„Die KV wird zum KdF-Verein“

Nordlicht aktuell (2002)
Dr. med. Lothar Krimmel

Sieht die Niedergelassenen als Dienstleister auf einem ordinären Markt:
Dr. med. Lothar Krimmel

Im Nordlicht-Interview erläutert Dr. Lothar Krimmel, Vorstandsvorsitzender der MedWell Gesundheits-AG, seine Einschätzung über Einkommenschancen der Ärzte und die Zukunft des Gesundheitswesens

Nordlicht: Die Einkommen der niedergelassenen Ärzte stagnieren oder sind sogar rückläufig, während die gesetzlichen Krankenkassen gleichzeitig mit Defiziten zu kämpfen haben. Was raten Sie den Medizinern in dieser Situation?

Dr. Krimmel: Die Honoraraussichten für die niedergelassenen Ärzte sind ausgesprochen düster. Ich erwarte auch für die nächsten Jahre einen Rückgang der Realeinkommen je Arzt aus kassenärztlicher Tätigkeit von 2 Prozent pro Jahr. Leider wird auch die in den vergangenen Jahren erfolgreiche Kompensation aus dem Bereich der privatversicherten Patienten nicht mehr funktionieren können, da zum einen die PKV zum Beispiel durch Rechnungskürzungen massiv gegensteuern wird und weil es zum andern offensichtlich politisch ausgemachte Sache ist, die Versicherungspflichtgrenze zu erhöhen und damit die Zahl der Privatpatienten zurückzufahren.

Gleichzeitig werden die Ärzte für das schwindende Honorar in der kassenärztlichen Versorgung immer mehr Leistungen erbringen müssen. Dafür sprechen nicht nur die Disease-Management-Programme (DMP), sondern vor allem auch die Umstellung der Krankenhausvergütungen auf DRG’s. Das Stichwort heißt hier „blutige Entlassung“, also ein erhöhter ambulanter Versorgungsbedarf ohne entsprechenden Honorarausgleich.

Dem einzelnen Arzt bleibt in diesem Szenario eigentlich nur noch übrig, bis zur Rente auszuharren, in ein Angestelltenverhältnis zu flüchten oder aber wirklich das Praxisschicksal in die eigenen Hände zu nehmen und ganz gezielt seine ärztliche Kompetenz für die Erschließung des privatmedizinischen Zweiten Gesundheitsmarktes einzusetzen.

Nordlicht: Ist es Ihrer Ansicht nach durch die Einführung eines modernen Praxismanagements möglich, höheren Umsatz zu erreichen?

Dr. Krimmel: Ja, unbedingt. Ich glaube, dass im Bereich der Gesundheitsangebote außerhalb der GKV in der durchschnittlichen Praxis eine Umsatzreserve von 10 Prozent schlummert. Davon kann man schon mal ab und zu wieder ins Kino gehen.

Nordlicht:Welche Voraussetzungen muss ein Mediziner neben seiner fachlichen Kompetenz heute erfüllen, wenn er sich niederlassen will?

Dr. Krimmel: Er muss sich natürlich Kompetenzen im Bereich von Marketing und wirtschaftlicher Praxisführung aneignen. Aber vielleicht ändert sich ja doch bald alles radikal, wenn Ulla Schmidt ihre Ankündigung wahr macht und Ärztehäuser mit angestellten Ärzten künftig auch in Westdeutschland zulässt.

Dann gäbe es den 9-bis-5-Uhr-Job mit sechs Wochen Urlaub, zusätzlichem Fortbildungsurlaub und das Recht auf Abwesenheit im Krankheitsfall endlich auch in der ambulanten Versorgung – und das alles ohne Regressdruck! Die KV könnte man dann zu einer Art KdF-Verein umgestalten, der die kollegiale Freizeitgestaltung organisiert.

Nordlicht: Glauben Sie, dass die Krankenkassen angesichts der sich verändernden Altersstruktur in Deutschland bei den Leistungen bleiben können?

Dr. Krimmel: Man muss nur eins und eins zusammenzählen können, um zum Ergebnis zu kommen, dass medizinischer Fortschritt und steigende Lebenserwartung auf der einen Seite nicht mit abnehmenden Kassenfinanzen auf der anderen Seite zur Deckung zu bringen sind. Wenn Ulla Schmidt in dieser Situation zusammen mit ihrem „verrückten Professor“ Lauterbach den Fokus des politischen Handelns auf „Qualität und Wirtschaftlichkeitsreserven“ setzt, zielt sie haarscharf an den Problemen vorbei und bewirbt sich im Grunde schon um ihre Entlassungsurkunde.

Nordlicht: Falls die Kassen nicht mehr alles anbieten können: Schlägt dann die Stunde von Anbietern wie der MedWell AG?

Dr. Krimmel: Der MedWell-Ansatz ist eigentlich weitgehend unabhängig von aktuellen Überlegungen und Zwängen. Wir wollen mit innovativen Konzepten den Zweiten Gesundheitsmarkt außerhalb der Kassenmedizin attraktiv und gleichzeitig unumkehrbar machen. Dabei warten wir nicht auf irgendeine Zukunft.

Das Leistungsrecht der GKV ist schon heute so stringent, dass die Kassen bei 20-30 Prozent des Gesundheitsmarkts ohnehin außen vor sind. In der MEGO, dem MedWell-Gebührenverzeichnis, haben wir mehr als 300 IGeL-Angebote gelistet.

Dass die Kassen angeblich erst in irgendeiner Zukunft „nicht mehr alles bezahlen“ können sollen, hatte nie etwas mit den leistungsrechtlichen Grundlagen der GKV zu tun, sondern das hat sich immer nur in den Köpfen der Ärzte abgespielt, die für ihre Patienten immer möglichst alles „kostenlos“ anschaffen wollten. Diese Haltung ist übrigens als kollektives Phänomen in der Historie der Ärzteschaft einmalig und ein Produkt der einzigartigen Konstellationen im Nachkriegs-Deutschland.

In Wahrheit symbolisiert dieses Verhalten der Ärzte und das hierdurch gezüchtete Anspruchsverhalten der Patienten eine fatale Degeneration der Wertegemeinschaft einer solidarischen Krankenversicherung. Es gibt keinen größeren Sprengsatz für eine Solidarversicherung als das Massenphänomen der unsolidarischen Inanspruchnahme der Leistungen.

Wenn Sie heute einem „normalen“ GKV-Mitglied erklären, dass er die Hepatitis-A-Impfung für seine Türkei-Reise selbst zu bezahlen hat, hören sie etwa folgendes: „Gut, dann fahre ich eben ohne Impfung in die Türkei und bekomme meine Hepatitis – dann sieht die Kasse, was sie davon hat.“ Briten, Franzosen und Amerikaner erklären uns wegen dieser Haltung fast schon kollektiv für verrückt. Die Deutschen verlernen immer mehr, dass sie selbst – und niemand anderes – für ihre Gesundheit verantwortlich sind. Bereits die gegenüber IGeL-Angeboten häufig geäußerte Kritik, hier müsse der Bürger doch etwas „aus eigener Tasche bezahlen“, ist in höchstem Maße verräterisch.

Die darin zum Ausdruck kommende St. Florians-Mentalität lässt auch für die finanzielle Zukunft der GKV nichts Gutes ahnen. Denn aus wessen Tasche bitte schön – sollen denn sonst die Kosten für Gesundheitsleistungen bezahlt werden, wenn nicht aus denen des Bürgers?

Nordlicht: Können denn Gesundheitsleistungen überhaupt marktfähig sein? Müssen unsere höchsten Güter – Leben und Gesundheit – nicht vielmehr unabhängig von Marktmechanismen sichergestellt werden?

Dr. Krimmel: Die moderne Medizin ermöglicht heutzutage nicht nur wichtige medizinische Grundleistungen wie lebensverlängernde Maßnahmen oder Schmerzfreiheit; sie besetzt vielmehr zunehmend auch Felder wie Wellness, Fitness, Lifestyle, Komfort, Schönheit und Sicherheit. Die Inanspruchnahme der betreffenden Leistungen obliegt stets der persönlichen Entscheidung des Einzelnen und kann daher niemals von einer solidarischen Krankenversicherung umfasst werden.

Es gibt keinen ethischen, sozialpolitischen oder rechtlichen Grund, die medizinischen Dienstleistungen außerhalb einer notwendigen Grund Versorgung aus solchen Allokationsentscheidungen auszublenden.

Nordlicht: Sind Sie der Ansicht, dass die Bundesbürger bereit sind, für mehr Sicherheit und Wohlbefinden im gesundheitlichen Bereich auch mehr Geld auszugeben?

Dr. Krimmel: Nach einer im September 2001 veröffentlichten EMNID-Umfrage meinen 68 Prozent und damit mehr als zwei Drittel der Befragten, dass es in Deutschland eine Zwei-Klassen-Medizin gibt. Dementsprechend glauben 70 Prozent der Befragten, dass Kassenpatienten eine schlechtere Gesundheitsversorgung als Privatpatienten erhalten.

Das potentielle Marktvolumen der privatmedizinischen Zusatzversorgung jenseits der GKV-Grenzen wird – nur für den ambulanten ärztlichen Bereich, also zum Beispiel ohne Arzneimittel oder Zahnmedizin – auf etwa 15 Prozent des aktuellen vertragsärztlichen GKV-Volumens von 23 Milliarden Euro, und damit auf rund 3,5 Milliarden Euro geschätzt, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich dieses Volumen auf die zwei versicherungsrechtlichen Hauptgruppen (Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte) unterschiedlich verteilt. Hinzu kommt der Bereich der komfortmedizinischen Arzneimittelversorgung außerhalb der budgetierten Kassenmedizin mit einem für das Jahr 2002 geschätzten Umsatzvolumen von rund zwei Milliarden Euro.

Nordlicht: Wie weit sollten die Mediziner Ihrer Ansicht nach bei der Werbung für zusätzliche Dienstleistungen gehen dürfen?

Dr. Krimmel: Das Werbeverbot wird immer weiter aufbrechen, da Patienten ganz einfach ein Recht darauf haben zu erfahren, was ihr Arzt anbietet und welche Qualifikationen er in diesem Zusammenhang erworben hat. Es ist traurig, dass die Ärztekammern mit dem Berufsrecht eigentlich nur noch den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte hinterher hecheln.

Nordlicht: Der kassenärztliche Leistungskatalog befindet sich in einem permanenten Wandel. So könnte es doch dazu kommen, dass bestimmte Individuelle Gesundheitsleistungen, zum Beispiel in der Krebsvorsorge, doch noch in den Katalog aufgenommen werden. Wie kann der Arzt darauf reagieren? Und wie wird die MedWell AG darauf reagieren?

Dr. Krimmel: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die GKV in nächster Zeit wesentliche Vorsorgeleistungen neu aufnehmen wird – vielleicht abgesehen von der Mammographie. Und hier freue ich mich schon auf das anstehende honorarpolitische Tauziehen.

Dass zahlreiche IGeL-Angebote gerade aus dem Bereich der individuellen Vorsorgemedizin kommen, ist im übrigen gut begründet. Denn die gesetzliche Krankenversicherung ist primär für die Krankenbehandlung und nicht für die individuelle Vorsorge zuständig. Nur in wenigen Bereichen darf der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen gesetzliche Leistungen definieren, die sich für eine bevölkerungsweite Früherkennung eignen.

Genau diese „kollektiven“ Kriterien spielen jedoch bei der Entscheidung des Einzelnen über die Wahl einer bestimmten Vorsorgeleistung nicht selten eine untergeordnete Rolle. Für den Einzelnen sind vielmehr Kriterien wie Autonomie, maximale Sicherheit oder individuelle Entängstigung häufig von größerer Bedeutung. Und genau das ist die Domäne der IGeL-Angebote.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel, Dr. Dieter Kienitz (Journalist)

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: „Die KV wird zum KdF-Verein“ – Interview. In: Nordlicht aktuell (Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein, 23795 Bad Segeberg), 10/2002, S. 10-11

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