Das Ende des Schlaraffenlandes

ARZT & WIRTSCHAFT (2002)
Das Ende des Schlaraffenlandes

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Wenn sich wissenschaftliche Koryphäen zum Leistungsrecht in der GKV äußern, dann geht dies – die Erfahrung zeigt’s – meistens daneben. So auch im Fall einer sogenannten „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe“, die kürzlich die Auffassung verbreitete, der anamnestische Verdacht auf eine familiäre Thrombophilie bei gesunden Personen sei eine „klare Indikation zur Untersuchung der zugrunde liegenden genetischen Ursachen als Kassenleistung“. Hier scheinen wissenschaftliche Tagträumer die gnadenlos budgetierte ambulante Versorgung immer noch als ein Schlaraffenland für unbegrenzte Leistungsansprüche misszuverstehen.

Wenn Wissen die Rechtsanwendung fördert …

Wie so oft erleichtert auch in diesem Fall die bloße Kenntnis des Gesetzes die Rechtsanwendung ungemein: Gemäß Paragraf 135 Absatz 1 SGB V sind neue Untersuchungsmethoden schließlich erst dann Kassenleistungen, wenn der Bundesausschuss den diagnostischen Nutzens der neuen Methode tatsächlich bestätigt hat. Das Bundessozialgericht hat in seinem Grundsatzurteil vom 25. August 1999 (Az: B 6 Ka39/98) ergänzend klargestellt, dass neue diagnostische Möglichkeiten nicht einfach bestehenden Positionen der Gebührenordnung zugeordnet werden können.

Wer daher zum Beispiel zur Abklärung eines anamnestischen Thrombophilie-Risikos die erst seit wenigen Jahren mögliche Diagnostik der Prothrombingen-Mutation als Kassenleistung in Auftrag gibt oder abrechnet, verstößt somit eindeutig gegen seine vertragsärztlichen Pflichten. Ein solches Verhalten spielt darüber hinaus den Krankenkassen alle Trümpfe in die Hände: Vom Vorwurf des Abrechnungsbetrugs bis zum Vorwurf der „arztinduzierten“ Mengenausweitung, die angeblich zu Recht mit dramatisch fallenden Punktwerten bestraft werden müsse.

Daher ist im Hinblick auf neue Möglichkeiten im Bereich der genetischen Diagnostik nur eine Aussage richtig: Es handelt sich solange um IGeL-Angebote, bis der Bundesausschuss grünes Licht gegeben hat und die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit den Krankenkassen auch entsprechende Honorarkontingente vereinbaren konnte.

Der so häufig gehörte Einwand, diese Betrachtung kollidiere mit den zivilrechtlichen Pflichten des Mediziners, ist spätestens seit Einführung des IGeL-Gedankens in die öffentliche Diskussion unsinnig geworden. Der behandelnde Arzt ist lediglich verpflichtet, seinen Patienten auf die Inanspruchnahme einer sinnvollen genetischen Diagnostik als IGeL-Leistung hinzuweisen – genau so, wie er dies etwa auch bei der reisemedizinischen Impfung oder der Hautkrebsvorsorge tun muss.

Gerade wissenschaftlich tätige Ärzte, die über das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenkassen nicht selten wie Blinde von der Farbe reden, sollten sich davor hüten, der Ärzteschaft das gesamte Morbiditäts- und Innovationsrisiko anzuhängen und damit die Gesundheitspolitik davon zu entlasten, den GKV-Versicherten reinen Wein einschenken zu müssen. Dieses „gesundheitspolitische Helfersyndrom“ beruht möglicherweise auf einem arzttypischen genetischen Defekt und ist bei manchen Kollegen ganz offensichtlich therapierefraktär.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Das Ende des Schlaraffenlandes – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 08/2002

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