Kassenärzte stehen zu Unrecht unter Verdacht

Deutsches Ärzteblatt (1997)

Arzneimittelausgaben in Ostdeutschland

Die Halbjahresbilanz der Gesetzlichen Krankenversicherung scheint es einmal mehr zu beweisen: In den neuen Bundesländern kann bei den Arzneimittelausgaben kräftig gespart werden. Immerhin liegen die Ausgaben je Mitglied um 12,8 Prozent über dem Westniveau. Doch die Statistik hat Schwächen, wie der folgende Beitrag zeigt. Bei näherer Betrachtung bleibt von der vermeintlichen „Unwirtschaftlichkeit“ in den neuen Ländern nicht viel übrig.

Ausgabenvergleiche in der GKV beziehen sich in der Regel auf die (zahlenden) Mitglieder, während die mitversicherten Familienangehörigen unberücksichtigt bleiben. Dies gilt sowohl für den Vergleich zwischen den einzelnen Kassenarten als auch für die Analyse der Ausgabenverhältnisse in den alten und den neuen Bundesländern. Legt man nun die Ausgaben je Mitglied im ersten Halbjahr 1997 für eine solche Analyse zugrunde, so zeigt sich, daß die Arzneimittelausgaben in den neuen Bundesländern exakt auf der Höhe der entsprechenden Ausgaben in den alten Bundesländern lagen.

Wer dies als Beweis für „Unwirtschaftlichkeit“ heranzieht, da die durchschnittlichen Ausgaben je Mitglied für die Summe aller GKV-Ausgabenbereiche im ersten Halbjahr 1997 in den neuen Bundesländern nur 83,2 Prozent des entsprechenden Westwertes ausmachten, übersieht einen wesentlichen Aspekt: Die Arzneimittelausgaben sind der einzige Ausgabensektor der GKV, bei denen die Preise in West- und Ostdeutschland identisch sind. In sämtlichen anderen Bereichen – vom Krankengeld über die Heilmittel bis zu den Krankenhausausgaben – liegen die Preise in Ostdeutschland teilweise deutlich unter den entsprechenden Westwerten.

Mit anderen Worten: Im Arzneimittelbereich gibt es einen vollständigen Gleichstand zwischen den alten und den neuen Bundesländern – sowohl hinsichtlich der Preise als auch der Ausgaben je Mitglied. Aufgrund des geringeren Preis- und auch Ausgabenniveaus in den übrigen Leistungsbereichen führt dies dazu, daß der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Bundesländern mit 16,8 Prozent zwangsläufig höher sein muß als in den alten Bundesländern (13,7 Prozent). Dies ist jedoch ein ausschließlich statistischer Effekt, der keinesfalls Schuldzuweisungen an die ostdeutschen Kassenärzte begründen kann.

Sonderbedingungen

Ausgehend von identischen Verhältnissen bei Arzneimittelpreisen und Arzneimittelausgaben je Mitglied in Ost und West können nunmehr die abweichenden Bedingungen in den neuen Bundesländern analysiert werden. Dabei lassen sich folgende sechs Besonderheiten ausmachen:

  • ein niedrigerer „Familienquotient“ der GKV-Mitglieder,
  • eine geringere Bereitschaft zur Selbstmedikation,
  • ein höherer Anteil an Zuzahlungsbefreiungen,
  • ein höherer Anteil von Rentnern an den GKV-Mitgliedern,
  • ein geringeres Heilmittelvolumen,
  • eine höhere Mortalität und auch Morbidität.

Von diesen sechs Sonderfaktoren in den neuen Bundesländern läßt nur der erste im statistischen Sinne geringere Ausgaben im Ost-West-Vergleich erwarten, während sich die übrigen fünf Faktoren allesamt ausgabensteigernd auswirken. Der niedrigere Familienquotient in den neuen Bundesländern (nur 1,3 statt 1,4 mitversicherte Familienangehörige je Mitglied) wird überwiegend verursacht durch den höheren Erwerbsanteil der weiblichen Versicherten. Dies führt in der Tat dazu, daß die Arzneimittelausgaben beim Wechsel der Betrachtungsweise von „je Mitglied“ auf „je Versicherten“ im ersten Halbjahr 1997 bei 112,8 Prozent des entsprechenden Westwertes liegen. Dieser Aspekt wird jedoch durch die fünf gegenläufigen Sonderbedingungen der neuen Bundesländer weitgehend kompensiert.

Mehr Härtefälle im Osten

Von den ausgabensteigernden Faktoren in den neuen Bundesländern ist zunächst auf die deutlich höhere Quote an Zuzahlungsbefreiungen gemäß § 61 SGB V hinzuweisen. So waren im Jahre 1996 21 Prozent der Ost-Versicherten gegenüber nur 16 Prozent der West-Versicherten von Zuzahlungen befreit. Der hierauf bezogene Effekt auf die Ausgabenbelastung der Krankenkassen liegt in der Größenordnung von drei Prozent der mitgliedsbezogenen Ausgaben. Aufgrund der erheblichen Zuzahlungsanhebungen vom 1. Juli 1997 an werden sich die Zuzahlungsunterschiede in Ost- und Westdeutschland noch stärker als bisher auswirken, so daß sich sowohl die Ausgaben je Mitglied als auch die Ausgaben je Versicherten in den neuen Bundesländern deutlich von denen in Westdeutschland abheben werden.

Ein weiterer Aspekt aus dem Umfeld des niedrigeren Lohn- und Einkommensniveaus in den neuen Bundesländern betrifft die im Vergleich zu Westdeutschland geringere Bereitschaft zur Selbstmedikation. Während in den alten Bundesländern Selbstmedikations-Arzneimittel, die zum großen Teil in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen fallen, in der Größenordnung von 105 DM jährlich selbst beschafft werden, beträgt das Selbstmedikationsvolumen in den neuen Bundesländern lediglich 70 DM je Versicherten. Die hiermit verbundene Belastung der GKV-Arzneimittelausgaben in Ostdeutschland liegt in der Größenordnung von drei bis vier Prozent.

Hinzu kommt, daß der Anteil der Rentner an den GKV-Mitgliedern in Ostdeutschland mit 32,4 Prozent höher ist als in Westdeutschland (28,9 Prozent). Die Bedeutung dieses Umstandes wird bei Berücksichtigung des höheren Arzneimittelbedarfs der Rentner-Versicherten offensichtlich: Während die Arzneimittelausgaben eines Rentner-Versicherten im Durchschnitt bei zirka 1 090 DM pro Jahr liegen, belaufen sie sich bei den übrigen GKV-Mitgliedern auf lediglich rund 400 DM. Auch der Umstand, daß der höhere Rentner-Anteil in den neuen Bundesländern auf eine im Vergleich zu Westdeutschland deutlich größere Zahl von Frühverrentungen zurückzuführen ist, steht der Annahme eines ausgabensteigernden Effekts nicht entgegen. Die Frühverrentung ist nämlich ein geradezu klassisches Indiz für einen erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf auch in der Arzneimittelbehandlung.

Heilmittel nicht isoliert betrachten

Ein weiteres Spezifikum der neuen Länder betrifft die im Vergleich zu Westdeutschland deutlich geringeren Ausgaben für Heilmittel (insbesondere Krankengymnastik und Massagen). Wegen der teilweise möglichen gegenseitigen Substitution (etwa bei der Schmerztherapie) müssen Arzneimittel- und Heilmittelausgaben für einen Wirtschaftlichkeitsvergleich im Zusammenhang analysiert werden. Da die Heilmittelausgaben in den neuen Bundesländern auch im ersten Halbjahr 1997 nur bei 69,5 Prozent der entsprechenden Westwerte je Versicherten lagen, kann unter Berücksichtigung der Ausgabenrelation von Arznei- und Heilmitteln von 9 zu 1 ein belastender Effekt für die Arzneimittelausgaben in der Größenordnung von mindestens zwei Prozent angenommen werden.

Zu berücksichtigen sind schließlich die nach wie vor höhere Mortalität und Morbidität in den neuen Bundesländern. So beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in den neuen Bundesländern derzeit bei Frauen 78,2 Jahre und bei Männern 70,7 Jahre gegenüber 79,8 Jahren und 73,5 Jahren in den alten Bundesländern. Mit dieser geringeren Lebenserwartung ist eine höhere Morbidität verbunden, die – bei grundsätzlich vergleichbaren Behandlungsstandards in Ost und West – auch höhere Arzneimittelausgaben bedingt.

Einsparpotential fraglich

Soweit es Einsparpotentiale gibt, sind diese in den alten und den neuen Bundesländern gleichermaßen zu erschließen. Dabei muß stets analysiert werden, ob die gesetzlichen Rahmenbedingungen (zum Beispiel Positivliste, Informationsrecht der KVen, Abgabe von Reimport-Arzneimitteln) für eine Erschließung dieser vermeintlichen Reserven durch kassenärztliche Verordnungsweise überhaupt gegeben sind und ob ferner die hypothetischen Einsparreserven nicht durch einen ansonsten zu konstatierenden Verordnungsmehrbedarf aufgehoben werden. Zu diesem Mehrbedarf sind insbesondere die Kostenbelastung aufgrund der Verlagerung von der stationären in die ambulante Versorgung, die Innovationen auf dem Arzneimittelsektor, die demographischen Veränderungen sowie der in vielen Bereichen zu beobachtende Anstieg der Morbidität (zum Beispiel allergische Erkrankungen) zu zählen.

Darüber hinaus sind in zahlreichen Sektoren Versorgungsrückstände zu konstatieren, die auf eine erhebliche Kostenbelastung bereits in naher Zukunft schließen lassen. Allein in vier ausgewählten Bereichen (Diabetes mellitus Typ I und Typ II, Multiple Sklerose, chronische Hepatitis B und C sowie HIV-Erkrankung) würde die zusätzliche Ausgabenbelastung für die Gesetzliche Krankenversicherung bei vollständiger Therapieumstellung auf aktuelle Therapiestandards nach den Kriterien der „Evidence-Based-Medicine“ mehr als vier Milliarden DM betragen.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Kassenärzte stehen zu Unrecht unter Verdacht: Arzneimittelausgaben in Ostdeutschland. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 94, Heft 44, 31. Oktober 1997, S. A-2878 (26) – A-2879 (27).

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