Lernen vom großen Bruder? Das US-Gesundheitssystem unter der Lupe

Hessisches Ärzteblatt (1998)

Besonderheiten des US-Gesundheitssystems

Für viele ausländische Beobachter genügen zwei Kennzahlen, um sich ein abschließendes Urteil über das Gesundheitssystem in den USA zu bilden: Wer 14 % seines Brutto-Inlandsprodukts für den Gesundheitsbereich ausgibt und gleichzeitig für 15 % seiner Bevölkerung und damit rund 40 Millionen Menschen keinen Versicherungsschutz vorhält, kann nicht über ein gutes Gesundheitswesen verfügen! Doch diesem schnellen Urteil steht bereits die Überzeugung von US-Präsident Clinton und einer Mehrheit seiner Landsleute gegenüber, daß es die USA sind, die über das beste und leistungsfähigste Gesundheitswesen der Welt verfügen. Und in der Tat: für die Vielen, die es sich leisten können, bietet das Gesundheitswesen in den USA nahezu unbegrenzte Möglichkeiten.

Die Eigentümlichkeiten, aber auch die Widersprüche können auf eine Reihe von Besonderheiten des US-Gesundheitssystems zurückgeführt werden:

  • Zum einen ist da der enorme Einfluß der Arbeitgeber. Seit den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als die Arbeitgeber angesichts eines gesetzlichen Lohnstopps durch das Angebot von Krankenversicherungen um die knappen Arbeitskräfte konkurrierten, hat sich der dominierende Einfluß der Arbeitgeber auf die Strukturen des Gesundheitswesens immer weiter gefestigt -ganz im Sinne der „Golden rule“: „He who has the gold, makes the rule!“ So sind es die Arbeitgeber, die mit den HMO’s (Health Maintenance Organization) über die Bedingungen verhandeln, zu denen ihre Beschäftigten gesundheitlich versorgt werden.
  • Ein weiteres Merkmal des US-Gesundheitswesens, welches eine Beurteilung des Gesamt-Systems nahezu unmöglich macht, ist die enorme Vielfältigkeit. Die Aussage: „Das macht man in den USA so!“ ist angesichts unterschiedlichster Strukturen und Varianten nirgendwo so deplaziert wie im Gesundheitswesen. Für ausländische Besucher gilt heute mehr denn je: „If you have seen one HMO, you have just seen one HMO.“
  • Ein drittes Spezifikum ist, daß sich nirgendwo sonst auf der Welt das Gesundheitswesen stärker weg von der „Profession“ und hin zum „Business“ entwickelt hat. Hierfür ist auch und gerade die zunehmende Ausbreitung von HMO’s verantwortlich. Von regierungsamtlichen Stellen wird die Gesundheitsindustrie des Landes teilweise mit kriminellen Vereinigungen gleichgesetzt. So soll das US-Justizministerium bestimmte HMO’s in ihrer „Gefährlichkeit“ nur wenig hinter der Mafia einordnen. Angesichts von sogenannten „Verwaltungskosten“ (d. h. Profitmargen) von im Durchschnitt 15 bis 25 % der Beiträge sind profitorientierte Verhaltensweisen alles andere als verwunderlich. Zum Vergleich: in Deutschland kommen die Krankenkassen mit 5 % und die Kassenärztlichen Vereinigungen gar nur mit 2 % Verwaltungskosten aus.

Versorgung der Unversicherten

Trotz aller berechtigter Kritik darf nicht übersehen werden, daß das US-Gesundheitswesen bei näherer Betrachtung eine ganze Reihe von Erfolgen aufweisen kann. Auch die 40 Millionen Unversicherten sind nicht etwa ohne jede gesundheitliche Versorgung. Die Krankenhäuser sind vielmehr verpflichtet, in ihren Notfallambulanzen (Emergency rooms) auch Unversicherte zu behandeln. Für dieses Patientenklientel bedeutet die Notfallambulanz eine Art von integrierter haus- und fachärztlicher Grundversorgung. Hinzu kommt, daß diese Patienten trotz vollständig fehlenden Versicherungsschutzes bzw. eigener Beitragsleistung durchaus ein weitreichendes Anspruchsdenken im Hinblick auf das Niveau der ärztlichen Versorgung entwickelt haben. Die Krankenhäuser finanzieren diese Versorgung durch Umlage der entstehenden Gemeinkosten auf die anderen Kostenträger, was deren Beiträge dann entsprechend teurer macht.

Kurzdauernder Krankenhausaufenthalt

In dem zentralen Bereich der Krankenhausversorgung können die USA geradezu als leuchtendes Vorbild für das deutsche Gesundheitswesen gelten. So ist die Zahl der Krankenhausbehandlungstage je 1.000 Einwohner in Deutschland mit 2.100 Tagen mehr als sechsmal so hoch wie in den USA mit 330 Tagen. Die deutschen Zahlen werden von US-Amerikanern durchweg mit ungläubigem Erstaunen quittiert. So ist der Anteil der Krankenhausbehandlung an den Gesamtausgaben für Gesundheit in den USA von 1980 bis 1996 von 41,5 % auf 34,6 % zurückgegangen. Man geht dort davon aus, daß die Krankenhausbehandlungstage noch weiter reduziert werden können.

Diese unbedingte Reduktion der teuren Krankenhauspflegetage wird auch als deutlich wichtiger angesehen, als das, was in Deutschland unter dem Begriff der „Verzahnung“ thematisiert wird. Die Verzahnungsdiskussion wird eher als Ablenkungsmanöver von der politisch motivierten, unverständlich hohen Zahl an Krankenhausbehandlungstagen gewertet. Erfolgreiches Kostenmanagement mit Wahl der jeweils richtigen Versorgungsstufe für den Patienten kann nach dortigem Verständnis nicht durch „Verzahnung“, sondern im Gegenteil durch strikte Abschottung und Begrenzung des teuren stationären Leistungssektors auf die unbedingt notwendige Krankenhausbehandlung erreicht werden.

Somit kann als entscheidender Vorteil des US-Gesundheitswesens festgehalten werden, daß dort das Denken in sektoralen Budgetkästchen als absurd angesehen wird, da es den Wettbewerb der unterschiedlichen Leistungssektoren künstlich behindert. In den HMO’s der USA wird beispielsweise durchaus akzeptiert, daß der Einsatz einer fortschrittlichen Arzneimittelbehandlung geeignet sein kann, die Zahl der Krankenhauspflegetage weiter zu verringern. So sind die Arzneimittelausgaben in den Jahren 1994 und 1995 um 15 % pro Jahr gestiegen, während der Anteil der Krankenhausausgaben im selben Zeitraum weiter zurückgegangen ist. Ähnliche Erfolge sind in Deutschland bis heute völlig undenkbar, da hier die Arzneimittelausgaben selektiv einem starren Budget unterzogen sind, während den Krankenhausausgaben auf der Grundlage eines politisch motivierten Unterstützungsgeflechts ein nahezu ungebremster Ausgabenanstieg zugestanden wird.

Disease Management

Eine weitere Innovation, die in ihren Ursprüngen auf den unbedingten Willen zum Kostenmanagement zurückgeht, bedeuten die von den US-HMO’s aufgelegten Programme zum sogenannten „Disease Management“. Durch spezifische Versorgungsmaßnahmen konnten in diesen Programmen die Kosten bei gleichzeitig steigender Patientenzufriedenheit in bezug auf einige chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus und Asthma bronchiale entscheidend gesenkt werden. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Einführung von Disease Management-Programmen in den USA nur in den seltensten Fällen unter dem Gesichtspunkt einer langfristigen Verbesserung der Gesundheit der HMO-Mitglieder erfolgt. Die Erfolgsbeurteilung wird vielmehr stets anhand eines möglichst kurzfristigen „Return on investment“ vorgenommen, da eine Versicherungszeit von z.B. 5 Jahren angesichts der hohen Mobilität der Versicherten und der großen Wettbewerbsintensität des HMO-Marktes bereits als eine lange Versicherungszeit gewertet wird.

Deutschland im Vergleich

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie groß die Chancen des deutschen Gesundheitswesens sind, bei deutlich stabileren Grundvoraussetzungen von fortschrittlichen krankheitsbezogenen Management-Techniken zu profitieren. Berücksichtigt man alleine die Tatsache, daß auf dem wettbewerblich orientierten US-Gesundheitsmarkt Tausende von unterschiedlichen Rezeptformularen existieren, die mit aufwendigstem technischen und personellen Einsatz zum Zweck der Datenerhebung zusammengeführt werden müssen, während im selbstverwalteten deutschen Gesundheitswesen es bereits seit Jahrzehnten ein einheitliches Rezeptformular für 110.000 Ärzte und 72 Millionen Versicherte gibt, so kann der enorme Vorsprung des deutschen Gesundheitswesens und die Chancen für die Adaption fortschrittlicher Management-Verfahren erahnt werden.

Gerade vor diesem Hintergrund käme es einem unverantwortlichen Vabanquespiel gleich, wenn die bewährten „Managed Care“-Strukturen der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen zugunsten eines gegenseitigen wettbewerblichen Kleinkrieges von zu Profit-Centern mutierten Krankenkassen zerstört würden. Es kann daher nur darum gehen, diese bewährten Strukturen zu nutzen, um durch Integration neuer Versorgungsformen und Behandlungsgrundsätzen wie vernetzte Praxen und Disease Management die Interessen von Versicherten und Patienten an einer optimalen und dabei gleichzeitig bezahlbaren Versorgung in den Mittelpunkt zu stellen.

Aufgabe der Ärzte in Deutschland

Die Krankenkassen alleine werden dies nicht leisten können. Sie sind lediglich die Anwälte der Versicherten. Die Anwälte der Kranken und der „schlechten Risiken“ sind die Ärzte. Seit dem Eintritt der GKV in das Zeitalter des Wettbewerbs droht die Krankenkasse zum „natürlichen Feind“ des Kranken zu werden. Der Namenswechsel zur „Gesundheitskasse“ deutet die Richtung bereits an. Es bedarf eines stabilen Ausgleichs mit der organisierten Ärzteschaft, um dies zu verhindern. Nur einer gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen wird es gelingen, die sinnvollen Entwicklungen des US-Gesundheitswesens zu adaptieren, ohne in eine vollständige „Amerikanisierung“ abzugleiten.

Wer dagegen das „Einkaufsmodell“ sät, wird die Stigmatisierung und Ausgrenzung des Kranken ernten. Denn eine gesetzliche Krankenversicherung – so die Warnung eines bekannten US-Gesundheitsökonomen – die weiterhin wie entfesselt versucht, auf dem Rücken des Tigers mit Namen „wettbewerbliches Gesundheitswesen“ zu reiten, wird in seinem Magen landen. Der Grundsatz: „Ein bißchen schwanger gibt es nicht!“ gilt gerade auch für die künftige Richtungsentscheidung im Gesundheitswesen.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Lernen vom großen Bruder? Das US-Gesundheitssystem unter der Lupe. In: Hessisches Ärzteblatt, 12/1998, S. 387f.

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