Option für die Versicherten: Kostenerstattung aus ärztlich-medizinischer Sicht

Forum für Gesellschaftspolitik (1998)

Die Diskussion um die Kostenerstattung in der GKV wird vorwiegend unter politischen oder rechtlichen Gesichtspunkten geführt. Dabei wird übersehen, daß sich die innere Legitimation der Kostenerstattung als Alternative zur Sachleistung in der gesetzlichen Krankenversicherung jedenfalls in Deutschland dauerhaft nur aus einer ärztlich-medizinischen Begründung ergeben kann.
Diese Begründung lebt davon, daß die Kostenerstattungsoption keineswegs nur eine Variation des Zahlungsstroms beinhaltet; vielmehr geht es um die Möglichkeit der Auswahl zwischen zwei mehr oder weniger unterschiedlichen Behandlungsbedingungen, nämlich zwischen der ausschließlich an der medizinischen Notwendigkeit und den Bedürfnissen des Patienten orientierten privatärztlichen Behandlung und der von den Implikationen des Wirtschaftlichkeitsgebots dominierten vertragsärztlichen Behandlung.

Vermeidung von Zwei-Klassen-Medizin

Vor diesem Hintergrund muß auch der gelegentlich erhobene Vorwurf beurteilt werden, mit der Einführung der Kostenerstattungsoption sei ein Schritt in Richtung auf die Etablierung einer Zwei-Klassen-Medizin unternommen worden. Aus medizinisch-ärztlicher Sicht trifft exakt das Gegenteil zu. Die Kostenerstattungsoption ermöglicht es allen gesetzlich Krankenversicherten, die im Hinblick auf den Behandlungskomfort größeren Spielräume einer privatärztlichen Behandlung zu nutzen, ohne den Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse zu verlieren. Für viele Versicherte eröffnet sich daher nur über diesen Weg der Kostenerstattung die Möglichkeit, eine privatärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Erst der Wegfall dieser Option würde zu Klassengrenzen in der Medizin führen. Der gesetzlich Krankenversicherte könnte sich dann nur noch zwischen der dem Wirtschaftlichkeitsgebot untergeordneten vertragsärztlichen Behandlung und der vollen Kostenübernahme für eine privatärztliche Behandlung entscheiden. Auf diese Weise wäre das im Kostenerstattungsverfahren mögliche „Upgrading“ in die privatärztliche Behandlung für die meisten Krankenversicherten finanziell unerschwinglich. Es würde dann für die Krankenversicherung das zutreffen, was Jost Stollmann, der ehemals designierte Wirtschaftsminister der rot-grünen Bundesregierung, beschrieben hat: Die gesetzliche Krankenversicherung wäre ein Gefängnis für diejenigen, die sich einen „Ausbruch“ finanziell nicht leisten können. Mit dem Wegfall der Kostenerstattungsoption würde sich die Gefängnistür hinter den Pflichtmitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung schließen. Aus eben diesem Grunde kann die Kostenerstattungsoption einen Einstieg in fest zugewiesene Versorgungsklassen nicht etwa erleichtern, sondern im Gegenteil verhindern.

Damit verletzt der Wegfall dieses Wahlrechts das durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierte Selbstbestimmungsrecht, das sich selbstverständlich auch auf ein Mitspracherecht bei den Modalitäten der Versorgung im Krankheitsfall erstreckt. Die Streichung der Kostenerstattungsoption steht daher auch auf fast schon groteske Weise im Widerspruch zur im übrigen proklamierten Absicht der Regierungskoalition, die Mitwirkungsrechte der Patienten an den Modalitäten der Behandlung und Versorgung nicht etwa abzubauen, sondern im Gegenteil zu stärken.
In diesem Zusammenhang ist eine kurze Bewertung des Kampfbegriffs von der „Zwei-Klassen-Medizin“ angebracht. Nach ärztlichem Verständnis kann von einer sog. Zwei-Klassen-Medizin nur dann die Rede sein, wenn einem Patienten aufgrund unüberwindlicher finanzieller Hürden eine Behandlung vorenthalten wird, die ihm Vorteile im Hinblick auf die Lebenserwartung oder eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität bringen würde. Dagegen hat es nichts mit Zwei-Klassen-Medizin zu tun, wenn sich zwei unterschiedlich teure Behandlungsverfahren ausschließlich im Behandlungskomfort unterscheiden. Wollte man bereits dies mit dem Begriff der Zwei-Klassen-Medizin belegen, so könnte man in Fortsetzung dieser Art von Rabulistik auch das Einbettzimmer im Krankenhaus, den teuren Erholungsurlaub oder den mit einem deutlich höheren Sicherheitsstandard versehenen Mercedes der S-Klasse zu Kennzeichen einer Zwei-Klassen-Medizin deklarieren.

Aus ärztlicher Sicht bleibt daher zunächst folgendes festzuhalten:

  1. Die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer privatärztlichen Behandlung im Kostenerstattungsverfahren stärkt die Wahlrechte der Versicherten.
  2. Die privatärztliche Behandlung kann sich allenfalls im Behandlungskomfort, nicht dagegen im Hinblick auf Auswirkungen hinsichtlich Schmerzlinderung oder Lebenserwartung von der dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegenden vertragsärztlichen Behandlung unterscheiden.
  3. Das Wahlrecht auf Kostenerstattung macht die Grenzen zwischen einer vertragsärztlichen Behandlung und einer komfortableren, jedoch ggf. unwirtschaftlichen privatärztlichen Behandlung für alle Versicherten durchlässiger und vermeidet daher die Etablierung strikt getrennter „Komfortklassen“ in der Krankenbehandlung.

Wenn im Zentrum der privatärztlichen Behandlung im Kostenerstattungsverfahren somit ein gehobener Behandlungskomfort steht, so ist dieser Komfort-Unterschied in zwei Aspekte zu differenzieren:

  • zum einen den allgemeinen Behandlungskomfort und
  • zum anderen den komfortablen Behandlungsstil im Einzelfall.

Allgemeiner Behandlungskomfort

Der allgemeine Behandlungskomfort beinhaltet allgemeine ärztliche Dienstleistungen, die auf Wunsch des Patienten erbracht werden, die jedoch unter den Vorgaben des Sozialgesetzbuches als „unwirtschaftlich“ zu bezeichnen sind. Beispiele hierfür sind etwa

  • das auf besonderen Wunsch erfolgende Aufsuchen des Patienten im häuslichen Umfeld, obwohl kein sachlicher Grund gegen die Behandlung in der Arztpraxis spricht, oder
  • besonders intensive Beratungsgespräche mit ausführlicher, auf Wunsch des Patienten über das Maß des Notwendigen und Wirtschaftlichen hinausgehender Erörterung des Krankheitsgeschehens und der Behandlungsmöglichkeiten.

Der Wunsch von Patienten nach einer auf diese Weise erweiterten ärztlichen Zuwendung ist völlig legitim. Ebenso legitim ist aus ärztlicher Sicht das Eingehen des Arztes auf diese Bedürfnisse. Problematisch wäre es, wenn die Krankenkassen aufgrund einer Rücknahme des Wahlrechts auf Kostenerstattung gezwungen wären, eine Beteiligung an den entstandenen Kosten im Rahmen des gesetzlichen Leistungsanspruchs zu verweigern. Wer dies in Erwägung zieht, muß wissen, daß das Gebot der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung keineswegs nur die Anbieter, sondern selbstverständlich auch die Nachfrager von Gesundheitsleistungen, also die Patienten, betrifft. Ein über das Maß des Notwendigen hinausgehender Behandlungskomfort mag im Sinne des Sozialgesetzbuches unwirtschaftlich sein, eine hierauf gerichtete Nachfrage von Versicherten ist gleichwohl anzuerkennen.

Es entspricht einem verqueren Bild sowohl der menschlichen Natur als auch der gesellschaftlichen Realitäten, wenn die Zulässigkeit der Inanspruchnahme von Komfortunterschieden im Bereich der ärztlichen Behandlung verneint wird, während diese Unterschiede etwa beim Kauf eines Luxusautos, der Anmietung einer Penthouse-Wohnung oder der Urlaubsfahrt in die Südsee akzeptiert werden, obwohl alle diese Wahlentscheidungen letztlich auch Bedeutung für die individuelle Gesundheit haben. Im übrigen sind Komfortunterschiede zwischen vertragsärztlicher und privatärztlicher Behandlung auch schon hinreichend belegt. So hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung bereits im Jahre 1982 im Rahmen der EVaS-Studie nachgewiesen, daß z.B. die Zeitdauer der ärztlichen Beratung in der privatärztlichen Behandlung signifikant höher ist als in der vertragsärztlichen Behandlung.

Komfortabler Behandlungsstil im Einzelfall

Ein sehr weites Feld eröffnet die Diskussion um die verschiedenen Optionen komfortabler Behandlungsstile im Einzelfall. Ein bekanntes Beispiel ist die zeitaufwendige und damit im Regelfall unwirtschaftliche Berücksichtigung kosmetischer Aspekte im Rahmen chirurgischer Eingriffe. Der Wunsch eines Patienten etwa nach einer aufwendigen Intrakutan-Naht zur Erzielung eines optimalen kosmetischen Ergebnisses des Wundverschlusses sollte respektiert werden, auch wenn dies im Rahmen der vertragsärztlichen Behandlung über das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen hinausgeht.

Das Kostenerstattungsverfahren ermöglicht ferner die Inanspruchnahme fortschrittlicher komfortabler Behandlungsverfahren, die nicht zum Standard der vertragsärztlichen Behandlung gehören. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte virtuelle Endoskopie im Bereich der Gangsysteme von Gallenblase und Bauchspeicheldrüse. Dabei wird durch aufwendige bildgebende Verfahren ohne Belästigung des Patienten ein plastisches, dreidimensionales Computer-Bild der Gallenwege und damit ein diagnostisches Ergebnis erzielt, wie es bei konventionellem, aber „wirtschaftlichem“ Vorgehen bislang nur im Rahmen des mit nicht unerheblicher Belästigung verbundenen, endoskopischen Verfahrens der sogenannten ERCP möglich ist.
Die Ermöglichung der Inanspruchnahme eines komfortableren Behandlungsstils erstreckt sich beim Kostenerstattungsverfahren auch auf die Arzneimittel-Verordnung. Ein gutes Beispiel ist die Kombinationsimpfung gegen Hepatitis A und Hepatitis B im Kindes- und Jugendalter. Da nur die Hepatitis-B-Impfung von den Krankenkassen übernommen wird, eine gleichzeitige Impfung gegen Hepatitis A vor Reisen in entsprechende Länder jedoch sehr zu empfehlen ist, wird nur durch die Option des Kostenerstattungsverfahrens ermöglicht, daß der Arzt die für den Patienten nur mit einem Stich verbundene und zugleich kostengünstigere Kombinationsimpfung durchführen kann. Ohne Möglichkeit der Kostenerstattung müßte der Patient zwei Injektionen in Kauf nehmen, wollte er nicht für die Kombinationsimpfung vollständig aus eigener Tasche aufkommen.

Auch im Hinblick auf die Wahl der Darreichungsform von Arzneimitteln eröffnet das Kostenerstattungsverfahren für den Patienten größere Spielräume. So würde es beispielsweise einer Frau in den Wechseljahren ermöglicht, im Bereich der Hormontherapie die komfortable, aber unwirtschaftliche Darreichungsform des Hautpflasters zu wählen und die Krankenkasse im Wege der Kostenerstattung zumindest für den Preis der wirtschaftlichen Tablettenform in Anspruch zu nehmen.

Eckpunkte der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Entwurf eines Solidaritäts-Stärkungsgesetzes

  1. Die Kassenärzte werden sich mit eigenen Vorschlägen in die von der neuen Bundesregierung vorgesehene Strukturreform einbringen und sich an dem notwendigen Dialog konstruktiv beteiligen. Sie lehnen jedoch die Wiedereinführung sektoraler Ausgabenbudgets als untaugliches Mittel der Ausgabensteuerung ab. Insbesondere dürfen Strukturverträge und Modellvorhaben, die gerade darauf abzielen, im Hinblick auf diese Strukturreform neue Versorgungs- und Vergütungsstrukturen zu erproben, in ihrer Entwicklung nicht blockiert werden.
  2. Unter dem Deckmantel einer vorläufigen Ausgabenbegrenzung darf die Strukturreform nicht bereits teilweise dadurch vorweggenommen werden, daß für die vertragsärztliche Versorgung isoliert sektorale Ausgabenbudgets sowohl für die Gesamtvergütung als auch für die Arznei- und Heilmittelausgaben dauerhaft festgeschrieben werden. Die gesetzliche Möglichkeit zur Vereinbarung von Regelleistungsvolumen, die dem Kassenarzt innerhalb vertraglich festgelegter Bandbreiten wieder einen kalkulierbaren Punktwert garantieren sowie die Möglichkeit, Arznei- und Heilmittelbudgets durch arztgruppenbezogene individuelle Richtgrößen abzulösen, muß daher erhalten bleiben.
  3. Die mit dem Psychotherapeutengesetz zum 1. Januar 1999 eingeführte Integration von ärztlichen
    und psychologischen Psychotherapeuten unter der Dach der Kassenärztlichen Vereinigungen darf nicht bereits zu Beginn durch eine unzureichende Finanzierungsregelung gefährdet werden. Entsprechend dem zu erwartenden stärkeren Zuwachs an psychologischen Psychotherapeuten muß daher ein ausreichendes Vergütungsvolumen zur Finanzierung psychotherapeutischer Leistungen zurVerfügung gestellt werden und die bestehende erhebliche Unsicherheit über die Höhe dieses Ausgabenvolumens und seine Bereitstellung durch die Krankenkassen für den Teil der bisherigen Erstattungspsychotherapie unverzüglich beseitigt werden.
  4. Angesichts der dramatischen Vergütungssituation der Vertragsärzte in den neuen Bundesländern droht dort eine nachhaltige Verschlechterung des bislang noch hohen Versorgungsniveaus. Deswegen darf die Schere der Vergütungsanteile zwischen Ost und West nicht noch dadurch weiter geöffnet werden, daß für die neuen Bundesländer die Weiterentwicklung der Gesamtvergütung für 1999 an die dort voraussichtlich sogar negative Grundlohnentwicklung gekoppelt wird. Durch Erweiterung des Risikostrukturausgleiches muß vielmehr den Krankenkassen die Möglichkeit eröffnet werden, gleiche Vergütungssätze für gleiche Leistungen zu gewähren.“

Eine weitere Option des Kostenerstattungsverfahrens betrifft schließlich die Inanspruchnahme besonderer Therapieverfahren in sogenannten „austherapierten“ Fällen. In diesen Fällen werden von Patienten nicht selten Außenseitermethoden oder „therapeutische Strohhalme“ in Anspruch genommen, die mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot in der vertragsärztlichen Versorgung nicht in Deckung zu bringen sind. Mit dem Kostenerstattungsverfahren stünde für diese Konstellationen ein geeignetes Verfahren zur Verfügung, mit dem das Wirtschaftlichkeitsgebot und die verständlichen Patientenwünsche nach maximaler Ausschöpfung der therapeutischen Optionen in Einklang gebracht werden könnten.

In diesem Zusammenhang kommt auch dem künftigen Umgang mit Leitlinien und der sog. evidenzbasierten Medizin eine hohe Bedeutung zu. Wie soll der Vertragsarzt beispielsweise mit einem Patienten umgehen, der zum wiederholten Male über Kopfschmerzen klagt und aufgrund entsprechender Medienberichte den diagnostischen Ausschluß eines Hirntumors erbittet? Da eine derart erweiterte Diagnostik im Regelfall als unwirtschaftlich anzusehen ist, müßte der Patient, wenn er durch Hinweise auf die Unwahrscheinlichkeit seines Hirntumors nicht von seinem Wunsch abzubringen ist, auf die privatärztliche Behandlung verwiesen werden. Die Kostenerstattungsoption würde es dem Patienten in diesem Fall ermöglichen, seine Krankenkasse zumindest für den wirtschaftlichen Teil der Behandlungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen.

Mißbrauch kann verhindert werden

Daß die Option der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung bereits kurz nach der Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten auf alle Versicherten zum 1. Juli 1997 ins Gerede gekommen ist, hängt auch mit einigen bekannt gewordenen Mißbrauchsfällen zusammen. Viele dieser Fälle wiederum sind aber Folge von Mißverständnissen, die nicht ausbleiben konnten, nachdem sowohl Krankenkassen als auch manche Kassenärztliche Vereinigungen sich offensichtlich entschlossen hatten, die Möglichkeiten des Kostenerstattungsverfahrens nicht offen darzulegen, so daß die Inanspruchnahme des Kostenerstattungsverfahrens in einer Art von Grauzone stattfinden mußte, in welcher selbsternannte Berater ein reiches Betätigungsfeld fanden.
Die Frage der Sinnhaftigkeit einer Erweiterung der Optionsmöglichkeiten der Versicherten sollte jedoch nicht aufgrund von wenigen Mißbrauchsfällen entschieden werden. Auch handelt es sich bei einer solchen Entscheidung nicht in erster Linie um eine rechtliche Frage. Die Entscheidung hat vielmehr ausschließlich politischen Erwägungen zu folgen. Dabei scheint aus ärztlich-medizinischer Sicht die Aussage gerechtfertigt, daß die Möglichkeit zur Wahl der Kostenerstattung eine sinnvolle Stärkung der Optionsrechte des Versicherten darstellt.

Möglicherweise kann gerade dieses Maß an Flexibilität dazu beitragen, den Grundgedanken einer solidarischen Krankenversicherung trotz Zunahme der Innovationsgeschwindigkeit in der Medizin und gleichzeitigen Anstiegs der Patientenansprüche dauerhaft zu stabilisieren. Einzelne Mißbrauchsfälle sollten demgegenüber keinen Grund zur Infragestellung dieser Wahlmöglichkeit bieten. Dem Mißbrauch kann auch auf andere Weise begegnet werden. Eine interessante Option könnte sein, die Kassenärztlichen Vereinigungen auf gesetzlichem Wege stärker in das Kostenerstattungsverfahren einzubeziehen. Die KVen stünden jedenfalls für eine Übernahme dieser zusätzlichen Regelungsaufgabe zur Verfügung.

Beschneidung der Versichertenrechte

Mit dem Vorschaltgesetz 1999 wird von den Koalitionsfraktionen nunmehr beabsichtigt, die Option der Kostenerstattung gem. § 13 Abs. 2 SGB V ganz zu streichen oder aber – wie vor Inkrafttreten des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes – wieder auf den Kreis der freiwillig Versicherten zu begrenzen. Beide Vorschläge stehen für einen klaren, möglicherweise aber unvermeidlichen Schritt in Richtung auf die Etablierung unterschiedlicher Komfortklassen in der ärztlichen Behandlung.

Es wird interessant sein zu beobachten, ob dieser ausschließlich ideologisch motivierte sozialpolitische Rückschritt in der Rechtswirklichkeit überlebensfähig ist. Die von einer Krankenkasse abgelehnte Übernahme des GKV-Kostenanteils für eine über das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen hinausgehende privatärztliche Behandlung eines Pflichtversicherten wird demnächst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur den Europäischen Gerichtshof, sondern wegen des offensichtlichen Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes auch das höchste deutsche Gericht beschäftigen.

Die nunmehr wohl vorgesehene Begrenzung des Wahlrechts auf freiwillig Versicherte und damit die Rückkehr zu einer Trennlinie zwischen freiwillig Versicherten und Pflichtversicherten scheint argumentativ kaum vertretbar zu sein, da hierdurch die Deklassierung der Versicherten mit geringerem Einkommen offensichtlich wird. Konsequent wäre es daher, die Kostenerstattungsoption vollständig zu streichen. Damit würde Klarheit darüber hergestellt, daß der Wunsch nach komfortabler, aber unwirtschaftlicher Behandlungsweise ausschließlich im Bereich der Privatmedizin geltend gemacht werden kann. Die nicht immer glückliche Vermischung zwischen privatärztlicher und vertragsärztlicher Behandlung könnte auf diese Weise beendet werden. Die Herbeiführung dieser Klarheit wäre es möglicherweise auch wert, daß einige hunderttausend freiwillig Versicherte, welche die Option auf eine komfortable Privatbehandlung nicht missen möchten, in die private Krankenversicherung abwandern.

Auch die Kassenärzte sollten eine solche Klarstellung trotz ihrer Funktion als Anwälte der Patienten letztlich akzeptieren, da sie auf diese Weise die Implikationen und die Zwänge des Wirtschaftlichkeitsgebots in der vertragsärztlichen Versorgung ihren Patienten deutlicher vermitteln können. Die privatärztliche Liquidation bei über das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen hinausgehenden Behandlungswünschen der Versicherten wird künftig nicht mehr durch die recht komplexen Kostenerstattungs-Regelungen belastet sein.

Im Ergebnis bleibt festzustellen: Die Streichung der Kostenerstattungs-Option entlastet die Ärzte und beschädigt die Versicherten sowohl im Umfang ihres Versicherungsschutzes als auch in ihrem grundgesetzlich geschützten Selbstbestimmungsrecht. Geradezu absurd ist es, diesen massiven Eingriff in die Versicherten- und Bürgerrechte als „Rücknahme von Elementen der privaten Versicherungswirtschaft“ darzustellen. Wenn die Überlegenheit der privaten Krankenversicherung von höchster Stelle und auf derart drastische Weise verdeutlicht wird, so kann es um die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gut bestellt sein.

Auszüge aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 10. November 1998
„Wie für die innere Sicherheit, so gilt auch für die soziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Sicherung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder in Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daß eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzelfällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsächlich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Deshalb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen Sicherung insgesamt auf den Prüfstand.
Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht verschließen. Und wir werden auch Konsequenzen daraus ziehen.
Erstmals geht eine deutsche Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Arbeitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um 0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft treten.
Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Arbeit bezahlbar gemacht werden kann.
Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu einem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können. Das meinen wir, wenn wir sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der großen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir wis-
sen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundesregierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Versicherten wie auch die Verbände und die Versicherungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.
Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an der Qualität der Leistungen, die erbracht werden.
(…)
Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum 1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhausnotopfer wird ab sofort ausgesetzt.
Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der richtige Weg – und den werden wir gehen.
Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wahren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Gesundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine Reform, die sich an den Realitäten orientiert.“
(Plenarprotokoll 14/3 des Deutschen Bundestages)“

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Option für die Versicherten: Kostenerstattung aus ärztlich-medizinischer Sicht. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), Dezember 1998, S. 293-297.

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