Die Bedeutung der ärztlichen Fortbildung für das Gesundheitswesen

Arbeit und Sozialpolitik (1996)

Wechselbeziehungen zwischen Fortbildung und Gesundheitswesen

Eine Bemerkung vorweg: Die Titelüberschrift sollte nicht mißverstanden werden. Sie ist nämlich keineswegs etwa so zu verstehen, als handele es sich bei der Bedeutung der Fortbildung für das Gesundheitswesen um eine einseitige Angelegenheit. Fortbildung und insbesondere ärztliche Versorgung stehen vielmehr in einer ausgesprochen dynamischen Wechselbeziehung. Einige der Überlegungen, die im folgenden vorgestellt werden, könnten sogar zu der Vermutung führen, das Thema laute nicht „Bedeutung der Fortbildung für das Gesundheitswesen”, sondern vielmehr „Bedeutung des Gesundheitswesens für die Fortbildung”. Um die angedeuteten Wechselbeziehungen zwischen Fortbildung und Gesundheitswesen zu verdeutlichen, werden im folgenden fünf Thesen zur ärztlichen Fortbildung vorgestellt (s. Abb. 1). Die Thesen zeigen zum einen die vielfältigen Dimensionen ärztlicher Fortbildung auf, weisen aber zum anderen insbesondere auf die unterschiedlichen und teilweise sogar gegensätzlichen Ansprüche hin, die von den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen mit der ärztlichen Fortbildung verbunden werden. Diese Thesen sollen zeigen, daß ärztliche Fortbildung große Möglichkeiten und Chancen eröffnet, andererseits aber auch Zielen unterworfen sein kann, die mit dem überlieferten Selbstverständnis des ärztlichen Berufs nur schwer in Deckung zu bringen sind.

Das große Potential einer konsequenten berufsbegleitenden ärztlichen Fortbildung läßt sich am besten an den traditionellen Inhalten der Fortbildung verdeutlichen. Ohne Fortbildung in ihren vielfältigen Formen wäre das Gesundheitswesen in den entwickelten Ländern heute nicht auf dem hohen Stand, auf den wir zu recht Stolz sein dürfen. In Abbildung 2 sind jeweils zwei Bereiche aus Diagnostik und Therapie aufgeführt, die stellvertretend für die enormen Fortschritte insbesondere der vergangenen beiden Jahrzehnte stehen: die Palette der bildgebenden Verfahren sowie die Laboratoriumsmedizin im diagnostischen Bereich, die Pharmakotherapie und die operativen Techniken im therapeutischen Bereich. Zu ergänzen wären an vorderster Stelle noch die endoskopischen Techniken, die sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie zu zahlreichen revolutionären Fortschritten geführt haben.

Abbildung 1

5 Thesen zur Fortbildung

  1. Fortbildung ist der Katalysator für die Anwendung desmedizinischen Fortschritts in dei Kriinkonvcrsor-gung.
  2. Fortbildung ist die wichtigste Maßnahme tut eine erfolgreiche Vermarktung medizinisch! i Piudukle.
  3. Fortbildung ist die grundlegende Vorai sst l/ung für die Sicherung der Qualität ärztlicher Leistungen.
  4. Fortbildung ist unentbehrlich für das wirtschaftliche Überleben des Arztes.
  5. Fortbildung ist der Schlüssel tur den Erhalt der Finanzierbarkeit einer sozialen Krankenversicherung.

 

Abbildung 2

Traditionelle Inhalte ärztlicher Fortbildung

Diagnostik
– Bildgebende Verfahren
– Laboratoriumsdiagnostik

Therapie
– Pharmakotherapie
– Operative Techniken

Fortschritte in der Medizin gibt es jedoch bekanntlich nicht zum Nulltarif. Dies gilt sowohl für die Entwicklung neuer Techniken als auch hinsichtlich ihrer breiten Anwendung in der Krankenversorgung. Medizinische Forschung und auf die Anwendung der Forschungsergebnisse gerichtete ärztliche Fortbildung müssen daher finanziert werden. Auf diese Weise kommen, ob dies von der Ärzteschaft nun gutgeheißen wird oder nicht, erhebliehe finanzielle Interessen ins Spiel. Das Gesundheitswesen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in den entwickelten Ländern zu einem bedeutsamen Wirtschaftsfaktor entwickelt. In den meisten Staaten Westeuropas werden fast 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes auf die Gesundheitsversorgung verwendet. In Deutschland sind dies heute schon rund 450 Mrd. DM pro Jahr.

Es kann daher nicht ausbleiben, daß diejenigen Akteure im Gesundheitswesen, die von der Anwendung ihrer Produkte wirtschaftlich abhängig sind, nachhaltig versuchen, auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin einerseits und die ärztliche Fortbildung andererseits Einfluß zu nehmen. Die einzelnen Elemente dieser Einflußnahme durchdringen heute bereits den gesamten Medizinbetrieb. Sie reichen von der Drittmittelfinanzierung medizinischer Fakultäten bis zur überbordenden Anzeigenpräsenz in den medizinischen Fachzeitschriften.

Fortbildung als Produktmarketing?

In dieser Einflußnahme insbesondere durch die pharmazeutische und die medizintechnische Industrie liegt eine große Gefahr für die ärztliche Fortbildung, die Gefahr nämlich, daß auf diese Weise Medizin und ärztliches Handeln allmählich von der Patientenorientierung in die Produktorientierung abgleiten. Um dies zu verhindern, müssen die für die ärztliche Fortbildung Verantwortlichen zunächst einmal überhaupt realisieren, daß starke wirtschaftliche Interessen danach trachten, auf die Gestaltung der Fortbildung Einfluß zu nehmen. Die erheblichen Risiken, die von dieser Entwicklung ausgehen, liegen vielleicht gar nicht so sehr in diesem Versuch der Einflußnahme selbst, sondern vielmehr in der Tatsache, daß sich die Ärzteschaft der massiven Einflußnahme nicht durchgehend bewußt ist oder aber -teilweise vielleicht sogar aus eigenen wirtschaftlichen Interessen – diese offensichtliche Gefährdung systematisch verdrängt.

Natürlich muß in diesem Kontext die Frage gestellt werden, wer denn die Mittel bereitstellen soll, die für die Finanzierung einer unabhängigen ärztlichen Fortbildung erforderlich sind. Zunehmend mehr Ärzte sind inzwischen davon überzeugt, daß diese Mittel nur aus der Ärzteschaft selbst kommen dürfen. Selbstverständlich sind auch die Kostenträger für die ärztliche Versorgung, im wesentlichen also die gesetzlichen Krankenkassen, in die Pflicht zu nehmen. Dies darf allerding nicht zu einer direkten Finanzierung der ärztlichen Fortbildung durch die Krankenkasse führen, da auch dies letztlich auf eine Fremdbestimmung der Fortbildungsinhalte hinauslaufen würde.

Statt dessen sollten die Krankenkassen Finanzmittel aus künftigen Rationalisierungsgewinnen in einen Fond einbringen, aus dem die ärztliche Fortbildung finanziert wird. Der Rest der erforderlichen Finanzierung muß dann von den Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen – und damit letztlich von der Ärzteschaft selbst – aus eigenen Mitteln aufgebracht werden.

Die dritte These bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Fortbildung und Qualitätssicherung. Die Verbindung dieser beiden Begriffe ist so offensichtlich und bereits an anderer Stelle so intensiv thematisiert worden, daß hier auf weitergehende Ausführungen verzichtet wird. Hinzuweisen ist vielleicht noch darauf, daß sich in Deutschland – unterstützt durch die Kassenärztlichen Vereinigungen – in den letzten Jahren mit dem Instrument der sogenannten Qualitätszirkel neue vielversprechende Formen der fortbildungsgestützten Qualitätssicherung etabliert haben. Ziel dieser Qualitätszirkel ist nicht nur die Reflexion der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit – etwa im Sinne des „peer review“ -, sondern auch die Diskussion klinischer Standards im Hinblick auf die Anwendung unter den spezifischen Bedingungen insbesondere des ambulanten Arzt-Patienten-Kontaktes. Auch in diesem Feld ist leider der Versuch insbesondere der pharmazeutischen Industrie zu konstatieren, über eine Einflußnahme auf die Inhalte der Qualitätszirkelarbeit insbesondere das Verordnungsverhalten der Ärzte mitzubestimmen.

Fortbildung als „Überlebenstraining“

Eine nicht zu unterschätzende Triebkraft für die ärztliche Fortbildung ist der indirekte statusbezogene oder direkte ökonomische Gewinn, der für die einzelnen Ärzte mit der Wahrnehmung von Fortbildungsangeboten verbunden ist. In der vierten These wird dies in die etwas pointierte Formulierung gebracht, daß Fortbildung heute unentbehrlich für das wirtschaftliche Überleben vor allem des niedergelassenen Arztes ist. Dies gilt insbesondere für die Verhältnisse in Deutschland, wo eine – gemessen an den ökonomischen Möglichkeiten dieses Landes -erhebliche Überversorgung mit Ärzten zu konstatieren ist, die wohl leider bereits sehr kurzfristig zu einem deutlichen Anstieg der Zahl arbeitsloser Ärzte führen wird. Die Bedeutung der Fortbildung für die wirtschaftliche Positionierung des einzelnen Arztes hat insbesondere im Verlauf der 80er Jahre erheblich zugenommen.

In den 80er Jahren hat sich nämlich etwas abgespielt, was als „multidimensionaler Paradigmenwechsel“ in der Medizin bezeichnet werden könnte, auch wenn Umberto Eco als sprachlicher Urheber des Paradigmenwechsels sich von dieser Begriffskombination möglicherweise mit Grauen abwenden würde (s. Abb. 3).

 

Abbildung 3
Inhalte ärztlicher Fortbildung nach dem multidimensionalen Paradiamenwechsel der 80er lahre

Medizinisch
– Psychosomatik
– Präventivmedizin
– Alternative Heilverfahren

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Qualitätssicherung
– Standards
– Qualitätszirkel

Informationstechnologie (IT)
– Praxis-EDV
– Kommunikation

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Ökonomisch
Betriebswirtschaftliche Optimierung
– Praxismanagement
– Praxismarketing

Kostendämpfung
– Rationalisierung/Wirtschaftlichkeit
– Häufige Gesetzesnovellen

Wettbewerb im Gesundheitswesen
– Managed Care
– Vernetzte Praxen

Rationierung:
– Triage

Es ist schon gewaltig, welches Ausmaß an Neuerungen in den vergangenen Jahren auf die Ärzteschaft eingeströmt ist. Dabei fordert bereits der medizinische Fortschritt in Diagnostik und Therapie die ganze Aufmerksamkeit des Arztes, um gerade auch aus haftungsrechtlichen Gründen den Patienten stets den neuesten Stand der Medizin anbieten zu können. Daneben sind jedoch weitere medizinische und ökonomische Innovationen in die ärztliche Praxis eingedrungen. In medizinischer Hinsicht haben die Psychosomatik, die Präventivmedizin sowie letztlich auch alternative Heilverfahren das traditionelle Medizinverständnis erweitert und damit auch das Spektrum der Fortbildungsangebote in verschiedenster Hinsicht ergänzt. Die Qualitätssicherung als weiterer Aspekt der ärztlichen Fortbildung wurde bereits erwähnt. Neu ist in dieser „Zwischenzone“ zwischen Medizin und Ökonomie der Einfluß der fortschreitenden Informationstechnologie auf den ärztlichen Alltag. Heute sind bereits 60 Prozent der niedergelassenen Ärzte in Deutschland mit einer Praxis-EDV ausgestattet. Dieser Aspekt wird – insbesondere aufgrund der damit verbundenen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten – den ärztlichen Alltag mehr revolutionieren, als jedes andere medizintechnische Verfahren.

Der „Praxismanager“ als Leitbild?

Von noch größerer Bedeutung für die künftige Entwicklung der Medizin und insbesondere der ambulanten ärztlichen Versorgung sind jedoch die ökonomischen Zwänge, denen sich die Gesundheitssysteme nunmehr auch in den entwickelten Ländern angesichts zunehmend eingeschränkter finanzieller Ressourcen ausgesetzt sehen. Die ökonomischen Aspekte haben ein rasch wachsendes, weitgehend eigenständiges Fortbildungsangebot entstehen lasen, das die Fortbildungskapazitäten der Ärzteschaft in zunehmendem Maße bindet und leider auch von medizinischen Fortbildungsinhalten ablenkt. Dabei steht die betriebswirtschaftliche Optimierung sowohl der Praxis als auch der Krankenhausabteilung im Vordergrund. Begriffe wie „Praxismanagement“ und „Praxismarketing“ zeigen, daß sich das ärztliche Berufsbild in einem dramatischen Wandlungsprozeß befindet, so daß es manchmal schon heute den Anschein hat, daß einen guten Arzt eher die Managerqualitäten und weniger die eigentlichen ärztlichen Qualitäten auszeichnen.

Hinzu kommt, daß der Arzt jenseits der individuellen betriebswirtschaftlichen Ausrichtung zunehmend unter den Einfluß der gesundheitspolitischen Diskussion zur Kostendämpfung gerät. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in irgendeiner Pressemitteilung auf Wirtschaftlichkeitsreserven, Rationalisierungsmöglichkeiten oder gesundheitspolitische Gesetzesnovellen hingewiesen wird Seit der Ankündigung einer dritten Stufe der Gesundheitsreform wird die Diskussion gerade in Deutschland zusätzlich durch das Thema „Wettbewerb im Gesundheitswesen“ beherrscht. Begriffe wie Managed-Care, Einkaufsmodelle, vernetzte Praxen, Primärarztsystem und kombinierte Budgets beherrschen die Diskussion. Sowenig konkret eine Umsetzung dieser schönen neuen Begriffswelten unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen auch sein mag, sie tragen dennoch zu einer nicht unerheblichen Verunsicherung der Ärzteschaft bei und ziehen auch einen Teil der Fortbildungskapazitäten auf sich. Inzwischen lebt eine ganze Veranstaltungsindustrie von einem rasch wachsenden Markt unterschiedlichster Symposien und Seminare, in denen mehr oder weniger intelligente Hypothesen insbesondere zu Managed-Care-Mo-dellen ein ums andere Mal breitgetreten werden.

Rationalisierung als ethische Verpflichtung

Diese Entwicklung, die in den vergangenen Jahren über die Ärzteschaft richtiggehend „hereingebrochen“ ist, bietet allerdings auch eine Chance gerade für neue Konzepte in der ärztlichen Fortbildung. Dabei eröffnet sich erstmals die Möglichkeit, Fortbildung so auszurichten, daß sie zur Sicherung der Fortschritte in der Medizin unter gleichzeitiger Berücksichtigung der ökonomischen Gegebenheiten beiträgt.

In der fünften These wird dies in dem Bild zusammengefaßt, daß eine so verstandene Fortbildung der Schlüssel für den Erhalte der Finanzierbarkeit einer sozialen Krankenversicherung ist. Für die Ärzteschaft ist dies eine Herausforderung ganz neuer Art. Aber diese Herausforderung muß angenommen werden, da es zum ureigensten Anliegen der Ärzteschaft gehört, nicht nur für den medizinischen Fortschritt zu sorgen, sondern gleichzeitig alles zu tun, um das medizinisch Mögliche auch allen Bürgern gleichermaßen zur Verfügung zu stellen.

Fortbildung wird sich unter diesem Aspekt zunehmend einer ökonomisch beeinflußten Standardisierung ärztlichen Verhaltens öffnen müssen. Dies bedeutet insbesondere, bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven in der Versorgung im Sinne einer zumutbaren Rationalisierung zu nutzen. Auf diese Weise kann Fortbildung dazu beitragen, wenigstens ein wenig Zeit zu gewinnen, bis irgendwann einmal die sicherlich unvermeidliche Diskussion um eine Rationierung von Gesundheitsleistungen überhand nimmt.

Mit den fünf vorgestellten Thesen wurde versucht, die unterschiedlichen Dimensionen ärztlicher Fortbildung, die gegenseitige Einflußnahme dieser Dimensionen sowie ihre Auswirkungen auf die Entwicklung unseres Gesundheitswesens aufzuzeigen. Die Vernetzung und die gegenseitige Abhängigkeit der beschriebenen Entwicklungen sollen abschließend nochmals anhand eines Schaubildes verdeutlicht werden. In Abbildung 4 steht die „Fortbildung“ im Mittelpunkt und daneben sind ihre Beziehungen zu den Begriffen Fortschritt, Effizienz, Qualitätssicherung und Ökonomie angedeutet. Jedes der dargestellten Begriffspaare entfaltet eine eigenständige Dynamik, die zu vielfältigen Spekulationen Anlaß geben könnte.

Dimensionen ärztlicher Fortbildung

Abbildung 4: Dimensionen ärztlicher Fortbildung

Wie werden sich Fortschritt und Ökonomie auf lange sich miteinander vertragen? Werden Ökonomie und Marketing die Qualitätssicherung ärztlichen Handelns und die Setzung von Standards zunehmend beeinflussen?

Die entscheidende Frage liegt jedoch möglicherweise in dem in der Abbildung rechts dargestellten Begriffspaar: Wird die Effizienz der medizinischen Versorgung in einem Maße gesteigert werden können, daß die Fortschritte der Medizin noch auf lange Sicht möglichst vielen Bürgern zur Verfügung gestellt werden können? Die Beantwortung dieser Frage ist auch mitentscheidend für den Erhalt des Sozialsystems und damit auch des sozialen Friedens in unserer Gesellschaft. Dies ist die vielleicht größte Herausforderung für die künftige Gestaltung der ärztlichen Fortbildung.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Die Bedeutung der ärztlichen Fortbildung für das Gesundheitswesen. In: Arbeit und Sozialpolitik 9-10/96.

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