Die Arzneimittel- und Heilmittelbudgets

Deutsches Ärzteblatt (1994)

Ergebnisse, Hintergründe und Perspektiven

Die Festlegung von Globalbudgets für Arzneimittel und Heilmittel zählt zu den folgenreichsten Eingriffen des Gesundheitsstrukturgesetzes. Die vom Gesetzgeber festgelegte undifferenzierte Budgetierung hat die kassenärztliche Tätigkeit und die Versorgung der Patienten nachhaltig beeinflußt. Während im Jahr 1993 die Budgetgrenzen eingehalten werden konnten, zeichnet sich in den ersten Monaten des Jahres 1994 eine Trendwende zu wieder verstärkten Verordnungen ab. Dies läßt insbesondere für das Jahr 1995 nichts Gutes erwarten, wie in der folgenden Analyse gezeigt werden soll.

Wahrscheinlich keine Budgetüberschreitungen im Jahr 1993

Nach Vorliegen der Rechnungsergebnisse der Krankenkassen für das Jahr 1993 kann nunmehr festgestellt werden, daß im vergangenen Jahr die gesetzlich vorgegebenen Budgets für Arzneimittel und Heilmittel wahrscheinlich eingehalten worden sind. Abbildung 1 zeigt, daß das bundesweite Arzneimittelbudget um rund 2,13 Milliarden DM, entsprechend 8,9 Prozent, unterschritten worden ist.

Unterschreitung des Arzneimittelbudgets im Jahre 1993 in den alten Bundesländern

Abbildung 1: Unterschreitung des Arzneimittelbudgets
im Jahre 1993 in den alten Bundesländern

Dabei ist die Höhe der Einsparungen in den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen durchaus unterschiedlich ausgefallen, wie aus Abbildung 2 anhand des Rückgangs der regionalen Arzneimittelumsätze entnommen werden kann.

Rückgang der Arzneimittelumsätze 1993 gegen 1992

Abbildung 2: Rückgang der Arzneimittelumsätze 1993 gegen 1992

Zu berücksichtigen ist allerdings, daß das Verordnungsniveau im Ausgangszeitraum regional sehr unterschiedlich war, so daß der prozentuale Rückgang allein nichts über das aktuelle Verordnungsvolumen aussagt.

Im Heilmittelbereich ist die Feststellung der Budgetunterschreitung nicht so eindeutig, weil es hier kein Bundesbudget, sondern stattdessen 18 KV-bezogene Einzelbudgets gegeben hat. Die Unterschreitung des fiktiven Bundesbudgets als Summe sämtlicher 18 Einzelbudgets belief sich auf 292 Millionen DM, entsprechend 7,4 Prozent. Die Frage, ob damit auch in allen 18 Kassenärztlichen Vereinigungen das KV-spezifische Heilmittelbudget unterschritten worden ist, läßt sich aufgrund der äußerst komplexen gesetzlichen Berechnungsvorgaben (KV-bezogene Berechnung auf der Basis bundesweiter Kassen-Fallwerte) voraussichtlich erst im Sommer dieses Jahres exakt beantworten. Nach den bislang vorliegenden Abrechnungsergebnissen der Heilmittelerbringer läßt sich für 17 der 18 Kassenärztlichen Vereinigungen des alten Bundesgebiets vermuten, daß die KV-spezifischen Budgets nicht überschritten wurden. Lediglich für Berlin (West) kann eine Budgetüberschreitung im Heilmittelbereich noch nicht ausgeschlossen werden. Die trotz erheblicher Einsparungen und bundesweiter Budgetunterschreitung nach wie vor bestehende Möglichkeit einer Budgetüberschreitung in Berlin zeigt im übrigen, daß eine undifferenzierte Budgetierung von Arznei- und Heilmitteln aufgrund der damit verbundenen Unsicherheiten auf Dauer unerträglich ist.

Im Vergleich der Jahre 1992 und 1993 sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arznei- und Verbandmittel um 5,27 Milliarden DM zurückgegangen. Nur ein Teil, wenn auch mit rund 3 Milliarden DM der größte Teil dieses Einsparvolumens, geht unmittelbar auf das geänderte Verordnungsverhalten der Kassenärzte zurück. Für den Ausgabenrückgang sind darüber hinaus folgende Faktoren maßgeblich:

  • ca. 1,0 Milliarden DM durch die Anhebung der Patienten-Zuzahlung,
  • ca. 1,0 Milliarden DM durch Preismoratorium und Festbeträge,
  • knapp 0,3 Milliarden DM durch eine Änderung der Buchungsvorschriften der Krankenkassen.

Bezogen auf das Ausgangsvolumen von 27 Milliarden DM im Jahr 1993 bedeutet das ärztlich verursachte „Netto-Einsparvolumen“ von 3 Milliarden DM im Jahr 1993 einen Rückgang von rund 11 Prozent, während es in den vorangegangenen Jahren Steigerungsraten in dieser zweistelligen Größenordnung gegeben hat. Angesichts dieser Entwicklung wurde die Frage gestellt, ob ein solcher Verordnungsrückgang ohne nachhaltige Auswirkungen auf die Qualität der Arzneimittelversorgung möglich war.

Qualitätseinbußen durch Budgetierung unvermeidlich

Die ersten Untersuchungen des ärztlichen Verordnungsverhaltens im Jahre 1993 scheinen zu bestätigen, daß die Verordnungseinschränkungen aufgrund der Arzneimittelbudgetierung im Gesundheitsstrukturgesetz nicht zu Qualitätseinbußen bei der Arzneimittelversorgung geführt haben. So zeigt die vorläufige Jahresauswertung des GKV-Arzneimittelindexes für 1993, daß der Rückgang der Verordnungszahlen sich insbesondere auf die seit vielen Jahren als „umstritten“ bezeichneten Arzneimittelgruppen bezieht (siehe Abbildung 3).

Verordnungsrückgang 1993 durch das Gesundheitsstrukturgesetz nach Indikationsgruppen (GKV-Arzneimittelindex: vorläufige Jahresauswertung 1993)

Abbildung 3: Verordnungsrückgang 1993 durch das Gesundheitsstrukturgesetz nach
Indikationsgruppen (GKV-Arzneimittelindex: vorläufige Jahresauswertung 1993)

Dagegen sind die Verordnungszahlen bei unbestrittenen beziehungsweise therapeutisch unverzichtbaren Arzneimittelgruppen trotz der Verunsicherung, die das erste Budgetjahr allenthalben mit sich gebracht hat, angestiegen. Ungebremst verlief auch der „Siegeszug“ der perimenopausalen Östrogensubstitution, die bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten hervorsticht.

Höhe des Verordnungs-Budgets für 1993 und 1994 noch KV-Bereichen

Tabelle: Höhe des Verordnungs-Budgets für
1993 und 1994 noch KV-Bereichen

Allerdings vermag niemand zu sagen, was die langfristigen Folgen der Umstellung des Verordnungsverhaltens sein werden. Wie ist zum Beispiel der Verordnungseinbruch bei den Lipidsenkern um mehr als 20 Prozent zu bewerten? Handelt es sich tatsächlich nur um die Rücknahme einer bislang praktizierten „Übertherapie“ oder werden wir in einigen Jahre mit einem Wiederanstieg der Infarkt- und Schlaganfall-Raten für die Kurzsichtigkeit einer rein fiskalisch ausgerichteten Gesundheitspolitik zu büßen haben? Bereits bei Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes stand fest, daß die globale Ausgabenbudgetierung einen schweren ordnungspolitischen Fehlgriff darstellt, der sich schon sehr bald katastrophal auf die Qualität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung auswirken kann. Die Global-Budgetierung enthält nicht den geringsten Ansatz einer Qualitätssteuerung des Verordnungsverhaltens. Sie lebt von nichts anderem als von der Drohung gegenüber den die hausärztliche Versorgung aufrechterhaltenden Arztgruppen, bei Zuwiderhandlung gegen das Spargebot mit Honorarabzügen in existenzvernichtender Größenordnung belastet zu werden. Die folgenden Jahre werden zeigen, ob mit der Globalbudgetierung in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht der Einstieg in die Zwei-Klassen- Medizin unter Abkoppelung der sozial Schwachen vom medizinischen Fortschritt unternommen worden ist. Bereits im ersten Budgetjahr ließ sich feststellen, daß innovative Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung in signifikant geringerem Umfang als in der privaten Krankenversicherung verordnet worden sind.

In dieses Bild paßt die unverhohlene Drohung zahlreicher Krankenkassen, in den nächsten Jahren die Budgetschraube weiter anziehen zu wollen. Hier scheint im Kampf um die vermeintlich beste Ausgangsposition für den mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeläuteten Kassenwettbewerb das Gespür für die gesundheitlichen Interessen der eigenen Versicherten verlorengegangen zu sein. Es wird sorgfältig zu beobachten sein, wie sich die bereits jetzt feststellbaren Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Versicherten der einzelnen Kassenarten*) in Zukunft entwickeln werden. Wo wird die Schamgrenze für den Kampf um die „guten Risiken“ und die Ausgrenzung der — auch bezüglich der Arzneimittelausgaben — „schlechten Risiken“ liegen?

Gute Chancen für Budgeteinhaltung im Jahr 1994

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Krankenkassen haben eine Empfehlungsvereinbarung zur Festlegung der regionalen Arzneimittel- und Heilmittelbudgets des Jahres 1994 getroffen (siehe unter „Bekanntgaben“ in diesem Heft). Kern dieser Vereinbarung ist, daß die für das Jahr 1993 auf der gesetzlichen Grundlage errechneten Regionalbudgets im Jahr 1994 übernommen werden. Auf diese Weise würden die in der Tabelle dargestellten KV-bezogenen Budgets auch für 1994 gelten (s. auch Abbildung 4).

Fiktive Gesamtbudgets für Arzneimittel und Heilmittel im Jahre 1994 in den alten und neuen Bundesländern

Abbildung 4: Fiktive Gesamtbudgets für Arzneimittel und Heilmittel
im Jahre 1994 in den alten und neuen Bundesländern

Zu beachten ist dabei, daß es im Jahre 1994 — im Gegensatz zu 1993 — ein Bundesbudget im Arzneimittelbereich mit der Möglichkeit der Saldierung von Über- und Unterschreitungen in einzelnen KV-Bereichen nicht mehr gibt. Statt dessen gilt in jeder einzelnen Kassenärztlichen Vereinigung ein einheitliches Budget für die Summe aller Arzneimittel- und Heilmittelausgaben, verbunden mit der Möglichkeit einer KV-bezogenen Saldierung der beiden Teilbudgets (zum Beispiel Ausgleich einer Budgetüberschreitung bei Heilmitteln durch eine entsprechende Budgetunterschreitung bei Arzneimitteln). Allerdings ist die Einschätzung einer regionalen Unter- oder Überschreitung des Budgets im laufenden Jahr nur schwer möglich, da auch im Jahr 1994 noch auf die sogenannte „Fallwertmethode“ des Gesundheitsstrukturgesetzes zurückgegriffen werden muß. Dies bedeutet, daß in die regionalen Budgets bei den bundesweiten Kassen (zum Beispiel Ersatzkassen, Bundesknappschaft) der bundesweite und nicht etwa der regionale Arzneimittel- beziehungsweise Heilmittel-Fallwert ins KV-Budget eingeht. Erst ab dem Jahre 1995 werden auch tatsächlich nur die Verordnungen der Ärzte eines KV-Bereichs auf das entsprechende KV-Budget angerechnet.

Zu Beginn der Budgetrunde für 1994 hatten KBV und Kassenärztliche Vereinigungen eine Aufstockung der gesetzlich vorgegebenen Budgets des Jahres 1993 gefordert. Allein für die Auswirkungen der demographischen Entwicklung und der Arzneimittel-Innovationen wurde eine Anhebung um mehr als 4 Prozent für sachgerecht gehalten. Die Krankenkassen konnten allerdings in den Verhandlungen belegen, daß die Änderung der Zuzahlungsregelungen zu Beginn dieses Jahres (Umstellung vom Preis auf die Packungsgröße) zu einer Mehrbelastung der Versicherten in der Größenordnung von 4 Prozent der Arzneimittelausgaben des Jahres 1993 führt. Mit der Empfehlung, die rechnerischen Regionalbudgets des Jahres 1993 nach 1994 zu übernehmen, verbanden KBV und Spitzenverbände der Krankenkassen die Hoffnung, daß Unsicherheit und Unruhe aufgrund langwieriger Budgetverhandlungen erst gar nicht aufkommen.

Angesichts der Unterschreitung der rechnerischen Regionalbudgets im Jahre 1993 und des zusätzlichen Spielraums aufgrund der höheren Patienten-Selbstbeteiligung als Folge der Packungsgrößen-Verordnung bestehen berechtigte Aussichten, daß auch im Jahre 1994 in den meisten Kassenärztlichen Vereinigungen der alten Bundesländer das dann maßgebliche Gesamtbudget für Arznei- und Heilmittel eingehalten werden kann. Einen nicht unerheblichen Unsicherheitsfaktor bilden bei einer solchen Spekulation allerdings die mehr als 10 000 Ärzte, die im Verlauf des Jahres 1993 die kassenärztliche Tätigkeit aufgenommen haben und das Volumen der verordneten Arznei- und Heilmittel mit großer Wahrscheinlichkeit erheblich beeinflussen werden.

Ganz prekär dürfte die Ausgangssituation für mögliche Budgetüberschreitungen dann im Jahr 1995 werden, wenn

  • sich der GSG-bedingte Zustrom an Ärzten ins Versorgungssystem voll ausgewirkt hat,
  • budgetentlastende Faktoren wie die Änderung der Zuzahlungsverordnung nicht mehr wirksam sind,
  • die ausgabensteigernden Effekte der dann bundesweit eingeführten Chipkarte erstmals voll durchschlagen und gleichzeitig
  • die Krankenkassen ihre Drohung wahr machen, sogar Budgetabschläge für angeblich noch bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven zu fordern.

Aus Sicht der ärztlichen Interessen gänzlich unverständlich ist die insbesondere von seiten der pharmazeutischen Industrie immer wieder geäußerte Auffassung, die Ärzte sollten sich mit ihrem Verordnungsverhalten an die Budgetgrenzen „herantasten“. Nicht nur, daß ein solches Verhalten bereits im Jahr 1994, spätestens aber im Jahr 1995 aufgrund der beschriebenen ausgabensteigernden Einflußfaktoren mit einem bösen Erwachen im Falle der Budgetüberschreitung enden könnte; es ist schlichtweg illusorisch zu glauben, die Versorgung von 70 Millionen Versicherten durch 110000 an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte sei auch nur annähernd genau steuerbar. Hinzu kommt, daß die äußerst komplizierte, an bundeseinheitlichen Fallwerten orientierte Berechnungsweise der KV-bezogenen Budgets den Kassenärztlichen Vereinigungen im Grunde jegliche Chance nimmt, Budgetüber- oder -unterschreitungen in einer Größenordnung von ± 10 Prozent im jeweils laufenden Budgetjahr überhaupt zu erfassen. Das Bestreben der Kassenärztlichen Vereinigungen muß vielmehr darauf gerichtet sein, die Budgethöhe so zu vereinbaren, daß jeweils voraussichtlich eine Budgetunterschreitung in der Größenordnung von 5 bis 10 Prozent als dem zu fordernden Sicherheitsabstand zur Budgetgrenze resultiert.

1994: Erstmals Budgets auch für die neuen Bundesländer

Mit Beginn des Jahres 1994 ist die „Schonfrist“ abgelaufen, die im Gesundheitsstrukturgesetz den neuen Bundesländern hinsichtlich der Arznei- und Heilmittelbudgets gewährt worden ist. Auf der Grundlage der gesetzlichen Berechnungsvorschriften haben sich KBV und Spitzenverbände der Krankenkassen darauf verständigt, den Budgetpartnern auf KV-Ebene die Festlegung regionaler Gesamtbudgets für Arznei- und Heilmittel zu empfehlen, die sich in der Summe aller sechs Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer (einschließlich Berlin-West) auf 6,6776 Milliarden DM – davon 6,188 Milliarden DM für Arzneimittel und 489,6 Millionen DM für Heilmittel – belaufen (siehe Abbildung 4 sowie die „Bekanntgaben“ in diesem Heft).

Die Berechnung der KV -bezogenen Einzelbudgets wird derzeit entsprechend der gesetzlichen Vorgabe auf der Grundlage der Fallzahlen des ersten Halbjahres 1992 durchgeführt. Die definitive Höhe der KV -Budgets wird erst im Sommer dieses Jahres vorliegen. Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, daß es aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen den Kassenärzten in den neuen Bundesländern nicht leicht fallen wird, die Budgetgrenzen einzuhalten und damit Honorarabzüge zu vermeiden. So ist das anteilige Monatsbudget in den neuen Bundesländern im März 1994 erstmals massiv überschritten worden. Dies läßt Schlimmes befürchten im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des derzeitigen Qualitätsniveaus der Arzneimittelversorgung.

Besonders bedauerlich ist die Festlegung des auf die Heilmittel entfallenden Budgetanteils. So beträgt der Ost-Anteil am Gesamt-Heilmittelbudget in der Bundesrepublik lediglich 11,2 Prozent, während der Anteil der neuen Bundesländer an der Gesamt-Mitgliederzahl der Krankenkassen 22,3 Prozent ausmacht. Hieraus läßt sich unschwer ableiten, daß für den Bereich der neuen Bundesländer im Jahre 1994 je Versicherten nur etwa 50 Prozent der Heilmittel-Budgetsumme eines westdeutschen Versicherten zur Verfügung stehen. Als Grund hierfür ist in erster Linie die Tatsache zu nennen, daß der für die Budgetberechnung maßgebliche Ausgangszeitraum (1. Halbjahr 1992) auch nicht annähernd geeignet gewesen ist, ein realistisches Abbild des tatsächlichen Versorgungsbedarfs mit Heilmitteln zu geben.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat das Bundesministerium für Gesundheit gebeten, angesichts dieser Problematik eine Anhebung der Budgetsumme in den neuen Bundesländern auf dem Verordnungswege in Erwägung zu ziehen. Das Bundesministerium für Gesundheit hat dies jedoch mit dem Hinweis darauf abgelehnt, daß Überschreitungen im Heilmittelbereich durch Unterschreitungen im Arzneimittelbereich kompensiert werden könnten. Bei einer realistischen Vorausschätzung der Entwicklung des Verordnungsverhaltens im Arzneimittelbereich kann dies jedoch kaum ernsthaft in Erwägung gezogen werden, zumal — wie oben ausgeführt — bereits im März die Budgetgrenze durchbrochen worden ist. Es bleibt daher dabei, daß der auf den Heilmittelbereich bezogene Budgetanteil in den neuen Bundesländern nur dann eingehalten werden kann, wenn das Verordnungsvolumen je Versicherten in den neuen Bundesländern auf 50 Prozent des für einen westdeutschen Versicherten zur Verfügung stehenden Volumens eingefroren wird.

Richtgrößen: Realistische Perspektive erst ab 1996

Im Gesundheitsstrukturgesetz ist die Möglichkeit eines „Befreiungsschlages“ im Hinblick auf das Bedrohungspotential globaler Arzneimittel- und Heilmittelbudgets angelegt. Nach § 84 Abs. 4 SGB V können die Budgets ausgesetzt werden, wenn an ihre Stelle Richtgrößenprüfungen treten, die geeignet sind, die gesetzliche Vorgabe der Ausgabenbegrenzung im Arznei- und Heilmittelbereich sicherzustellen. Diese gesetzliche Möglichkeit zur Durchführung der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Arzneiverordnungsweise nach Richtgrößen ist bereits im Gesundheits-Reformgesetz des Jahres 1989 angelegt gewesen. Die Geschichte der Bemühungen um Richtgrößenprüfungen in den vergangenen fünf Jahren lehrt jedoch, daß Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen bislang einem Phantom nachgejagt haben. Tatsache ist, daß Richtgrößenprüfungen ernsthaft nur in bezug auf bestimmte Arzneimittelgruppen durchgeführt werden können, will man nicht riskieren, daß der Arzt auch hinsichtlich absolut lebensnotwendiger Arzneimittel zu einem restriktiven Verordnungsverhalten gezwungen wird. Arzneimittelgruppenbezogene Richtgrößen können aber überhaupt nur dann ermittelt und im Einzelfall überprüft werden, wenn der Apotheker durch die Auftragung des Arzneimittelkennzeichens (sog. Pharmazentralnummer) die Grundlagen für die maschinelle Erfassung der verordneten Arzneimittel liefert. Die Verhandlungen über eine entsprechende Vereinbarung zwischen Krankenkassen und Apothekerverbänden sind jedoch soeben erst ergebnislos abgebrochen worden. Es wird daher wohl bei der gesetzlich geforderten Minimallösung bleiben, welche die Auftragung der Pharmazentralnummer durch den Apotheker ab dem 1. 1. 1995 vorsieht.

In diesem Zusammenhang bedarf die Vereinbarung der KBV und der Spitzenverbände der Krankenkassen hinsichtlich einer möglichen Auftragung der Pharmazentralnummer durch hierzu sich bereit erklärende Ärzte (siehe Abschnitt I Nr.2 der Empfehlungsvereinbarung in den „Bekanntgaben“) einer Erläuterung. Die Verweigerungshaltung der Apothekerverbände im Zusammenhang mit der Auftragung der Pharmazentralnummer hat gezeigt, daß die strategischen Optionen der Kassenärzte im Hinblick auf das Management der Budget-Problematik in unvertretbar hohem Ausmaß abhängig sind vom „Good will“ der Apothekerverbände. Es gehört daher zu den vordringlichen Aufgaben kassenärztlicher Politik, die Strategieanfälligkeit der eigenen Vorstellungen durch willkürliche Festlegungen der Apothekerverbände soweit als möglich zu begrenzen. In diesem Zusammenhang ist ein Feldversuch zur Erprobung einer EDV-technischen Lösung für die Auftragung der Pharmazentralnummer durch Ärzte sehr wohl geeignet, den Apothekerverbänden die möglichen Konsequenzen ihrer starrsinnigen Haltung aufzuzeigen. Hinzu kommt, daß mit der Auftragung der Pharmazentralnummer durch den Arzt auch der Anspruch der Apotheker auf immer weitergehende Nutzung der „Aut idem“-Abgabe eingegrenzt werden kann. In einen solchen Feldversuch würden im übrigen selbstverständlich nur solche Ärzte einbezogen, die sich freiwillig hierfür zur Verfügung stellen und bei denen die für eine reibungslose Integration in den Praxisablauf erforderliche EDV-Ausstattung zur Verfügung steht.

Es bleibt festzustellen, daß erst im Jahre 1995 die Basis für die Ermittlung arzneimittelgruppenbezogener Richtgrößen geschaffen werden kann. Die Richtgrößenprüfungen selbst und damit die Möglichkeit zur Ablösung zumindest des Arzneimittel-Budgets ist daher erst für den Zeitraum ab 1996 gegeben. Zu diesem Zeitpunkt wird allerdings das Arzneiverordnungsgeschehen durch die dann in Kraft tretende Arzneimittel-Positivliste ohnehin auf eine wiederum deutlich veränderte Grundlage gestellt werden.

Für die Jahre 1994 und 1995 bleibt es damit in jedem Fall bei der für die Gesamtärzteschaft bedrohlichen und für die Versorgungsqualität schädlichen Global-Budgetierung bei Arznei- und Heilmitteln. KBV und Spitzenverbände der Krankenkassen haben sich vorgenommen, die Empfehlung für eine Struktur der ab 1996 möglichen arzneimittelgruppenbezogenen Richtgrößenprüfung bereits bis zum 30. September dieses Jahres festzulegen (siehe unter „Bekanntgaben“ in diesem Heft). Bereits jetzt muß aber einer möglichen Legendenbildung, die Selbstverwaltung hätte die Chancen der Ablösung der Budgets durch Richtgrößenprüfungen nicht genutzt, entschieden entgegengetreten werden, da den Kassenärztlichen Vereinigungen in bezug auf Richtgrößenprüfungen — nicht zuletzt aufgrund der Verweigerungshaltung der Apothekerverbände — die Hände bis zum Jahre 1996 gebunden sind.

Die Diskussion darüber, ob die globale Budgetierung tatsächlich durch Richtgrößenprüfungen abgelöst werden sollte, wurde im vergangenen Jahr in der Ärzteschaft sehr kontrovers geführt. Dies ist im Grunde überhaupt nur dadurch verständlich, daß angesichts einer frühzeitig im Jahr 1993 absehbaren Budgetunterschreitung auf Bundesebene viele Ärzte davon ausgegangen sind, daß unter einem Globalbudget noch ein weitgehend unbehelligtes Arbeiten möglich ist. Diese Auffassung kann sich angesichts der beschriebenen dynamischen Effekte (Demographie, Innovationen, zehnprozentiger Arztzahlzuwachs, „Doctor-shopping“ etc.) und der gleichzeitig sehr rigiden Haltung der Krankenkassen hinsichtlich möglicher Budgeterhöhungen bereits im Jahr 1994, spätestens wohl aber im Jahr 1995, als fataler Trugschluß erweisen. Arzneimittelgruppenbezogene Richtgrößenprüfungen, die zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassenverbänden unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten arztgruppenbezogen vereinbart werden, haben gegenüber einer solchen Kollektivhaftung insbesondere den Vorteil, daß das Morbiditätsrisiko —jedenfals im Hinblick auf das Falzahlrisiko und die Inanspruchnahme unverzichtbarer Arzneimittel — an die Krankenkassen zurückgegeben wird.

Die Frage, auf welche Weise Überschreitungen der KV-spezifischen Budgets in den Jahren 1994 und 1995 auf einzelne Ärzte „heruntergebrochen“ werden sollen, wird je nach Kassenärztlicher Vereinigung derzeit unterschiedlich diskutiert. Die Vorstellungen reichen von der anteiligen Kollektivhaftung aller Ärzte bis zum „verursachergerechten“ Honorarabzug im Rahmen sogenannter „budgetorientierter Richtgrößen“, die im Sinne verschärfter Durchschnittsprüfungen erst bei tatsächlich festgestellter Budgetüberschreitung rückwirkend zur Anwendung kommen sollen. Die einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen werden die Kassenärzte ihres Bereichs über das vorgesehene Verfahren jeweils rechtzeitig informieren.

Anfang Juni dieses Jahres werden die bundesweiten Arzneimittel- und Heilmittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im 1. Quartal 1994 durch den Bundesgesundheitsminister bekanntgegeben werden. Dann wird sich zeigen, ob sich die aus den Umsatzzahlen der pharmazeutischen Industrie und der Apotheker andeutende „Trendwende“ zu wieder deutlich höheren Verordnungskosten auch in den Abrechnungsergebnissen der Krankenkassen niederschlägt. Zu diesem Zeitpunkt müßten dann auch erstmals konkrete Modelle verfügbar sein, auf welche Weise im Falle einer KV-bezogenen Budgetüberschreitung das Verfahren der dann durchzuführenden Honorarabzüge geregelt werden soll.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Die Arzneimittel- und Heilmittelbudgets – Ergebnisse, Hintergründe und Perspektiven. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 91, Heft 19, 13. Mai 1994, S. A-1381-A-1385 (63-69)

Literaturhinweis
*) Dinkel, H. H.; Görtler, D.: Die Sterblichkeit nach Krankenkassenzugehörigkeit; Versicherungsmedizin; Bd.46, 1/94, S. 17 ff.

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