Die demographische Chance

ARZT & WIRTSCHAFT (2004)
Die demographische Chance

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Noch immer tun sich Politiker, Ärzte und Gesundheitsökonomen schwer mit Prognosen zur Entwicklung des Gesundheitswesens. Ist von Demographie die Rede, fällt sofort der Begriff der demographischen Zeitbombe. Und über bahnbrechende Innovationen freut sich kaum jemand, weil sofort gefragt wird, ob sich das denn auch wirklich alle werden leisten können.

Dabei ist die demographische Herausforderung vor allem eine demographische Chance! Denn eines steht schon heute fest: Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird allein aus demographischen Gründen von heute elf Prozent auf mindestens 14 Prozent im Jahr 2015 und mindestens 17 Prozent im Jahr 2030 steigen. Die Zahlungsbereitschaft der Deutschen für ein längeres und gesünderes Leben ist groß. Sie werden daher diese Mittel aufbringen und sie können sich dies auch leisten. Denn die neuen Alten sind fitter und leben länger als ihre Vorgängergeneration. Und sie verfügen als erste von Kriegen verschonte Erbengeneration über weitaus mehr finanzielle Mittel. Damit wird der Gesundheitsmarkt nicht etwa zum Sargnagel, sondern zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Um die gesundheitlichen Ansprüche des Millionenheers gutsituierter Rentner bedienen zu können, werden allein bis zum Jahr 2020 mehr als 500.000 neue Arbeitsplätze im deutschen Gesundheitsmarkt entstehen.

Ein Markt für Zusatz- und Spitzenversorgung

Aufgabe einer modernen Gesundheitspolitik ist es, die wirtschaftlichen Chancen eines durch Innovationen und individuelle Wünsche getriebenen Gesundheitsmarkts zur Entfaltung zu bringen, ohne die für den Erhalt des sozialen Friedens notwendige solidarisch finanzierte Grundversorgung zu vernachlässigen. Hierfür sind drei Entwicklungen unvermeidbar:

  1. Die Gesundheitskosten werden vom „Faktor Arbeit“ vollständig entkoppelt. Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge werden als Lohnbestandteil ausbezahlt.
  2. Die Solidargemeinschaft der Versicherten wird deutlich höhere Beitragssätze in Kauf nehmen, um bei zunehmendem Versorgungsbedarf an der medizinischen Innovation teilzuhaben. Die Beitragssätze werden von heute 14 auf 16 Prozent im Jahr 2015 und 18 Prozent im Jahr 2030 steigen.
  3. Zudem wird sich ein Markt der Zusatz- und Spitzenversorgung für etwa 20 Millionen Bürger etablieren, die das Bestmögliche für ihre Gesunderhaltung und die Behandlung im Krankheitsfall wollen.

Als Bremser solcher notwendigen Entwicklungen haben sich in der Vergangenheit außer ewiggestrigen Gewerkschaftlern vor allem manche Funktionäre der Ärztekammern hervorgetan, die ihren Gerechtigkeitssinn im besten teutonischen Sinne regelmäßig an den deutschen Außengrenzen abzulegen scheinen. Doch die unterschiedlichen Ansprüche an die eigene Gesundheit und die unterschiedlichen finanziellen Ressourcen sind auch und gerade im 21. Jahrhundert eine internationale gesellschaftliche Realität. Und spätestens nach der ab dem Jahr 2020 erwarteten Realisierung eines europaweiten Gesundheitswesens werden sich die 100 Millionen gutsituierten EU-Bürger ohnehin nicht mehr vorschreiben lassen, was sie für ihre Gesundheit ausgeben wollen.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Die demographische Chance – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 10/2004

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