Schluss mit dem Bürokratiewahn!

ARZT & WIRTSCHAFT (2004)
Schluss mit dem Bürokratiewahn!

Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel

Einen Vorteil hat die Einführung der Praxisgebühr in jedem Fall: Erstmals gelangt ins öffentliche Bewusstsein, in welchem Ausmaß die Gesundheitspolitik durch bürokratische Eingriffe den Kassenärzten die Zeit für die Patientenversorgung raubt. Irritierend ist lediglich, dass in den Medien die eigentliche Kernbotschaft dieses Skandals noch nicht angekommen ist, dass nämlich eine patientenferne Gesundheitspolitik die mit Abstand größte Gefahr für die Qualität der Patientenversorgung ist.

Kostenlose Mehrarbeit? Für Ulla Schmidt kein Problem

Zehn Prozent kostenlose Mehrarbeit wegen der Praxisgebühr? Nochmals 30 Stunden Mehrarbeit für die ICD-Umstellung? Kassenanfragen, Überweisungswünsche, Befreiungsbescheide, DMP-Dokumentation, Medizinproduktegesetz? Für Ulla Schmidt kein Problem! Denn wenn die Ärzte angesichts dieser Belastungen trotz steigender Morbiditätslast die Zeit für die Patientenversorgung zurückfahren müssen, hat sie natürlich wieder eine Lösung parat: Ein Zwangssystem für Qualitätsmanagement, dessen Implementierung die Ärzte nochmals Stunden und Tage aus der Patientenversorgung abzieht. Und wie zum Hohn kommt noch der Vorwurf, die Ärzte würden zu wenig Zeit für Fortbildung aufwenden, weshalb bürokratische Zwangsmaßnahmen die einzig richtige Antwort seien.

Niemand bestreitet, dass in einer zunehmend komplexer werdenden Welt auch die Steuerung von Gesundheitssystemen komplizierter wird. Aber es ist inakzeptabel, dass in den Diskussionszirkeln der Politeliten stets von Qualitätsmängeln der Ärzte die Rede ist, es aber keinerlei Bewusstsein für die massiv qualitätsmindernden Effekte des eigenen politischen Handelns gibt. Auch von den teils selbsternannten Sachverständigen ist keine Hilfe zu erwarten. Sie aalen sich im Bürokratiewahn der Gesundheitspolitik und denken nicht daran, das einträgliche Geschäft des kollektiven Ärzte-Mobbings zurückzufahren.

Nein! Ärzte und Patienten müssen endlich mit der Faust auf den Tisch schlagen und das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Der Zusammenhang zwischen Bürokratiewahn und Qualitätseinbußen muss ins öffentliche Bewusstsein transportiert werden. Es ist außerdem eines der wenigen Themen, mit dem Ärzte den Spieß herumdrehen und die Politiker und Kassenfunktionäre vor sich hertreiben können.

Als Sofortmaßnahme sollte die KBV einen Bürokratieabbau-Beauftragten benennen, der quartalsweise einen Bürokratie-Report erstellt und in der Öffentlichkeit präsentiert. Parallel dazu sollte das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) eine Studie in Auftrag geben, um das Ausmaß der bürokratischen Belastung im Gesundheitswesen und die qualitätsmindernden Effekte auf die Patientenversorgung wissenschaftlich zu untersuchen.

Auch den Patientenvertretern im Bundesausschuss sollte allmählich der Zusammenhang zwischen Bürokratie und Versorgungsqualität klar werden. Eine zentrale Rolle wird der neuen Patientenbeauftragten zukommen. Wenn Helga Kühn- Mengel nicht gegen den Bürokratiewahn ihrer Parlamentskollegen aufbegehrt, macht sie sich unglaubwürdig und degradiert sich zum verlängerten Arm einer patientenfernen Gesundheitspolitik.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Schluss mit dem Bürokratiewahn! – Ceterum Censeo: Gesundheitspolitische Kommentare von Dr. med. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), 02/2004

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