Neue Möglichkeiten der hausärztlichen Betreuung von Typ-II-Diabetikern

Deutsches Ärzteblatt (1991)

Die Diabetesvereinbarung zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Ersatzkassen (siehe unter „Bekanntmachungen“ in diesem Heft) eröffnet ab 1. Juli 1991 die Durchführung und Abrechnung der programmierten Schulung und Betreuung von Typ-11-Diabetikern in der Arztpraxis.

Die Diabetesvereinbarung zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Ersatzkassen (siehe unter „Bekanntmachungen“ in diesem Heft) eröffnet ab 1. Juli 1991 die Durchführung und Abrechnung der programmierten Schulung und Betreuung von Typ-II-Diabetikern in der Arztpraxis. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Verbände der Ersatzkassen haben vereinbart, zum 1. Juli 1991 ein programmiertes Schulungs- und Behandlungsprogramm für die rund eine Million Ersatzkassenversicherten mit Diabetes mellitus Typ II in die vertragsärztliche Versorgung einzuführen.

Die Vereinbarung regelt die Anforderungen an das verwandte Schulungsprogramm, die Qualifikation der teilnehmenden Vertragsärzte und die Vergütung der programmierten Gruppenberatung. Mehr als 2500 Arztpraxen haben bereits an Fortbildungen zu diesem Programm teilgenommen.

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI), Köln, wurde mit der Qualitätssicherung beauftragt und koordiniert weitere Fortbildungen zu diesem Programm. Die dabei erworbenen Zertifikate dienen als Grundlage für die Abrechnung der neuen Nummer 15. Im Sinne einer Optimierung der Behandlung dieser großen Patientengruppe bedeutet diese Vereinbarung einen wegweisenden Fortschritt. In Deutschland leben mehr als drei Millionen Diabetiker. Das mittlere Alter der in Arztpraxen behandelten Typ-II-Diabetiker liegt bei 66 Jahren. Mit steigendem mittleren Alter der Bevölkerung wird sich die relative Häufigkeit des Diabetes mellitus Typ II weiter erhöhen. Diese Form des Diabetes wird insofern immer mehr zu einer Erkrankung älterer Menschen. Ziel der Diabetes- Behandlung bei diesen älteren Patienten muß es sein, Symptome des Diabetes zu vermeiden, bei bestehender Neuropathie Fußprobleme zu verhüten und Krankenhausaufenthalte wegen des Diabetes zu vermeiden.

Diese Ziele der Langzeitbetreuung sind nur zu erreichen, wenn der Patient nach entsprechender Schulung zur Mitarbeit befähigt und motiviert werden kann. Bei jüngeren Diabetikern gilt es zusätzlich, die durch Hyperglykämie bedingten Folgeschäden des Diabetes primär zu verhüten: Retinopathie, Nephropathie und Neuropathia diabetica lassen sich durch normoglykämische Stoffwechseleinstellung vermeiden. Immer noch ist der Diabetes mellitus eine der häufigsten Ursachen der Erblindung, und man nimmt an, daß 50 Prozent der Amputationen bei Diabetikern durch rechtzeitige Prävention zu verhüten wären. 80 Prozent der in Arztpraxen betreuten Typ-II-Diabetiker werden nicht mit Insulin behandelt. Es bietet sich an, diese Diabetiker in Gruppen von vier bis zehn Patienten in der Arztpraxis zu unterrichten. Die notwendige individuelle Festlegung des Therapieziels verlangt eine Kenntnis aller Begleiterkrankungen; eine patientengerechte Schulung wird effektiver, wenn die häuslichen Lebensverhältnisse des Patienten bekannt sind. Wo könnte also die Schulung und Betreuung dieser Patienten besser aufgehoben sein als beim behandelnden Hausarzt?

Praxis-Programm für nicht mit Insulin behandelte Diabetiker

Das Programm (1) wurde in einer kontrollierten Studie (2) und in einer bundesweiten Untersuchung (3) auf seine Effektivität überprüft. Das Programm besteht aus vier Unterrichtseinheiten, die möglichst in wöchentlichem Abstand vermittelt werden. Die Patientengruppen sollen vier bis maximal zehn Patienten umfassen. Ziel des Patientenunterrichts in der Praxis ist es, den Patienten folgende Fähigkeiten zu vermitteln:

  • Durchführung der Selbstmessung der Glukosurie mit Teststreifen;
  • Durchführung einer Reduktionskost (bei Adipositas) bis zum Erreichen des Therapieziels;
  • zumindest zeitweises Absetzen oraler Antidiabetika;
  • Durchführung einer auf die Erkrankung abgestellten Fußpflege.

Voraussetzungen für den Qualifikationserwerb

Zur Sicherstellung einer qualifizierten Diabetikerschulung ist die Teilnahme von Ärzten und Praxispersonal an Seminarveranstaltungen mit folgenden Inhalten erforderlich:

  1. Allgemeiner Hintergrund und Effektivität des Programms (Ärzte und Praxispersonal);
  2. Erarbeiten und Diskussion der vier Unterrichtseinheiten (Ärzte und Praxispersonal);
  3. Pädagogik der Diabetikerschulung und praktisches Lehrverhaltenstraining (Praxispersonal);
  4. Vertiefung programmrelevanter medizinischer und pädagogischer Fragen (Ärzte und Praxispersonal).

Für die Erarbeitung der unter Punkt 1 und 2 genannten Inhalte ist eine ganztägige Veranstaltung notwendig (zum Beispiel Samstag). Die Unterrichtung des Praxispersonals in der Pädagogik der Diabetikerschulung (Punkt 3) soll sich auf drei Halbtage erstrecken (zum Beispiel Dienstag ganztägig und Mittwochnachmittag). Für die Vertiefung spezieller Aspekte und die Abschlußdiskussion mit Ärzten und Praxispersonal (Punkt 4) bietet sich ein Zeitpunkt unmittelbar im Anschluß an die Schulung des Praxispersonals an (zum Beispiel Mittwochnachmittag). Dieser Ablauf der Weiterbildung entspricht den diesbezüglich von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft empfohlenen Richtlinien (4), die der Diabetes-Vereinbarung zwischen KBV und Ersatzkassen zugrundegelegt wurden (erarbeitet vom „Ausschuß Laienarbeit“ unter dem Vorsitz von Prof. Dr. B. Willms und Prof. Dr. H. R. Henrichs).

Vorbereitung der Praxisteams

Die Organisation der Fortbildungsseminare übernimmt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) in Abstimmung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Auswahl der Referenten, die Praxenseminare durchführen, erfolgt durch das Zentralinstitut. Mehr als 100 Referententeams stehen bereits zur Verfügung. Die Kosten des Seminars pro Praxisteam (Arzt und Helferin[nen]) betragen 300 DM. (Nehmen Arzthelferinnen aus Praxen teil, in denen das Programm schon eingeführt ist, die aber bislang nicht mit dem Programm vertraut gemacht wurden, beträgt der Teilnahmebeitrag nur 100 DM.) Nach Teilnahme am Seminar werden der Praxis folgende Schulungsmaterialien zugestellt:

  • Schautafeln für den Patientenunterricht zur anschaulichen Darstellung der wichtigsten Themen; I
  • Unterrichtskarten im Karteikartenformat liefern in Stichworten die wichtigsten Inhalte („roter Faden“);
  • Abbildungen von Nahrungsmitteln, die den Patienten helfen, Nahrungsmittel nach ihrem Kaloriengehalt zu beurteilen. Auf farbigen Abbildungen sind jeweils 100 Kalorien verschiedenster Lebensmittel dargestellt;
  • Curriculum mit einem Überblick über den gesamten Ablauf des Programms;
  • Ärztlicher Leitfaden; Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Patientenbetreuung bei Typ-Il-Diabetes;
  • Lernprogramm für Arzthelferinnen, ausgerichtet auf die medizinischen Inhalte des Programms

Abrechnung mit den Ersatzkassen

Die programmierte Schulung und Betreuung von Diabetikern in Gruppen kann von Vertragsärzten durchgeführt und abgerechnet werden, die mit ihrer Helferin die beschriebene Seminarveranstaltung besucht und — nach Bestätigung der Teilnahme durch das Zentralinstitut — von ihrer Kassenärztlichen Vereinigung die Abrechnungsgenehmigung erhalten haben. Für die programmierte ärztliche Gruppenbehandlung von Ersatzkassenversicherten mit Typ-II-Diabetes ist die Nr. 15 berechnungsfähig. Diese Abrechnungs-Nummer wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Ersatzkassen wie folgt formuliert:

Programmierte ärztliche Schulung und Behandlung von Typ-II-Diabetikern in Gruppen in der Praxis des behandelnden Arztes bei einer Teilnehmerzahl von vier bis zehn Personen, je Teilnehmer und Sitzung

Die Vergütung für diese Gruppenberatung beträgt je Teilnehmer und Sitzung 15 DM. Die Ersatzkassen zahlen diese Vergütung nach Einzelleistungen, also außerhalb der sogenannten „gedeckelten“ Pauschalvergütung. Die Abrechnungs- Nr. 15 wird im übrigen — ähnlich wie die Impfleistungen (Nrn. 8900 ff.) — als vertraglich vereinbarte Zusatzleistung nicht in der Ersatzkassengebührenordnung (E-GO) aufgeführt. Aus diesem Grunde gelten die in der E-GO genannten Abrechnungsausschlüsse nicht für die neue Nr. 15.

Es besteht berechtigte Hoffnung, daß in Kürze zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und den sogenannten Primär-Krankenkassen (AOK, BKK, IKK usw.) identische Vereinbarungen auf Landesebene abgeschlossen werden, wie dies im Bereich der KV Hamburg mit den dortigen Primärkassen zum 1. April 1991 bereits geschehen ist. Auf diese Weise könnte dieses Programm dann allen Patienten, und nicht nur den Ersatzkassen-Versicherten, zur Verfügung gestellt werden.

Für den Patienten bestimmtes Verbrauchsmaterial

Das Verbrauchsmaterial umfaßt ein speziell auf dieses Programm abgestimmtes Lehrbuch für die Patienten, Einladungsschreiben für die Patienten, Merkzettel für die einzelnen Stunden, ein spezielles Heft für die Selbstkontroll-Ergebnisse und Wissenstests für die Patienten.

Neue Möglichkeiten der hausärztlichen Betreuung von Typ-II-Diabetikern

Die Kosten für dieses zum Verbleib beim Patienten bestimmte Gebrauchsmaterial werden von den Ersatzkassen übernommen. Sofern Patienten diese Materialien nicht direkt von ihrer Ersatzkasse, sondern vom behandelnden Arzt erhalten, kann der Arzt die hierfür entstandenen Kosten auf dem Abrechnungsschein angeben. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Schulungsprogramm soll nicht die auch in der Folge lebenslang notwendige Einzelberatung und Motivation der Patienten ersetzen. Ein strukturiertes medizinisches Vorgehen im Rahmen des Programms soll auch nicht die Form der beim Patienten in der Folge zu erbringenden Einzelleistungen vorschreiben. Diese sind wie immer patientengerecht individuell zu gestalten. Ziel der Einführung dieses strukturierten Schulungsprogramms ist es, Arzt und Patient besser in die Lage zu versetzen, gemeinsam auf eine Optimierung der Behandlungsqualität hinzuarbeiten. Diese Chance sollte möglichst vielen Diabetikern eröffnet werden. • Niedergelassene Ärzte, die ihren Diabetespatienten die programmierte Gruppenschulung anbieten und an einem Praxenseminar teilnehmen möchten, werden gebeten, sich an das Zentralinstitut zu wenden (Postkarte mit dem Vermerk: „Schulungsprogramm für Typ- II-Diabetiker“). Sie erhalten dann umgehend eine Informationsbroschüre und Nachricht, von wem und zu welchen Zeitpunkten in ihrer Region Seminare durchgeführt werden. Das Zentralinstitut hat speziell zur Koordination der weiteren Verbreitung dieses Programms ein Büro eingerichtet, das für Anfragen zur Verfügung steht.

Literatur

  1. Berger, M., M. Grüßer, V. Jörgens, P. Kronsbein, I. Mühlhauser, V. Scholz, A. Venhaus in Zusammenarbeit mit E. Standl und H. Mehnert sowie Boehringer Mannheim: Diabetesbehandlung in unserer Praxis: Behandlungs- und Schulungsprogramm für Diabetiker, die nicht Insulin spritzen. Deutscher Ärzte-Verlag (1987)
  2. Kronsbein, P., V. Jörgens, I. Mühlhauser, V. Scholz, A. Venhaus, M. Berger: Evaluation of a structured treatment and teaching programme an non insulin dependent diabetes. The Lancet II 1407-1411 (1988)
  3. Bott, U., V. Scholz, V. Jörgens, M. Grüßer, I. Mühlhauser, P. Kronsbein, A. Venhaus, M. Berger: The introduction of a structured treatment and teaching programme for Type 2 (non-insulin-dependent) diabetic patients in 695 general practices. Diabetologia 32:469 A (1989)
  4. Standl, E., V. Jörgens für den Ausschuß Laienarbeit der Deutschen Diabetes Gesellschaft: Weiterbildung von niedergelassenen Ärzten und ihren Arzthelferinnen zur Schulung von nicht insulinbehandelten Typ-IIDiabetikern in der Praxis des niedergelassenen Arztes. Diabetologie Informationen 10:17-21 (1988)
  5. Jörgens, V., M. Berger, G. Flatten: Diabetikerschulung in der Arztpraxis: Voraussetzung für eine effektive Behandlung. Deutsches Ärzteblatt 87 A: 548-550 (1990)

Verfasser:
Dr. med. Viktor Jörgens, Dr. med. Lothar Krimmel, Dr. med. Günter Flatten

Erstveröffentlichung:
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 88, Heft 17, 25. April 1991