Lauterbach bemüht den kategorischen Imperativ von Kant. Wer einem Menschen, der für sich selbst eine „aufgeklärte Entscheidung“ gegen eine Impfung trifft, eine unmoralische Handlungsweise unterstellt, kann sich niemals auf Kant berufen.
Am 13. Januar 2022 ließ sich Karl Lauterbach im Deutschen Bundestag zu einem moralphilosophischen Exkurs verleiten. Wörtlich sagte er: „Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs im Sinne von Immanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein.“
Diese Aussage ist sowohl sachlich als auch ethisch unhaltbar. Sie stellt zunächst einmal einen für einen Bundesgesundheitsminister ungehörigen Anschlag auf die Patientenrechte dar, die in dem 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtsgesetz kodifiziert wurden. In § 630e des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind seither die ärztlichen Aufklärungspflichten niedergelegt, die es dem Patienten ermöglichen sollen, eine „aufgeklärte Entscheidung“ hinsichtlich seiner Einwilligung zu medizinischen Maßnahmen zu treffen. Wer als Patient nach Abwägung aller Umstände die Entscheidung trifft, eine angebotene Impfung abzulehnen, kann schon deswegen niemals in ethischer Hinsicht verwerflich handeln.
Hier kommt wohl die bei vielen Impfdogmatikern derzeit grassierende Hybris ins Spiel, ein Ungeimpfter könne nur ein solcher Mensch sein, der nicht genügend über die Vorteile des Impfens aufgeklärt wurde. Das erinnert an das seit Jahrzehnten in der Ärzteschaft bekannte Bonmot, gesund sei nur, wer nicht ausreichend untersucht worden sei.
Tatsächlich handelt es sich bei der Corona-Impfung mit mRNA-Impfstoffen um die Injektion eines künstlich hergestellten genetischen Codes, der im Körper munter Proteine herstellt, die vor einer Infektion schützen sollen. Noch vor weniger als zwei Jahren bezweifelte die Mehrheit der Wissenschaftler, dass so etwas überhaupt funktionieren könne. Heute soll es ethisch verwerflich sein, einen solchen Eingriff in den Körper abzulehnen.
Auch der immer wieder bemühte Vergleich zwischen den Folgen einer Impfung und einer Erkrankung kann nicht überzeugen. Denn die Komplikation einer Erkrankung setzt eine tatsächliche Infektion voraus, die aber bei diesem Patienten vielleicht niemals eintritt. Mit der Komplikation einer Impfung dagegen muss der Patient immer rechnen, sobald er geimpft wurde. Letztlich gibt es also durchaus nachvollziehbare und somit „vernünftige“ Gründe für die individuelle Ablehnung einer Impfung, selbst wenn eine große Mehrheit diese Gründe gegenüber den möglichen Vorteilen einer Impfung für sich selbst als vernachlässigbar ansieht.
Dies führt von den Patientenrechten zum von Lauterbach bemühten kategorischen Imperativ, den Immanuel Kant in der 1785 erschienenen Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ formuliert hat. In der heute vielleicht am besten verständlichen Universalisierungsformel lautet dieser kategorische Imperativ wie folgt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Wer einem Menschen, der für sich selbst eine „aufgeklärte Entscheidung“ gegen die Annahme eines Impfangebots trifft, eine unmoralische Handlungsweise unterstellt, kann sich niemals auf Immanuel Kant berufen. Denn die „Maxime seines Willens“ war ja keineswegs etwa, der Gesellschaft zu schaden. Diese Maxime war vielmehr, unter Nutzung seiner Patientenrechte eine „aufgeklärte Entscheidung“ zu treffen und zudem das in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit in Anspruch zu nehmen. Die „Maxime des Willens“ eines solchen „Impfverweigerers“ ist daher moralisch unantastbar und in höchstem Maße vereinbar mit dem kategorischen Imperativ. Karl Lauterbach hat also Immanuel Kant sprichwörtlich im Grabe herumgedreht.
Bereits jetzt lehnt mehr als ein Drittel der Deutschen eine allgemeine Impfpflicht kategorisch ab. Das ist weit mehr als die Zahl der Ungeimpften. Zu diesen Ablehnenden gehören nämlich auch diejenigen, die – wie der Autor dieses Beitrags – doppelt geimpfte und zusätzlich geboosterte Impfbefürworter sind, aber gleichwohl höchsten Respekt vor der aufgeklärten Entscheidung des Individuums haben.
Eine gesetzliche Impfpflicht könnte stets nur aufgrund eines konkret bekannten Virus und eines konkret bekannten Impfstoffs formuliert werden. Zum Zeitpunkt der jetzigen Impfpflicht-Diskussion haben wir es jedoch mit einer Virusvariante zu tun, die erstens mit den verfügbaren Impfstoffen nur ungenügend bekämpft werden kann, die zweitens hinsichtlich der Gefährlichkeit nur noch im Bereich der Virusgrippe angesiedelt ist und die drittens den Betroffenen einen komfortablen natürlichen Immunschutz verschafft, der sogar gegen weitere Virusvarianten schützt. Mit anderen Worten: Nie war die Diskussion einer allgemeinen Impfpflicht unsinniger als gerade jetzt.
Daher ist es kein Wunder, dass auch der Deutsche Ethikrat, der sich zunächst mit einer politisch anbiedernden Befürwortung einer allgemeinen Impfpflicht in die Nesseln gesetzt hat, angesichts dieses Omikron-Paradoxons bereits zurückrudert. Auch der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission hat völlig zu Recht die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht abgelehnt. Er weiß genau, dass es jetzt darauf ankommt, diese toxische Debatte schnellstmöglich zu beenden. Denn schon jetzt hat die Diskussion einen ungeheuren Schaden nicht nur für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern insbesondere für die Akzeptanz der Präventivmedizin bewirkt. Und dieser Schaden wird jeden Tag größer. Das wird sich bereits in Kürze in den Statistiken für die Impfbereitschaft und die Gesundheitsvorsorge in anderen wichtigen Feldern niederschlagen.
Zu warnen ist daher insbesondere vor einem allgemeinen „Vorratsgesetz“, das bei Auftauchen irgendeines Virus und irgendeines Impfstoffs auf dem Verordnungswege eine Impfpflicht auslösen würde. Diese Version, die manchen Impfpflicht-Fanatikern vorschwebt, um angesichts des Omikron-Paradoxons konkreten Festlegungen entgehen zu können, würde einem Albtraum jenseits Orwell’scher Dimensionen gleichkommen. Wie schnell hier Missbrauch betrieben werden könnte, hat der unverfrorene Druck gezeigt, den genuin autoritäre Politiker wie Markus Söder auf die Ständige Impfkommission ausgeübt haben. Ein solches Gesetz – so viel ist sicher – wäre der Tod der Präventivmedizin in Deutschland.
Autor
Dr. med. Lothar Krimmel
Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Lauterbach dreht Kant im Grabe herum. – In: Tichys Einblick, 14.01.2022
Download des Artikels