in demselben Forderungskatalog bereits wenig später. Dort fordern sie sogar noch die Ausweitung der Kollektivbudgets mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über Arzneimittel und Heilmittel hinaus auch auf Hilfsmittel und möglicherweise sogar auf die Krankenhausbehandlung. Wer einerseits die Abschaffung des Sicherstellungsauftrags der KVen und die freie Vertragsgestaltung mit Ärztegruppen verlangt, im selben Atemzug jedoch sogar für die Erweiterung der Budgetgarantie eben dieser Kassenärztlichen Vereinigungen eintritt, zeigt nicht nur eine erschreckende Konzeptlosigkeit, sondern verspielt auch seine Glaubwürdigkeit als ernstzunehmender Akteur bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens.

Es ist durch absolut nichts empirisch bewiesen, daß die Ablösung des Kollektivvertragssystems durch Ein-zel- oder Gruppenverträge zu einer qualitativen Verbesserung der Versorgung oder gar zu einer Kostenentlastung führen würde. Die wesentlichen Protagonisten dieser „Liberalisierung“ gehen mit den Begriffen „Markt“ und „Wettbewerb“ in bezug auf das Gesundheitswesen ebenso um wie im Hinblick auf Fernsehgeräte oder Lederwaren. Zudem wird im Anblick des neuen „Goldenen Kalbs“ des Wettbewerbs völlig vergessen, daß es in Deutschland gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen gibt, die unausgegorene Wettbewerbsmodelle sehr rasch ins Chaos führen können.

Wer z.B. in Deutschland ein Hausarztsystem einführen möchte und dabei etwa auf die guten Erfahrungen in Dänemark verweist, der übersieht, daß das Anspruchsniveau der deutschen GKV-Versicherten absolut einzigartig in der Welt ist und mit demjenigen der Dänen schon gar nicht verglichen werden kann. Und ein weiteres: Noch niemand aus der gesetzlichen Krankenversicherung hat erklären können, wie man mit Einzel- oder Gruppenverträgen die Verfassungswirklichkeit im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit und den Zulassungsanspruch des Arztes verändern und damit das Problem des weiteren Arztzahlanstiegs lösen kann. Vor dem Hintergrund aller dieser Fragen kann ich der gesetzlichen Krankenversicherung nur dringend empfehlen, von Alleingängen bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens Abstand zu nehmen und die Angebote der Kassenärztlichen Vereinigungen aufzugreifen, unter dem Dach des Kollektivvertrags Formen der Weiterentwicklung der kassenärztlichen Versorgung vor allem in Form der vernetzten Praxen zu erproben.

Andererseits glaube ich, daß die zunehmende Kluft zwischen den medizinischen Ansprüchen und dem Finanzierungspotential einer gesetzlichen Krankenversicherung zu Veränderungen unseres Gesundheitssystems führen wird, von denen wir uns heute noch gar keine Vorstellungen machen. Das Zusammenspiel der Anbieter und Nachfrager von Gesundheitsleistungen wird sich außerhalb des engen Korsetts einer gesetzlichen Krankenversicherung in den verschiedensten Varianten neue Freiräume erschließen. Die Akteure im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, ob nun Krankenkassen oder Kassenärztliche Vereinigungen, werden gut daran tun, diese neuen Formen des unmittelbaren Kontrahierens zwischen Leistungsnachfragern und Leistungsanbietern nicht zu behindern. Im übrigen ist diese Entwicklung in den Managed Care-Konzepten der gesetzlichen Krankenversicherung bereits angelegt: Managed Care bedeutet im Grunde nichts anderes, als die Leistungsanbieter über massiven wirtschaftlichen Druck zu zwingen, bestimmte Leistungen implizit auszugrenzen, für deren explizite Ausgrenzung weder beim Gesetzgeber noch bei den Krankenkassen der politische Mut vorhanden ist. Werden die ausgegrenzten Leistungen dann weiter nachgefragt – und davon ist jedenfalls in Deutschland auszugehen – so werden sie im direkten Vertragsverhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern erbracht werden müssen.

Welche Strategie verfolgen KBV und Kassenärztliche Vereinigungen bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens?

Dies ist eine äußerst schwierige Frage, vor allem deswegen, weil sich die deutschen Kassenärzte mit der Entwicklung und konsequenten Verfolgung einer auf gemeinsamer Analyse aufsetzenden Strategie für die Gesamt-Kassenärzteschaft sehr schwer tun. Diese strategische Schwäche ist nach meiner festen Überzeugung auch dafür verantwortlich, daß die Kassenärzte nach den guten siebziger Jahren nun bereits 15 Jahre mit permanenten Realeinkommensverlusten haben hinnehmen müssen, während sich andere Systempartner im Gesundheitswesen in dieser Zeit durchaus haben besser positionieren können.

Den Kassenärztlichen Vereinigungen sind aufgrund der Übertragung des Sicherstellungsauftrages vergleichsweise enge rechtliche Grenzen bei der Vertretung der Interessen der Kassenärzte gesetzt. Dies hat sich besonders drastisch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesundheitsstrukturgesetz im Jahre 1992 gezeigt. Dort sind der KBV die engen Aktionsspielräume im Vergleich zu privatrechtlichen Vereinen wie der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder gewerkschaftsähnlichen Verbänden wie dem Marburger Bund sehr schmerzhaft demonstriert worden. Das Fehlen einer Organisation, die nicht nur über die Manpower und das Know-how der KBV, sondern auch über den für ein breites politisches Wirken notwendigen Aktionsradius verfügt, hat mit zu dem für die Kassenärzte katastrophalen Gesundheitsstrukturgesetz geführt.

Das strategische Dilemma der Kassenärzteschaft hat sich schließlich insbesondere daran gezeigt, wie man mit den Erfahrungen aus der politischen Niederlage des GSG umgegangen ist. In Kenntnis des begrenzten politischen Aktionsradius ist seinerzeit nämlich von Repräsentanten der KBV und der Kassenärztlichen Vereinigungen die Idee der Gründung Vertragsärztlicher Vereinigungen geboren worden, die in Zeiten existentieller Herausforderungen als politisch ausgerichtete Schwesterorganisationen der Kassenärztlichen Vereinigungen Wirkung entfalten sollten.

Die Geschichte der Vertragsärztlichen Vereinigungen ist bekannt: In Verkehrung ihres Gründungszwecks versprechen sie heute bestenfalls eine „konstruktive Opposition“ zu den Kassenärztlichen Vereinigungen. Dies war im Grunde auch gar nicht anders zu erwarten, da es stets viel einfacher ist, sich dem leichten Terrain der „innerärztlichen Opposition“ zu widmen, als sich im äußerst komplexen Feld der Gesundheitspolitik mit diskussionsfähigen und praktikablen Vorschlägen nachweislich für die Interessen der Kassenärzte einsetzen zu müssen. Von der Idee, den Kassenärztlichen Vereinigungen über die Verbindung mit einer öffentlich-rechtlich nicht gebundenen Schwesterorganisation einen politisch aktionsfähigen Arm zu verleihen, ist die Kassenärzteschaft daher heute genauso weit entfernt wie bei der Entwicklung dieses strategischen Ansatzes vor 5 Jahren.

Auch die beiden großen ärztlichen Verbände, der Hartmannbund und der NAV Virchow-Bund, sind alles andere als schlagkräftige Sammelbecken für eine einheitliche Vertretung kassenärztlicher Interessen. Es hat sogar fast den Anschein, als trachteten beide Verbände danach, sich gegenseitig politisch zu neutralisieren. Man lese nur die Presseerklärungen der jüngsten Vergangenheit zum 2. GKV-Neuordnungsgesetz: Der Hartmannbund ist gegen Richtgrößen, aber für mehr Transparenz der ärztlichen Abrechnung; der NAV Virchow-Bund ist gegen mehr Abrechnungstransparenz, jedoch für Richtgrößen. Aufgrund der offensichtlich fehlenden Abstimmung von Presseerklärungen kann die Öffentlichkeit aus so widersprüchlichen Stellungnahmen nur den Schluß ziehen, daß die Kassenärzte mal wieder für alles und gleichzeitig gegen alles sind und daher am besten weiterhin nicht zur Kenntnis genommen werden.

Welche Organisationsstruktur von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen halten Sie für sinnvoll?

Ein ehemaliges Vorstandsmitglied der KBV hat es einmal so ausgedrückt: „Die kassenärztliche Selbstverwaltung kann genauso wenig funktionieren wie der sozialistische Staat: In beiden Fällen sind die Mitglieder die Eigentümer der Produktionsmittel!“ Diese ironische Überzeichnung hat durchaus einen ernsten Hintergrund, wenn man die Strukturen in manchen Kassenärztlichen Vereinigungen betrachtet. Nehmen Sie zum Beispiel eine KV mit einem 19köpfigen, völlig heterogen zusammengesetzten Vorstand und einer 140köpfigen Vertreterversammlung, die in monatlichen Sitzungen eigentlich immer nur ihren Beschluß aus der jeweils vorangegangenen Sitzung mit einer neuen Zufallsmehrheit umwirft: Da bedarf es nicht
einmal eines Organisationsgutachtens, um festzustellen, daß es sich hierbei um den Gipfel der strukturellen Desorganisation und Ineffektivität handelt. Ich frage mich ernsthaft, wie lange es sich die Kassenärzte noch bieten lassen, den Erhalt derart ineffizienter und ihren Interessen abträglicher Organisationsstrukturen zwangsweise finanzieren zu müssen.

Sogar strategische Anliegen werden in öffentlicher Sitzung im Beisein der Krankenkassen diskutiert. Der einzelne Vertreter, der einen Vorschlag macht, auch wenn dessen Annahme verhängnisvoll sein sollte, kann sich sicher sein, niemals hierfür zur Rechenschaft gezogen zu werden, da er stets in der Anonymität der Masse untertauchen kann. Dieses Prinzip der „Einflußnahme ohne Verantwortung“ ist nach nie bestrittener Erkenntnis der Organisationslehre letztlich tödlich für jedes Unternehmen. Man stelle sich nur einmal vor, BMW hätte die Entscheidung hinsichtlich der Übernahme von Rover nicht im Vorstand, sondern in der Aktionärsversammlung treffen wollen!

In diesem Zusammenhang muß auch ein Mißverständnis ausgeräumt werden: Der immer wieder geforderte Bezug von Entscheidungen der Selbstverwaltung zur sogenannten „ärztlichen Basis“ darf nicht so mißverstanden werden, daß dieser Bezug dann hergestellt ist, wenn möglichst viele Ärzte in Gremiensitzungen Zusammentreffen und an Entscheidungen beteiligt werden. Selbst den wesentlichen Protagonisten des Basisbezuges dürfte nicht entgangen sein, daß „die Basis“ in mindestens 30 bis 40 konkurrierende Interessengruppen mit jeweils unterschiedlichen ökonomischen und politischen Zielsetzungen aufgespalten ist. Die „Basis“ selbst ist auch nicht annähernd in der Lage, den für den Erhalt des Gesamtsystems und der Existenzfähigkeit der einzelnen Ärzte notwendigen Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen Gruppen herzustellen. Auch „die Basis“ muß sich daher mit der Erkenntnis auseinandersetzen, daß die Interessen der Gesamtärzteschaft und damit gleichzeitig auch die Interessen der meisten Einzelgruppen in einem System der Entscheidungsfindung auf der Basis der repräsentativen Demokratie besser aufgehoben sind als bei einem anarchischen Nebeneinander der unterschiedlichsten Interessen. Das Gefährliche für die politische Legitimation der kassenärztlichen Selbstverwaltung ist allerdings, daß es zwar kaum etwas Inhomogeneres gibt als „die ärztliche Basis“, daß diese „Basis“ sich jedoch in einem einig ist, nämlich darin, daß die jeweils spezifischen Interessen einzelner „Basisgruppen“ bei der Entscheidungsfindung zu wenig Berücksichtigung finden. Diese Problematik der „Basis“ zu vermitteln, gehört zu den schwersten politischen Aufgaben der Vorstände von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen.

Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß KBV und Kassenärztliche Vereinigungen nur mit einer grundlegenden Organisationsreform den Anspruch werden aufrecht erhalten können, die Interessen der Kassenärzte wirksam zu vertreten. Ich glaube auch, daß eine zunehmende Zahl von Kassenärzten bereit ist, das Selbstverwaltungsprinzip dahingehend zu modifizieren, daß auch solche Personen an der Organisationsspitze stehen können, die nicht selbst niedergelassene Kassenärzte sind. Das bisherige Prinzip der ausschließlich ehrenamtlichen Besetzung von Spitzenpositionen in der kassenärztlichen Selbstverwaltung muß unter den zunehmend komplexer werdenden Strukturen des Gesundheitswesens in die Irre führen und wird die Kassenärzte zwangsläufig mit Einbußen bei der politischen Durchschlagskraft bestrafen.

Einer Optimierung der kassenärztlichen Interessenvertretung abträglich ist insbesondere die Gepflogenheit, daß der KBV-Vorsitzende gleichzeitig auch Vorsitzender einer regionalen Kassenärztlichen Vereinigung ist. Dies ist weder rechtlich geboten noch kann es angesichts des überragenden Aufgaben- und Verantwortungsumfangs eines KBV-Vorsitzenden in der Sache sinnvoll sein. Es mag ja sein, daß die besten Kandidaten für den Vorsitz im KBV-Vorstand aus dem Kreis der Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigungen kommen; aber ähnlich wie ein Ministerpräsident im Falle der Wahl zum Bundeskanzler sein Ministerpräsidentenamt abgibt, scheint es sachlich geboten, den KBV-Vorsitz vom KV-Vorsitz zu trennen. Dabei ist im übrigen unbestritten, daß ein in diesem Sinne hauptamtlich ausgefüllter KBV-Vorsitz eine existenzsichernde Absicherung verlangt, wie sie im Bereich der Vorstände von Kassenverbänden ja bereits existiert.

Ich glaube deswegen, daß sich in der Kassenärzteschaft allmählich die Forderung durchsetzen wird, auch für die Reorganisation von KBV und KVen auf bewährte Strukturen der Unternehmensführung zurückzugreifen. Dabei kommt jedenfalls für die KBV insbesondere der drei- bis fünfköpfige, hauptamtliche, auf 6 Jahre gewählte Vorstand und der ehrenamtliche, aus den 23 KV-Vorsitzenden bestehende Aufsichtsrat als Diskussionsgrundlage in Betracht. Welche Person dann für 6 Jahre in den Vorstand oder zum Vorstandsvorsitzenden berufen wird, sollte sich ausschließlich nach der Qualifikation richten. Dabei ist nachrangig, ob z.B. ein charismatischer Kassenarzt, ein betriebswirtschaftlich ausgerichteter Spitzenmanager oder aber ein exquisiter Politprofi vom Schlage eines Horst Seehofer das „Unternehmen KBV“ leitet. Ich hoffe sehr, daß die kassenärztliche Selbstverwaltung die Kraft zu einer derartigen organisatorischen Erneuerung und Effizienzsteigerung aufbringen kann.

Sie selbst gelten bei manchen Krankenkassen als „Hardliner“. Kommen Sie mit dieser Einschätzung zurecht?

Ich bin nicht bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung tätig, um mein Harmoniebedürfnis zu befriedigen. In einem Gesundheitswesen, in dem die Spielräume für alle Beteiligten immer enger werden, ist es unvermeidlich, daß Auseinandersetzungen zunehmend konflikthaft geführt werden – jedenfalls dann, wenn man die eigene Position nicht von vornherein aufzugeben beabsichtigt. Selbstverständlich gibt es nach wie vor viele Dinge, die im Konsens, und nur im Konsens, zu regeln sind. Gerade bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens hätte ich mir ein stärkeres Zugehen der Krankenkassen auf die Kassenärzte als den entscheidenden medizinischen Weichenstellern im Gesundheitswesen gewünscht.

Ich glaube, daß die Krankenkassen in diesem Punkt in den letzten Jahren einen großen Fehler gemacht haben. Für keinen anderen Systembeteiligten haben sie die Spielräume – wenn auch auf gesetzlicher Grundlage – dermaßen eng gezogen wie für die Kassenärzte und damit für die ambulante Versorgung.

Im übrigen sind es die Krankenkassen gewesen, die in der politischen Auseinandersetzung gerade der letzten Monate des öfteren zum Mittel des Frontalangriffs gegen die Kassenärzte gegriffen haben. Bestes Beispiel hierfür sind die willkürlichen Existenzbedrohungen im Zusammenhang mit den exzessiv verschärften Arzneimittel- und Heilmittelbudgets. Noch stärker hat uns berührt, daß die Krankenkassen seit Beginn der Diskussion um eine 3. Stufe der Gesundheitsreform nachhaltig die Abschaffung oder zumindest das „Aufbrechen“ der Kassenärztlichen Vereinigungen fordern, und zwar nicht etwa im Sinne der vorhin angesprochenen Professionalisierung der kassenärztlichen Interessenvertretung, sondern ausschließlich zur noch weitergehenden Verschiebung der Machtbalance zu ihren Gunsten.

Ich glaube, daß die Krankenkassen mit diesen Aktionen eine Entwicklung beschleunigen, von deren Notwendigkeit ich ohnehin überzeugt bin, nämlich die gezielte Implementierung gewerkschaftlicher Strukturen in die Vertretung kassenärztlicher Interessen. Ob dies über eine stärkere Hinwendung von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen zu diesen Aufgaben erfolgt oder aber durch geeignete freiverbandliche Strukturen, ist eher zweitrangig. Tatsache ist nur, daß die Kassenärzte es verdienen, in diesen miserablen Zeiten über eine starke Interessenvertretung zu verfügen, die sich weder von im Existenzkampf um sich schlagenden Krankenkassen einschüchtern, noch von der Gesundheitspolitik an der Nase herumführen läßt.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: „In Zukunft kann die Patientenversorgung wieder im Mittelpunkt stehen“: Interview mit Lothar Krimmel. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), April 1997, S. 81-89

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