Strukturverträge und Modellvorhaben aus kassenärztlicher Sicht

Reformoptionen im Gesundheitswesen (1997)

Vorbemerkung

„Nichts auf der Welt ist stärker als eine Idee, für welche die Zeit gekommen ist.“ Diese aphoristische Beschreibung menschlicher Begeisterungsfähigkeit, die in der wechselvollen Geschichte der Menschheit bereits des öfteren ihre Bestätigung gefunden hat, ist auch geeignet, die aktuellen Aktivitäten von Ärzten und Krankenkassen bei der Umgestaltung der Versorgungsstrukturen in Richtung auf vernetzte Systeme zu beschreiben. In allen Teilen der Republik machen sich Ärzte und Krankenkassen auf den Weg, neue Versorgungsformen in der Praxis anzuwenden. Daß dabei auf beiden Seiten teilweise sehr unterschiedliche Motive zugrunde liegen, stört angesichts der derzeitigen Aufbruchstimmung offensichtlich nur die wenigsten.

Obwohl die Diskussion um vernetzte Praxen, Strukturverträge und Modellversuche in Deutschland noch relativ jung ist, kann die Literatur hierzu bereits jetzt schon kaum noch überblickt werden. Ich möchte mich in meinen Ausführungen deswegen auch nicht auf das weite Feld der Grundsatzdiskussionen oder detaillierter Einzelanalysen einlassen, sondern nur einige Aspekte aufgreifen, die mir in der aktuellen Diskussion teilweise ein wenig zu kurz zu kommen scheinen.

Systematische Einordnung der Diskussion

Es darf nicht übersehen werden, daß zu den Hauptmotiven für die Einführung Managed-Care-artiger Versorgungsstrukturen auch in Deutschland die Finanzierungskrise des Gesundheitswesens gehört. In Abbildung 1 ist dargestellt, daß die wachsende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen auf der einen Seite und die zunehmende ökonomische Austrocknung einer ausschließlich lohngebunden finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung andererseits nicht mehr in Deckung zu bringen sind. Es wäre fatal zu glauben, daß Managed Care geeignet sein könnte, diesen grundsätzlichen systematischen Fehler in der Finanzierung der Leistungen einer gesetzlichen Krankenversicherung zu beheben.

Aus diesem Grunde muß einer Erweiterung der Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung mindestens soviel Aufmerksamkeit gewidmet werden wie einer Effizienzsteigerung im Bereich der eigentlichen medizinischen Versorgung.

Die gesetzliche Krankenversicherung zwischen ökonomischer Austrocknung und steigenden medizinischen Ansprüchen

Abb. 1: Die gesetzliche Krankenversicherung zwischen ökonomischer Austrocknung und steigenden medizinischen Ansprüchen

Es müssen sich darüber hinaus alle Beteiligten im klaren sein, daß die Implementierung von Managed-Care-Ansätzen in das deutsche Gesundheitswesen unweigerlich mit Leistungseinschränkungen für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen verbunden sein wird. Dabei mögen diese Einschränkungen über den Managed-Care-Prozeß für die gesundheitspolitisch Verantwortlichen komfortabler sein als politisch getragene explizite Leistungsausschlüsse, zumal implizite Leistungseinschränkungen durch die Ebene einzelner Ärzte oder „Arztnetze“ mit Budgetverantwortung viel weiter gehen können, als dies im Rahmen einer öffentlichen Diskussion zu expliziten Leistungsausschlüssen jemals möglich wäre.

In Abbildung 2 ist dargestellt, daß sich das Managed-Care-Instrument unter dem Aspekt der Verbesserung der „Prozeßeffizienz“ somit nahtlos in den ablaufbezogenen Kreislauf möglicher Steuerungsansätze zur effizienten Finanzallokation im Gesundheitswesen einordnet. Ausgehend von der Beschränkung der Zielvorgaben auf die prioritären Gesundheitsziele und die Einschränkung des Leistungskataloges auf der Grundlage von Evidence-Based-Medicine reicht das Spektrum dieser Steuerungsansätze über das Managed-Care-System schließlich bis zum Schlagwort der Ergebnisorientierung ärztlichen Handelns. Es mag sein, daß der unauflösbar scheinende Widerspruch zwischen wachsendem Bedarf und sinkendem Deckungspotential keine anderen Auswege zuläßt; es wäre jedoch fatal, wenn in der öffentlichen Diskussion verschwiegen würde, daß alle diese Ansätze mit der „Freibiermentalität“ im Gesundheitswesen, die den Bürgern bis heute aus der großen Koalition von Gesundheitspolitikern, Krankenkassen und Medien vermittelt wird, auch nicht einmal mehr ansatzweise in Deckung zu bringen sind.

Ablaufbezogene Verknüpfung neuer Steuerungsansätze zur effizienten Finanzallokation im Gesundheitswesen

Abb. 2: Ablaufbezogene Verknüpfung neuer Steuerungsansätze zur effizienten Finanzallokation im Gesundheitswesen

Gesetzliche Grundlagen von Modellvorhaben und Strukturverträgen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat sich im Gesetzgebungsverfahren zum 2. GKV-Neuordnungsgesetz nachhaltig dafür eingesetzt, mit den Modellvorhaben nach § 63 ff. SGB V und insbesondere den Strukturverträgen nach § 73 a SGB V die rechtlichen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Versorgung entscheidend zu verbessern. Der Gesetzgeber hat damit in der Tat die vertraglichen Möglichkeiten der gemeinsamen Selbstverwaltung erweitert und dabei – wie Abbildung 3 zeigt – die Zuständigkeiten von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen dieser vertraglichen Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen klar festgelegt. Während die Grundsätze zur Durchführung der Modellversuche und die Rahmenverträge zu Inhalt und Durchführung von Strukturverträgen Aufgabe der KBV und der Spitzenverbände der Krankenkassen sind, werden die Vereinbarung von Modellvorhaben selbst sowie die Vereinbarung der Versorgungsverträge für Hausärzte und vernetzte Praxen auf der Ebene der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen bzw. ihrer Landesverbände wahrgenommen. Eine Ausnahme in dieser ansonsten klaren Gliederung ist nur durch die rechtlich und vertragspolitisch interessante Kompetenz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gegeben, selbst Modellvorhaben mit einzelnen Krankenkassen oder Krankenkassenverbänden vereinbaren zu können.

Zuständigkeiten von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen bei der vertraglichen Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen

Abb. 3: Zuständigkeiten von KBV und Kassenärztlichen Vereinigungen bei der vertraglichen Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Modellvorhaben nach § 63 ff. SGB V sind in Abbildung 4 dargestellt. Unter dem Aspekt der Zielsetzung einer strukturellen Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung ragen unter diesen Bestimmungen zwei Aspekte heraus: zum einen die Möglichkeit der Gewährung eines Versichertenbonus und zum anderen der Auftrag an KBV und Spitzenverbände der Krankenkassen, in den Bundesmantelverträgen auch Regelungen zu treffen, wonach ein Modellvorhaben auch dann zustande kommt, wenn ein „Quorum“ von mindestens 50 % der in Frage kommenden Vertragsärzte die Durchführung des Modellvorhabens befürworten. KBV und Spitzenverbände der Krankenkassen werden die entsprechenden Regelungen im ersten Halbjahr 1998 treffen. Dabei sind im Hinblick auf das angesprochene Quorum unsinnige Regelungen zu vermeiden. Beispielsweise wäre es sinnlos, einen Modellversuch zur künstlichen Befruchtung in einer Mittelstadt davon abhängig zu machen, daß der einzig hierfür in Frage kommende Arzt „zu 50 %“ den Modellversuch befürwortet.

Abb. 4

Modellvorhaben nach § 63 ff. SGB V

  • Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen der Leistungserbringung
  • keine vom Bundesausschuß abgelehnten Leistungen
  • Versichertenbonus möglich
  • Befristung auf in der Regel höchstens 8 Jahre
  • Satzungsänderung erforderlich
  • obligate wissenschaftliche Begleitung
  • Verträge zu vertragsärztlicher Versorgung nur mit KVen und KBV
  • nicht schiedsfähige Bundesregelung zu Grundsätzen; dabei Vorgabe für „Quorum“
  • Sonderfall: Modell zur Vermeidung von „Doctor-Hopping“

In Abbildung 5 sind die gesetzlichen Bestimmungen zu den Strukturverträgen nach § 73 a SGB V dargestellt. Dabei muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß § 73 a SGB V die rechtliche Grundlage für die Einführung der derzeit international am stärksten diskutierten Entwicklungsoptionen bietet, nämlich zum einen der Installierung eines hausärztlichen Primärarztes mit „Fundholder“-Kompetenz und zum anderen des Aufbaus vernetzter Praxen mit Budgetverantwortung auch für veranlaßte Leistungen. Eine Schwäche dieser Regelung ist allerdings, daß im Rahmen dieser Strukturverträge – im Gegensatz zu den Modellversuchen nach § 63 ff. SGB V – kein Versichertenbonus gewährt werden darf. Auf diese Weise dürfte die freiwillige Teilnahme von Versicherten die größte Hürde für die Übertragung einer Budgetverantwortung an den Hausarzt oder an vernetzte Praxen sein. Es ist aus dem Grund wahrscheinlich, weil der Aufbau einer „real existierenden Versorgung“ auf vertragliche Mischformen der Modellversuche nach § 63 ff. SGB V und von Strukturverträgen nach § 73 a SGB V – unter Einschluß der Möglichkeit eines Versichertenbonus – gestützt wird.

Abb. 5

Strukturverträge nach § 73 a SGB V

  • Hausarzt oder vernetzte Praxen
  • ärztliche oder ärztlich veranlaßte Leistungen
  • optionales Praxis- oder Netzbudget
  • optionales Abweichen vom EBM
  • freiwillige Teilnahme von Versicherten und Ärzten
  • optionale Bundesempfehlung
    —————————————————————–
  • keine Befristung (Regelversorgung)
  • kein Versichertenbonus
  • keine obligate wissenschaftliche Begleitung

An dieser Stelle werden auch die eingangs angesprochenen Differenzen in den Motiven von Kassenärzten und Krankenkassen deutlich. Für die Kassenärzte und auch für die kassenärztliche Selbstverwaltung kommt es im wesentlichen darauf an, durch vernetzte Praxen die entscheidenden Voraussetzungen zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen zu schaffen. Dies belegt den Stellenwert, der in der arztinternen Diskussion den qualitätssteigernden Aspekten wie Präsenz, Kommunikation, Kooperation und Qualitätssicherung beigemessen wird. Aus ärztlicher Sicht sind vernetzte Praxen daher als Mittel zur Strukturverbesserung auch ohne Verbindung mit zugewiesenen Budgets eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Versorgung. Die gesetzliche Grundlage des § 73 a SGB V gibt dieser Idee auch genügend Raum, da die Zuweisung eines Budgets für ärztlich veranlaßte Leistungen lediglich als optionales Modul angelegt ist. Die wirtschaftliche Verantwortung des Hausarztes oder der vernetzten Praxis kann sich dagegen auch auf die ärztlichen Leistungen, also ohne Einbeziehung der ärztlich veranlaßten Leistungen, beschränken.

Die Vorstellungen der Krankenkassen zielen dagegen fast ausschließlich auf die Entwicklung solcher Strukturen, in denen die ärztlichen und die ärztlich veranlaßten Leistungen zu einem Gesamtbudget für die „Netzärzte“ zusammengefaßt werden. Dieser Ansatz mag zwar aufgrund der bekannten Zielsetzungen der USA als dem „Mutterland“ der Managed-Care-Diskussion plausibel erscheinen, er könnte jedoch die ursprüngliche ärztliche Motivation einer strukturellen Verbesserung der Versorgung und einer engeren Kooperation unter den Vertragsärzten vielleicht eher behindern als fördern. Es wird daher von großem Interesse sein zu beobachten, wie sich die einzelnen Modellansätze mit den unterschiedlichen Schwerpunkten „Versorgungskosten“ und „Versorgungsqualität“ auch im Hinblick auf die Akzeptanz in der Bevölkerung entwickeln werden.

Mögliche Inhalte von Struktur- und Versorgungsverträgen

Auch wenn mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz die rechtlichen Grundlagen für die Entwicklung von Modellversuchen und Strukturverträgen geschaffen wurden, so darf doch nicht übersehen werden, daß die tatsächliche Implementierung derartiger Vorhaben teilweise sehr komplexe vertragliche Vereinbarungen erfordert. Dabei sind mehrere Vertragsebenen zu unterscheiden:

  • Die kollektivvertragliche Ebene zwischen Krankenkasse und Kassenärztlicher Vereinigung,
  • die eigentliche Ebene der Behandlung, also das Verhältnis von Versichertem und Kassenarzt,
  • die Ebene der Kassenmitgliedschaft zwischen Versichertem und Krankenkasse sowie
  • die Ebene der kassenärztlichen Selbstverwaltung im Verhältnis von Kassenarzt und Kassenärztlicher Vereinigung.

Der Großteil der bislang in der Öffentlichkeit diskutierten vertraglichen Angelegenheiten betraf die erste der dargestellten Ebenen, also das kollektivvertragliche Verhältnis von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen. Bereits hier sind die Regelungsgegenstände zum Teil außerordentlich komplex, wie in Abbildung 6 gezeigt wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei der erste der dargestellten Punkte, nämlich die Beschreibung des Gegenstands des Versorgungsauftrags und die Definition des Versorgungsziels. Je nachdem mit welchem Anspruch dieses Versorgungsziel definiert wird, ergeben sich erhebliche Folgerungen für die Inhalte der hieraus abgeleiteten Versorgungsverträge. Folgende Elemente („Module“) können Gegenstand einer Konkretisierung des ärztlichen Versorgungsauftrags sein:

Abb. 6

Mögliche Regelungsbereiche von Strukturverträgen

  1. Gegenstand des Versorgungsauftrags (Hausärzte oder Verbund von Hausärzten und Fachärzten), Definition des Versorgungsziels;
  2. Kreis der teilnehmenden Ärzte und Voraussetzungen ihrer Teilnahme;
  3. Pflichten der Krankenkassen zur Vergütung, zur Mitteilung von Daten und zur Information ihrer Versicherten;
  4. Pflichten der Kassenärztlichen Vereinigung;
  5. Regelungen zur Vergütung im einzelnen, einschließlich der Modalitäten einer Anschubfinanzierung;
  6. Regelungen zur Verteilung der Vergütung durch die Kassenärztliche Vereinigung an die Ärzte des Praxisverbundes;
  7. Regelungen zur Realisierung von Wirtschaftlichkeitserfolgen bei der Versorgung, ihre Berechnung und ihre Weitergabe an die Ärzte des Praxisverbundes;
  8. Regelungen zur Bestimmung von Budgets und ihrer Funktion (Orientierung oder Haftung);
  9. Übermittlung von Daten zur Steuerung der Budgets;
  10. Folgen für die Gesamtvergütung, die Wirtschaftlichkeit der Versorgung im Hinblick auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen sowie die Berücksichtigung der sich aus dem Fremdkassenausgleich ergebenden Folgerungen.
  1. Koordinationspflichten und/oder – bei integrierten Systemen -Pflichten zur Zusammenarbeit mit den die Versorgung ergänzenden Einrichtungen (vgl. auch Nr. 10).
  2. Interne Regelung der Präsenzpflichten.
  3. Errichtung einer Leitstelle (Beschreibung der Funktion der Leitstelle, personelle Besetzung etc.).
  4. Qualitätssicherungspflichten (z. B. Teilnahme an Qualitätszirkeln, Einholung von Zweitmeinungen).
  5. Dokumentationspflichten im Hinblick auf besondere Kooperationsverfahren.
  6. Pflichten zur Befundübermittlung mit Einwilligung des Patienten an die mitwirkenden Ärzte.
  7. Finanzierungspflichten für den gemeinschaftlichen Kooperationsaufwand (z. B. Leitstelle).
  8. Errichtung eines EDV-Systems zur besseren Informationsverarbeitung innerhalb der Gemeinschaft (z. B. „Abruf-Regelungen unter Berücksichtigung der ärztlichen Schweigepflicht, Zentralisierung der Dokumentation im Sinne der hausärztlichen Dokumentation).
  9. Innergesellschaftliche Regelungen zur Einhaltung des Budgets (nur in Strukturverträgen mit Budgetverantwortung).
  10. Optionale Regelungen im Fall der Erweiterung des Versorgungsauftrags auf komplexe Versorgungsformen (z. B. Übernahme der Koordination einer komplexen Versorgung – wie etwa Rehabilitation oder geriatrische Versorgung – im Zusammenwirken mit anderen Behandlern, Kooperationsverträge mit Krankenhäusern, Zusammenarbeit mit Krankenkassen).

Eine noch weitergehende Stufe der Komplexität vertraglicher Regelungen öffnet sich, wenn im Sinne kombinierter Budgets veran-laßte Leistungen in die Budgetverantwortung der am Modellvorhaben oder an Strukturverträgen teilnehmenden Kassenärzte mit einbezogen werden. Die Abstimmung der sich hieraus ergebenden komplexen Regelungen mit dem bisherigen, ohnehin bereits komplexen System der Errechnung und Verteilung kassenärztlicher Gesamtvergütungen ist überhaupt nur möglich, wenn – in der Hoffnung auf Akzeptanz bei sozialgerichtlicher Überprüfung -eine Reihe von Fragen vereinfachten Lösungen zugeführt werden.

In Abbildung 7 ist hinsichtlich des Teilaspekts der Berechnung eines kombinierten Budgets ein Ablaufplan wiedergegeben, wie er im Rahmen des BKK-Modellvorhabens in Berlin angewendet werden soll. Die Berechnung von kombinierten Budgets verursacht im übrigen gerade bei den Betriebskrankenkassen erhebliche Probleme, da aufgrund der großen Zahl der Betriebskrankenkassen und der Verteilung der Versicherten einzelner großer Betriebskrankenkassen auf die Bereiche sehr vieler Kassenärztlicher Vereinigungen bereits mit einem einzigen Modellversuch in einer einzigen Kassenärztlichen Vereinigung indirekt sehr viele Kassenärztliche Vereinigungen über den sogenannten „Fremdkassenausgleich“ vertragsrechtlich berührt werden. Dies ist auch der Grund, warum gerade der Bundesverband der Betriebskrankenkassen eine bundesweite vertragliche Regelung mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu dieser Problematik anstrebt.

Berechnung des kombinierten Budgets

Berechnung des kombinierten Budgets

Abb. 7: Berechnung des kombinierten Budgets

Bonusverträge auf kollektiver und individueller Ebene

Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum 2. GKV-Neuordnungsgesetz wurde von seiten der pharmazeutischen Industrie und der Apothekerverbände kritisiert, daß die Einführung von Modellvorhaben und Strukturverträgen letztendlich auf die Beteiligung von Kassenärzten an Einsparungen im Bereich veranlaßter Leistungen abzielte. Dies könne nicht hingenommen werden, da der Kassenarzt auf diese Weise von einem „Herunterfahren“ der Versorgung direkt profitiere.

Diese stark vereinfachende Darstellung von seiten der pharmazeutischen Industrie und der Apothekerverbände übersieht, daß „Bonusregelungen“ in der kassenärztlichen Versorgung seit jeher allgegenwärtig sind (vgl. Abbildung 8). So ist den Kassenärzten bereits seit den 20er Jahren der „Bonus“ bekannt, der ihnen dann zuteil wird, wenn in den Verhandlungen mit den Krankenkassen ein Wachstum der Gesamtvergütung mit dem Hinweis darauf durchgesetzt werden kann, daß in anderen Ausgabensektoren, insbesondere in den durch Kassenärzte veranlaßten Leistungsbereichen, die Ausgaben in Grenzen gehalten werden konnten. Den Kassenärzten ist ebenfalls bereits seit Jahrzehnten bekannt, daß sie ihr individuelles kassenärztliches Honorar dadurch sichern können, daß sie durch eine Begrenzung der veranlaßten Arzneimittelausgaben einen Regreß in der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten vermeiden.

Abb. 8
Bonusregelungen in der kassenärztlichen Versorgung

      auch vor 1993

  1. Kollektiv-Bonus durch Wachstum der Gesamtvergütung bei Verhandlungsspielraum durch niedrige Arzneimittelausgaben
  2. Individual-Bonus durch Vermeidung von Regressen in der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten

    ab 1993   
  3. Kollektiv-Bonus durch Vermeidung von Überschreitungen der kollektiven Arzneimittelbudgets
  4. Bonus durch Vermeidung von Richtgrößen-Regressen

    ab 1998   
  5. Kollektiv-Bonus durch „kombinierte Budgets“ auf KV-Ebene
  6. Individual-Bonus durch „kombinierte Budgets“ in Modellversuchen und Strukturverträgen

Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz kamen ab dem Jahr 1993 zwei weitere „Bonusaspekte1′ hinzu. Zum einen geschah dies in Form des Kollektivbonus durch gemeinsame Anstrengungen zur Vermeidung von Gesamtvergütungskürzungen aufgrund von Überschreitungen der kollektiven Arznei- und Heilmittelbudgets, zum anderen wurde bereits im Jahr 1993 die rechtliche Hülse einer budgetablösenden Richtgröße eingeführt, die den Arzt motivieren sollte, durch eine „wirtschaftliche“ Arzneimittelverordnung den Individualbonus zur Vermeidung eines Richtgrößenregresses anzustreben.

Es ist unklar, warum die vier genannten „historischen“ Bonusregelungen von der pharmazeutischen Industrie und den Apothekerverbänden faktisch akzeptiert wurden, während die ab dem Jahr 1998 möglichen Bonusregelungen nunmehr den Arzt angeblich zu unärztlichem Handeln motivieren sollen. Bei einer solchen Argumentation wird übersehen, daß die Vermeidung eines Malus stets auch einen Bonus darstellt, da daraus in beiden Fällen durch eine bestimmte gewünschte Verhaltensweise zur „Belohnung“ und Verstärkung dieser Verhaltensweise ein höheres Honorar resultiert.

Dabei ist der Bonusgedanke neuerer Prägung deswegen für die Ärzte viel eher akzeptabel, weil auf diese Weise endlich zum Ausdruck kommt, daß die ärztliche Vergütung nicht einfach Dispositionsmasse der Krankenkassen zur Finanzierung anderer Leistungsbereiche ist, sondern vielmehr von den Kassenärzten durch Inkaufnahme zunehmend höherer beruflicher Belastung hart erarbeitet wird. Der Bonusgedanke neuerer Prägung hebt damit lediglich die Herabwürdigung ärztlicher Leistung auf, ohne etwa die Motivation für Einsparungen in irgendeiner Weise „unethischer“ zu machen, als dies bereits den vier „historischen“ Bonusregelungen unterstellt werden konnte.

Wenn pharmazeutische Industrie und Apothekerverbände, die von sämtlichen direkten Malusregelungen in der Vergangenheit trotz ihrer erheblichen Mitverantwortung für die Entwicklung der Arzneimittelausgaben verschont worden sind, nur diejenigen Modelle gelten lassen wollen, in denen die Vergütung der ärztlichen Leistungen zur Dispositionsmasse der Krankenkassen herabgewürdigt wird, dann können sie für die Kassenärzte keine ernstzunehmenden Gesprächspartner mehr sein. Wer nicht erkennt, daß die Erzielung von Ausgabeneinsparungen durch Effizienzsteigerung in der Arzneimittelverordnung einen erheblichen persönlichen Einsatz jedes einzelnen Arztes erfordert und damit auch eine entsprechende Vergütung rechtfertigt, hat offensichtlich keine Kenntnis vom tatsächlichen Verordnungsgeschehen und damit auch die Möglichkeit verspielt, in dieser Diskussion ernstgenommen zu werden.

In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die in Abbildung 8 als Nr. 5 genannte Möglichkeit des Kollektivbonus durch „kombinierte Budgets“ auf KV-Ebene nicht etwa mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz neu geschaffen wurde, sondern nach Auffassung des Bundesministeriums für Gesundheit aufgrund der Regelungsnorm des § 83 [1] SGB V bereits seit langem gegeben ist. Auf diese Weise ist es den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen gestattet, kombinierte Budgets z. B. für ärztliche Behandlung und Arzneimittel nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene zu vereinbaren. Dies habe, so die Interpretation des Bundesministeriums für Gesundheit, bereits für den gesamten Zeitraum der gesetzlichen Kollektivbudgets gegolten, so daß es bereits vor 1997 möglich gewesen ist, etwa Budgetunterschreitungen anteilig zur Verbesserung der kassenärztlichen Gesamtvergütung zu verwenden. Somit sind künftig bei den vertraglichen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen in Richtung auf kombinierte Budgets eine „kollektive Ebene“ und eine „individuelle Ebene“ zu unterscheiden (vgl. Abbildung 9).

Abb. 9

Vertragliche Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen

  1. „Kollektive Ebene“ (§ 83 [1 ] SGB V)
    – z. B. Gesamtbudget für ärztliche Behandlung, Arzneimittel und Heilmittel
  2. „individuelle Ebene“
    –    Strukturverträge für Hausärzte und vernetzte Praxen (§ 73 a SGB V)
    –    Modellvorhaben zu Organisations- und Vergütungsformen (§ 63 ff. SGB V)

Wie realistisch sind Einsparungen?

Unabhängig von den neugeschaffenen rechtlichen Optionen zur Einbeziehung von Einsparungen, insbesondere bei den Arzneimittelausgaben, in die Verhandlungen zur Weiterentwicklung der kassenärztlichen Gesamtvergütung muß die Frage gestellt werden, inwieweit solche Einsparungen angesichts der demographischen Herausforderungen und der medizinischen Entwicklungen gerade auf dem Arzneimittelsektor überhaupt realistisch sind. In den vergangenen zwanzig Jahren haben die Arzneimittelausgaben – jedenfalls in den „Nicht-Reformjahren“ – jährlich um mehr als 6 % zugenommen. Selbst bei strengster Indikationsstellung und unter faktischem Ausschluß der sogenannten „umstrittenen“ Arzneimittel ergibt sich hieraus ein offensichtlich nicht aufhaltbares „natürliches“ Wachstum der Arzneimittelausgaben in der Größenordnung von jährlich mindestens 3 %.

Aus dieser Feststellung folgt unmittelbar die Frage, was unter diesen Voraussetzungen für die Krankenkassen „Einsparungen“ sind (vgl. Abbildung 10). Werden es die Krankenkassen als Einsparungen anerkennen, wenn die Kassenärzte unter Inkaufnahme von Patientenprotesten auf sog. „umstrittene“ Arzneimittel, deren Verordnung ja keineswegs ausgeschlossen ist, zunehmend verzichten und damit das Ausgabenwachstum auf 3 % pro Jahr reduzieren können? Ist eine solche Minderung überhaupt realistisch, wenn die Verlagerung ehemals stationär erfolgter Behandlungen in die ambulante Versorgung im bisherigen Umfang anhält? Verlangen die Krankenkassen etwa gar ein „Nullwachstum“, bevor sie die Kassenärzte für ihre mit erheblicher Mehrarbeit verbundenen Anstrengungen vergüten? Oder werden die Krankenkassen angesichts faktisch stagnierender Entwicklungen der Beitragseinnahmen sogar fordern, daß erst bei nachgewiesenen rückläufigen Arzneimittelausgaben eine Anhebung der ärztlichen Gesamtvergütungen in Frage kommt?

Voraussichtliche Entwicklung der Arzneimittelausgaben und Einsparmöglichkeiten (1997 = 100)

Abb. 10: Voraussichtliche Entwicklung der Arzneimittelausgaben und Einsparmöglichkeiten (1997 = 100)

Nach den bisherigen Erfahrungen aus den Verhandlungen mit den Krankenkassen fordern diese tatsächlich, daß die Arzneimittelausgaben unter das jeweilige Vorjahresniveau zurückzugehen haben, bevor auf kollektiver oder individueller Ebene eine Beteiligung der Kassenärzte an den Einsparfolgen in Frage kommen soll. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß bei einer dermaßen kurzsichtigen Haltung der Krankenkassen Verträge zu kombinierten Budgets bereits tot sind, bevor sie das Licht der Welt erblickt haben. Ein Versorgungsmanagement, dessen Zielsetzung sich darin erschöpft, die einzelnen Sektoren der Versorgung jeweils unter Vorjahresniveau zu drücken, verdient nicht die Bezeichnung „Management“. Wir wissen heute, daß eine gezielte Stärkung der Arzneimittelbehandlung bei verschiedenen Krankheitsbildern zwar einen Anstieg der Arzneimittelausgaben bedingt, jedoch aufgrund von Einsparungen, insbesondere im stationären Bereich, letztlich sowohl zu einer humaneren Krankenbehandlung als auch zu einem effizienteren Ressourcenverbrauch beiträgt. Solange diese Zusammenhänge nicht beachtet werden, dürften Strukturverträge mit kombinierten Budgets mittel-und langfristig keine Chance auf Verwirklichung haben.

Schlußbemerkung

Mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz wurden Elemente in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen, mit denen eine Übertragung des Managed-Care-Gedankens US-amerikanischen Vorbildes auf die solidarische Krankenversicherung deutscher Prägung ermöglicht werden sollte. Neben der Aufstockung der finanziellen Basis der gesetzlichen Krankenversicherung und der Straffung des Leistungskataloges bietet nur noch diese strukturelle Weiterentwicklung eine Option, mit der das zunehmende Auseinanderdriften von Leistungsbedarf und Finanzierung gestoppt werden kann. Allerdings gibt es gerade im internationalen Vergleich eine Reihe von Hindernissen, die selbst der Einführung sinnvoller Elemente von Managed Care in das deutsche Gesundheitswesen entgegenstehen.

Abb. 11

Mögliche Hindernisse für die Einführung sinnvoller Elemente von Managed Care in das deutsche Gesundheitswesen

  1. geringere Rationalisierungsreserven in Deutschland
  2. überhöhtes Anspruchsniveau der Versicherten
  3. Vorrang des Datenschutzes vor Gesundheitszielen
  4. kartellrechtliche Behinderung von Therapie-Empfehlungen
  5. Versicherungsmonopol einer gesetzlichen Zwangsversicherung
  6. kostentreibender „solidarischer Wettbewerb“
  7. öffentlich-rechtlicher Zulassungsstatus der Kassenärzte
  8. Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen

In der hierauf bezogenen Abbildung 11 ist auch der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen als mögliches Hindernis für eine sinnvolle strukturelle Weiterentwicklung aufgeführt. Dies gilt jedoch nur für den Fall, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen ein überholtes Verständnis des Sicherstellungsauftrages bewahren und sich nicht den kommenden Herausforderungen stellen würden. Angesichts der erheblichen Dynamik und der „Aufbaustimmung“ an der ärztlichen Basis dürfte diese Gefahr jedoch eher gering sein. Problematischer ist dagegen schon das Versicherungsmonopol einer gesetzlichen Zwangsversicherung und insbesondere der zwischen den Trägern dieses Monopols inszenierte „solidarische Wettbewerb“. Durch diese unglückliche Konstellation droht die Seite der Versicherungsträger die Entwicklung zukunftsweisender Versorgungsmodelle dem Ringen um die eigene Existenz unterzuordnen. Die gesetzliche Krankenversicherung ist jedoch kein Selbstzweck. Daher sollte der Gesetzgeber möglichst umgehend dazu beitragen, daß die Parameter des Kassenwettbewerbs endlich auf eine vernünftige Versorgung der Versicherten durch sinnvolle Entwicklung der Versorgungsstrukturen fokussiert werden. Erst dann werden die mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz geschaffenen Möglichkeiten ihre gewünschten Wirkungen entfalten können.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Strukturverträge und Modellvorhaben aus kassenärztlicher Sicht. In: Wille, Eberhard / Albring, Manfred (Hrsg.): Reformoptionen im Gesundheitswesen – Bad Orber Gespräche über kontroverse Themen im Gesundheitswesen 7.-8.11.1997, Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1998 (Allokation im marktwirtschaftlichen System. Bd. 41, hrsg. von Heinz König, Hans-Heinrich Nachtkamp, Ulrich Schlieper und Eberhard Wille), S. 125-142.

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