Wieder „ganz Arzt sein“

ARZT & WIRTSCHAFT (2001)
Wieder "ganz Arzt sein"

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Als es in einer Fernsehdiskussion um die Frage von „Klassenunterschieden“ in der Arztpraxis ging, war von einem Kassenvertreter ein interessantes Argument zu hören: Immer weniger Ärzte, sagte er, verfügten über ein eigenes Wartezimmer für Privatpatienten. Dies zeige, dass es keine Service-Unterschiede bei Kassen- und Privatpatienten gebe.

Der Zuschauer fühlte sich angesichts dieser Logik an die scheinbar klare Korrelation zwischen dem Rückgang der Störche und der Geburten Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland erinnert. Eines hatte der Kassenmann nämlich übersehen: Die kassenärztlichen Vergütungen sind vielerorts nicht einmal mehr kostendeckend. Das wirtschaftliche Überleben der Praxen hängt damit vom Zuspruch der Privatpatienten ab. Der Privatpatient ist als Kunde so wichtig, dass er in der Arztpraxis nicht mehr warten muss. Wer nicht warten muss, braucht natürlich auch kein eigenes Wartezimmer.

Statt eigener Wartezimmer setzen sich Privatsprechstunden für Privat- und IGeL-Patienten durch. Besonders verbreitet ist diese Idee in KVen mit festen Individual-Budgets. Bevor ein Arzt beispielsweise die letzten drei Wochen eines Quartals regelmäßig umsonst arbeitet oder Urlaub macht, können die Zeiten des Ausstiegs aus der kassenärztlichen Tretmühle mit Hilfe der Privatsprechstunden über das Quartal verteilt werden. Fast alle Kolleginnen und Kollegen, die einen Dienstag- oder Donnerstag-Nachmittag zur reinen Privatsprechstunde umgestaltet haben, berichten über positive Erfahrungen. Dabei sind regelmäßig drei Phasen zu beobachten:

  • Phase 1: Es kommen überwiegend eigene Privatpatienten in die Privatsprechstunde. Die tun das besonders gerne, da der Doktor endlich mal richtig Zeit hat und man im Übrigen der Peinlichkeit entgeht, am mit Kassenpatienten vollbesetzten Wartezimmer vorbeigeschleust zu werden.
  • Phase 2: Es kommen neue Privatpatienten, die vom Angebot der reinen Privatsprechstunde gehört haben und das stressfreie Privat-Ambiente schätzen.
  • Phase 3: Vereinzelten Kassenpatienten, die sich in die Privatsprechstunde verlaufen, wird auf Anfrage mitgeteilt, dass die Privatsprechstunde auch für Kostenerstattungs- und IGeL-Patienten offen ist. Nicht selten meldet sich ein solcher Patient direkt für die nächste Sprechstunde an.

Viele Ärzte freuen sich inzwischen regelrecht auf die Privatsprechstunde, da es in dieser Zeit möglich ist, wieder „ganz Arzt zu sein“ und aus der budgetierten 5-Minuten-Medizin auszubrechen. Aus rechtlicher Sicht gibt es gegen die Einrichtung einer Privatsprechstunde ohnehin nichts einzuwenden.

Und wenn Krankenkassen jetzt gegen die Ausbreitung von Privatsprechstunden zu Felde ziehen, entlarven sie ihre Kampagne von den angeblich 30 Prozent überflüssiger Ärzte. Denn durch verkürzte Kassensprechstunden erreicht man natürlich auch die von den Kassen doch angeblich gewünschte Angebots-Reduzierung. Letztlich beweisen die Privatsprechstunden daher, was Ärzte und Patienten schon immer vermutet haben: Nicht 30 Prozent der Kassenärzte sind überflüssig, sondern 30 Prozent der Krankenkassen. Mindestens.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Wieder „ganz Arzt sein“ – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 07/2001

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