Mit dem „IGeL“ aus der Grauzone

Deutsches Ärzteblatt (1998)

Individuelle Gesundheitsleistungen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die ärztlichen Berufsverbände haben Leistungen definiert, die – privat liqudiert – von Kassenärzten außerhalb der GKV erbracht werden sollen.

Das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) zielt in erster Linie darauf ab, eine leistungsrechtliche Klarstellung in bezug auf diejenigen ärztlichen Maßnahmen zu treffen, die nicht Gegenstand der Gesetzlichen Krankenversicherung sind und damit auch nicht zur kassenärztlichen Versorgung gehören. Angesichts der enormen Dynamik des medizinischen Fortschritts sowie der gleichzeitig wachsenden gesundheitlichen Bedürfnisse ist es erforderlich, die ärztlichen Leistungsangebote jenseits der GKV-Zuständigkeit zu ordnen und aus der „leistungsrechtlichen Grauzone“ herauszuholen. Auf diese Weise wird es dem mündigen Bürger und Patienten besser als zuvor möglich sein, gezielte Wahlentscheidungen zur Realisierung individueller Gesundheitsbedürfnisse zu treffen. Individuelle Gesundheitsleistungen sind nach der Definition der KBV und der ärztlichen Berufsverbände solche ärztlichen Leistungen,

  • die nicht zum Leistungsumfang der GKV gehören,
  • die dennoch von Patienten nachgefragt werden und
  • die ärztlich empfehlenswert

oder – je nach Intensität des Patientenwunsches – zumindest ärztlich vertretbar sind.

Der mündige Patient

Aufgrund der Berücksichtigung von nachgefragten, jedoch „nur“ ärztlich vertretbaren Leistungen wurde insbesondere von Kassenseite der Vorwurf erhoben, der Katalog individueller Gesundheitsleistungen enthalte auch „unsinnige“ Leistungen. Dieser Vorwurf geht jedoch in die Irre, da es weder den Ärzten noch den Krankenkassen zusteht, mündige Bürgerinnen und Bürger etwa daran zu hindern, bei mittelgradiger Myopie Kontaktlinsen anstelle der Brille zu wählen oder sich im „jugendlichen Leichtsinn“ aufgebrachte Tätowierungen später entfernen zu lassen. Grafik 1 verdeutlicht, daß zu den individuellen Gesundheitsleistungen sowohl ärztlich empfehlenswerte als auch ärztlich vertretbare Maßnahmen zählen.

Unterscheidung von GKV-Leistungen und individuellen Gesundheitsleistungen

Grafik 1: Unterscheidung von GKV-Leistungen und individuellen Gesundheitsleistungen

Die inhaltlichen Kriterien für die Aufnahme ärztlicher Leistungen in den Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen reichen von der Definition empfehlenswerter ärztlicher Maßnahmen bis zur leistungsrechtlichen Klarstellung häufiger Wunschleistungen (siehe Tabelle).

Inhaltliche Kriterien für die Aufnahme ärztlicher Leistungen in den Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen

Tabelle: Inhaltliche Kriterien für die Aufnahme ärztlicher Leistungen in den Katalog der
individuellen Gesundheitsleistungen

So mag man unter Ärzten etwa im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit einer Osteodensitometrie zur Früherkennung der Osteoporose geteilter Meinung sein; entscheidend für die Aufnahme dieser und ähnlicher Leistungen in den Katalog der individuellen Gesundheitsleistungen war, daß gerade für häufig nachgefragte Wunschleistungen die leistungsrechtliche Klarstellung als Nicht-Kassenleistung von großer Bedeutung ist.

Wunschleistungen

Sofern die Krankenkassen ihren Versicherten empfehlen, derartige Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen, ist dies mit der Intention des Konzeptes der individuellen Gesundheitsleistungen durchaus vereinbar: Wenn verdeutlicht wird, daß eine gewünschte Leistung keine Kassenleistung ist, sondern privat finanziert werden muß, wird die Bereitschaft zur Inanspruchnahme dieser Wunschleistung möglicherweise nachlassen. Die Grafik 2 skizziert, daß sich die individuellen Gesundheitsleistungen sowohl gegen die eigentlichen Kassenleistungen als auch gegen unwirtschaftliche oder umstrittene Methoden abgrenzen.

Differenzierung nach „Wirtschaftlichkeit“ und „Relevanz der Indikation“

Differenzierung nach Grafik 2: „Wirtschaftlichkeit“ und „Relevanz der Indikation“

Auf diese Weise wird das seriöse ärztliche Leistungsangebot um einen wichtigen Bereich erweitert, der gerade aufgrund der schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Krankenkassen nicht GKV-Bestandteil sein kann. Abzugrenzen sind die individuellen Gesundheitsleistungen auch vom Kostenerstattungsverfahren als einer weiteren Option zur Realisierung individueller Gesundheitsbedürfnisse (Grafik 3).

Realisierung individueller Behandlungswünsche

Grafik 3: Realisierung individueller Behandlungswünsche

Während bei der privatärztlichen Behandlung im Kostenerstattungsverfahren die Krankenkassen den „wirtschaftlichen“ Teil der für einen gewünschten Behandlungsstil entstehenden Behandlungskosten übernehmen, sind individuelle Gesundheitsleistungen vom Grundsatz her nicht erstattungsfähig, da sie als Wunsch- und Komfortleistungen ausschließlich in die Eigenverantwortung des Patienten fallen.

Die Transparenz in bezug auf einen bislang vernachlässigten ärztlichen Leistungsbereich wird von den Patienten im übrigen durchgehend begrüßt. So gaben im Oktober 1997 im Rahmen einer EMNID-Umfrage 84,7 Prozent der Befragten an, daß sie von ihrem Arzt über individuelle Gesundheitsleistungen informiert werden möchten. Immerhin 76,6 Prozent waren auch bereit, im Einzelfall sinnvolle individuelle Gesundheitsleistungen im Rahmen einer privatärztlichen Behandlung in Anspruch zu nehmen. Im Gegensatz zu dieser positiven Einstellung der Patienten steht die bereits erwähnte Kritik der gesetzlichen Krankenkassen. Die Haltung der Krankenkassen ist vordergründig verständlich, da sie angesichts schwieriger finanzieller Probleme bei gleichzeitigem Zwang zum gegenseitigen Wettbewerb die Thematisierung des Leistungsrechts scheuen. Die Befürchtungen sind jedoch letztlich unbegründet, da das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen einen entscheidenden Beitrag gerade zur Stabilisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung leistet, indem es die Inanspruchnahme zusätzlicher individueller Gesundheits- und Versorgungswünsche dem Bereich der Eigenverantwortung anvertraut.

Auf freiwilliger Basis

Für die Ärzte bedeutsam ist insbesondere der Hinweis, daß kein Arzt und kein Patient gezwungen ist, individuelle Gesundheitsleistungen anzubieten beziehungsweise in Anspruch zu nehmen. Es ist aber legitim, wenn Kassenärzte die erweiterten gesundheitlichen Ansprüche ihrer Patienten aufgreifen und im Sinne einer Optimierung der individualmedizinischen Gesundheitsbetreuung in ihr ärztliches Handeln einbeziehen.

Davon unberührt ist die Frage der Vergütung. Nach der Berufsordnung bleibt es den Ärzten unbenommen, bedürftige Patienten auch im Bereich der individuellen Gesundheitsleistungen unentgeltlich zu behandeln. Auch in diesen Fällen macht es jedoch einen Unterschied, ob die unentgeltliche Behandlung vom Patienten unter der Vorlage der Chipkarte als vermeintlicher „Rechtsanspruch“ eingefordert wird oder ob der Arzt auf der Grundlage des Katalogs der individuellen Gesundheitsleistungen die betreffende Leistung als unentgeltlichen Praxisservice ausweisen kann.

Auch unter diesem Aspekt kann das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen dazu beitragen, die für eine engagierte Patientenbetreuung erforderliche Berufszufriedenheit bei den Ärzten zurückzugewinnen.

Individuelle Gesundheitsleistungen (Beispiele)

Auswahl ärztlicher Leistungen außerhalb der GKV-Zuständigkeit

Vorsorge-Untersuchungen

  • Zusätzliche jährliche Gesundheitsuntersuchung („Intervall-Check“)
  • Ergänzungsuntersuchungen zu den Kinder-Früherkennungsuntersuchungen bis zum 18. Lebensjahr („Kinder-Intervall-Check“)
  • Fachbezogene Gesundheitsuntersuchung auf Wunsch des Patienten („Facharzt-Check“)
  • Umfassende ambulante Vorsorge-Untersuchung („General-Check“)
  • Sonographischer Check-up der inneren Organe („Sono-Check“)
  • Doppler-Sonographie der hirnversorgenden Gefäße bei fehlenden anamnestischen oder klinischen Auffälligkeiten
  • Lungenfunktionsprüfung (z. B. im Rahmen eines „General-Check“)
  • Untersuchung zur Früherkennung des Prostata-Karzinoms mittels Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) und ggf. transrektaler Sonographie
  • Untersuchung zur Früherkennung von Schwachsichtigkeit und Schielen im Kleinkind- und Vorschulalter *
  • Glaukomfrüherkennung mittels Perimetrie, Ophthalmoskopie und/oder Tonometrie *

Freizeit, Urlaub, Sport, Beruf

  • Reisemedizinische Beratung, einschl. Impfberatung
  • Reisemedizinische Impfungen
  • Sportmedizinische Beratung
  • Sportmedizinische Vorsorge-Untersuchung
  • Sportmedizinischer Fitneß-Test
  • Eignungsuntersuchungen (z. B. für Reisen, Flugtauglichkeit, Tauchsport)
  • Ärztliche Berufseignungsuntersuchung

Medizinisch-kosmetische Leistungen

  • Medizinisch-kosmetische Beratung
  • Sonnenlicht- und Hauttyp-Beratung
  • Tests zur Prüfung der Verträglichkeit von Kosmetika
  • Behandlung der androgenetischen Alopezie bei Männern (Glatzenbehandlung)
  • Epilation von Haaren außer bei krankhaftem und entstellendem Haarwuchs an Händen und im Gesicht
  • Ästhetische Operationen (z. B. Facelifting, Nasenkorrektur, Lidkorrektur, Brustkorrektur, Fettabsaugung)
  • Korrektur störender Hautveränderungen außerhalb der GKV-Leistungspflicht
  • Beseitigung von Besenreiser-Varizen
  • Entfernung von Tätowierungen
  • Peeling-Behandlung zur Verbesserung des Hautreliefs
  • UV-Bestrahlungen aus kosmetischen Gründen

Umweltmedizin

  • Umweltmedizinische Erst- und Folgeanamnese *
  • Eingehende umweltmedizinische Beratung *
  • Umweltmedizinische Wohnraumbegehung
  • Umweltmedizinische Schadstoffmessungen
  • Umweltmedizinisches Biomonitoring *
  • Erstellung eines umweltmedizinisch begründeten Behandlungskonzeptes
  • Umweltmedizinisches Gutachten

Psychotherapeutische Angebote

  • Psychotherapeutische Verfahren zur Selbsterfahrung ohne medizinische Indikation
  • Selbstbehauptungstraining
  • Streßbewältigungstraining
  • Entspannungsverfahren als Präventionsleistung
  • Biofeedback-Behandlung
  • Kunst- und Körpertherapien, auch als ergänzende Therapieverfahren
  • Verhaltenstherapie bei Flugangst

Alternative Heilverfahren

  • Akupunktur (z. B. zur Schmerzbehandlung, Allergiebehandlung)*

Ärztliche Serviceleistungen

  • Ärztliche Untersuchungen und Bescheinigungen außerhalb der kassenärztlichen Pflichten auf Wunsch des Patienten (z. B. Bescheinigung für den Besuch von Kindergarten, Schule oder Sportverein oder bei Reiserücktritt)
  • Untersuchung zur Überprüfung des intellektuellen und psychosozialen Leistungsniveaus (z. B. Schullaufbahnberatung auf Wunsch der Eltern)
  • Diät-Beratung ohne Vorliegen einer Erkrankung
  • Gruppenbehandlung bei Adipositas *
  • Raucherentwöhnung
  • Beratung zur Zusammenstellung und Anwendung einer Hausapotheke
  • Beratung zur Selbstmedikation im Rahmen von Prävention und Lebensführung Laboratoriumsdiagnostische Wunschleistungen
  • Blutgruppenbestimmung auf Wunsch
  • Anlaßbezogener Labor-Teiltest auf Patientenwunsch (z. B. Leberwerte, Nierenwerte, Blutfette, Sexualhormone, Schilddrüsenfunktion, HIV-Test)
  • Untersuchung auf Helicobacter-pylori-Besiedlung mittels 13C-Harnstoff-Atemtest als Primärdiagnostik *
  • Zusatzdiagnostik in der Schwangerschaft auf Wunsch der Schwangeren (z. B. AFP, Toxoplasmose, Triple-Test zur Risikoabschätzung des M. Down)
  • Tests zum Ausschluß von Metall-Allergien (z. B. auch Amalgam) ohne Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise

Sonstige Wunschleistungen

  • Kontaktlinsen-Anpassung und -Kontrolle ohne GKV-Indikation zur Kontaktlinsen-Versorgung
  • Zyklusmonitoring bei Kinderwunsch ohne Vorliegen einer Sterilität
  • Zusätzliche sonographische Schwangerschaftsuntersuchung auf Wunsch der Schwangeren bei Nicht-Risiko-Schwangerschaften („Baby-Fernsehen”)
  • Osteodensitometrie zur Früherkennung der Osteoporose
  • Injektion eines nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähigen Arzneimittels auf Wunsch des Patienten (z. B. Vitamin- und Aufbaupräparate, knorpelschützende Substanzen)
  • Beschneidung ohne medizinische Indikation
  • Refertilisationseingriff nach vorangegangener operativer Sterilisation
  • Andrologische Diagnostik (Spermiogramm) ohne Hinweis auf Vorliegen einer Sterilität oder nach Sterilisation
  • Medizinisch nicht indizierte Abklärungsdiagnostik im Rahmen der Beweissicherung nach Drittschädigung (z.B. bei HWS-Schleudertrauma)

Neuartige Untersuchungs- und Behandlungsverfahren

  • Stoßwellentherapie bei orthopädischen Krankheitsbildern *
  • Refraktive Hornhautchirurgie zur Behandlung der Kurzsichtigkeit
  • Bright-light-Therapie der saisonalen Depression
  • Apparative Schlafprofilanalyse zur Diagnostik von Schlafstörungen
  • Isokinetische Muskelfunktionsdiagnostik und -therapie zur Rehabilitation nach Sportverletzungen und orthopädischen Operationen

Anm.: Die mit * gekennzeichneten Leistungen sind individuelle Gesundheitsleistungen, deren Aufnahme in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung diskutiert wird oder diskutiert werden sollte.

 

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Mit dem „IGeL“ aus der Grauzone – Individuelle Gesundheitsleistungen. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 95, Heft 11, 13. März 1998, S. A-578-A-583

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