Arzneikosten-Entwicklung: Bloße Quartalsvergleiche führen in die Irre

Deutsches Ärzteblatt (1991)

Voreilige Kritik an den Kassenärzten geht an den wirklichen Ursachen vorbei

Die gesetzliche Krankenversicherung meldet für das 1. Halbjahr 1991 einen deutlichen Anstieg der Arzneimittelausgaben. Wie so oft, wird hieraus von voreiligen Kritikern wieder einmal der Schluß gezogen, die Kassenärzte verordneten aus irrationalen Gründen immer mehr Präparate. Eine sorgfältige Analyse der Verordnungskostenentwicklung in den letzten Jahren belegt dagegen, daß sich die Entwicklung der Arzneimittelausgaben im 1. Halbjahr 1991 durchaus im zu erwartenden Rahmen bewegt. Ein wesentlicher Grund für die offensichtliche Verunsicherung bei den Krankenkassen ist wohl in der Tatsache zu sehen, daß die prozentualen Wachstumsraten der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen seit Ende 1988 nicht mehr geeignet sind, ein zutreffendes Bild der tatsächlichen Verordnungssituation zu vermitteln. Der sogenannte „Blüm-Bauch“ im 4. Quartal des Jahres 1988 war nur der Beginn für die seither festzustellende unregelmäßige Entwicklung der Verordnungskosten, die durch das Inkrafttreten arzneimittelpolitischer Maßnahmen (insbesondere durch die Festbetragsregelung) ausgelöst worden ist.

Wer in diesem Auf und Ab der Ausgabenentwicklung die Ergebnisse eines Quartals oder eines Halbjahres ausschließlich im Vergleich zum jeweiligen Vorjahreszeitraum mißt, kommt zu Ergebnissen, die häufig ebenso spektakulär wie spekulativ sind. Schlußfolgerungen im Hinblick auf ein irrationales Verordnungsverhalten der Ärzte können aus solchen Vergleichen dagegen nicht gezogen werden.

Vergleicht man die Entwicklung der Arzneimittelkosten auf der Grundlage eines solchen Jahres, dessen Ergebnisse noch nicht durch das Gesundheits-Reformgesetz beeinflußt worden sind, so kommt man zu anderen Ergebnissen.

In Abbildung 1 ist für den wichtigen Teilaspekt der Verordnungszahlen diese „bereinigte“ Entwicklung auf der Grundlage des Ergebnisses für das Jahr 1987 dargestellt.

Arzneikosten-Entwicklung

Hieraus läßt sich erkennen, daß von einer stetigen Zunahme kassenärztlicher Verordnungen keine Rede sein kann. Vielmehr zeigt der Index für das 1. Quartal 1991 gegenüber dem Durchschnittswert aller 4 Quartale des Jahres 1987 einen Wert von 104. Angesichts der  deutlichen Zunahme der Wohnbevölkerung durch Aus- und Übersiedler im Verlauf der zurückliegenden vier Jahre muß ein solcher Wert sogar als überraschend niedrig angesehen werden. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man zusätzlich berücksichtigt, daß das Verordnungsvolumen im 1. Quartal eines Jahres aufgrund saisonaler Besonderheiten (Erkältungskrankheiten!) stets überdurchschnittlich ausfällt. Lediglich im Jahre 1989 ist diese Regelmäßigkeit durch einen Sondereffekt, der als Abbau des „Blüm-Bauchs“ beschrieben werden kann, verdeckt worden. Auch im Jahre 1991 waren Erkältungskrankheiten wieder für das höhere Verordnungsaufkommen im 1. Quartal verantwortlich.

Eine Besonderheit im 2. Quartal 1991 ist dagegen insofern eingetreten, als das Verordnungsvolumen — im Gegensatz zu den in Vorjahren zu beobachtenden Trends — im Indexvergleich nur unwesentlich, nämlich von 104 auf 102, abgesunken ist. Im Vergleich zum Vorjahresquartal, also dem 2. Quartal des Jahres 1990, ergibt sich hierdurch eine vergleichsweise große Differenz von sechs Prozentpunkten. Da aus Abbildung 1 der Eindruck gewonnen werden kann, daß das  Verordnungsverhalten der Ärzte hinsichtlich der Verordnungszahlen in den vergangenen vier Jahren sehr konstant geblieben ist, liegt die Vermutung nahe, daß der Sonderfall des 2. Quartals 1991 auf exogene Ursachen zurückzuführen ist, die nicht in der Verordnungsverantwortung der Kassenärzte liegen. Diese Vermutung kann durch eine Analyse der Verordnungsschwerpunkte des 2. Quartals 1991 bestätigt werden. Aus Abbildung 2 ergibt sich nämlich, daß der große Indikationsbereich „Grippe- und Erkältungskrankheiten“ im Vergleich der Quartale 2/90 und 2/91 mit rund 15 Prozent ganz erheblich zugenommen hat, so daß bereits hieraus ein Großteil des Ergebnisses im 2. Quartal 1991 erklärt werden kann.

Arzneikosten

Der dargestellte Begründungszusammenhang kann zwar den „Doppelvorwurf“ entkräften, die Kassenärzte würden zum einen immer mehr verordnen und zum anderen dies aus irrationalen Beweggründen tun, diese Analyse muß jedoch ergänzt werden durch weitergehende Studien hinsichtlich der tatsächlichen Einflußfaktoren in der Entwicklung der Arzneimittelausgaben bei den Krankenkassen. An vorderer Stelle sind folgende Aspekte zu nennen:

  • Die Wohnbevölkerung in den alten Bundesländern hat in den beiden vergangenen Jahren deutlich zugenommen, so daß bei Arzneikostenvergleichen nicht die Gesamtkosten, sondern die Fallwerte pro Mitglied zugrundegelegt werden müssen.
  • Die weitere Umsetzung der Festbetragsregelung führt zwischenzeitlich in vielen Bereichen im Ergebnis zu einem Anstieg der von den Krankenkassen zu tragenden Arzneimittelkosten. Als Einzeleffekte können beispielsweise der Wegfall der Zuzahlung in Höhe von 3 DM bei den festbetragsfähigen Arzneimitteln oder der Trend zur Anhebung von Preisen auf das Festbetragsniveau angeführt werden.
  • Die seit vielen Jahren ausgesprochenen Empfehlungen zur generellen Verordnung von Monopräparaten anstelle von Kombinationspräparaten haben möglicherweise zu einer deutlichen Mengensteigerung geführt, da auch anstelle von sinnvollen Kombinationspräparaten zwei oder sogar mehr als zwei Monopräparate verordnet werden. • Bereits der Ankündigungseffekt der Negativliste mag dazu geführt haben, daß anstelle der Negativlisten- Präparate (möglicherweise teurere) Ersatzpräparate verordnet werden.
  • Die demographische Entwicklung führt sowohl infolge des unausgewogenen Altersaufbaus der Bevölkerung als auch aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung zu einem immer höheren Rentneranteil. Da die Arzneimittel-Fallkosten bei Rentnern im Bundesdurchschnitt etwa viermal so hoch sind wie diejenigen von Mitgliedern und deren Familienangehörigen, dürfte die demographische Entwicklung zu einem der hauptsächlichen Einflußfaktoren für die Arzneimittelausgaben werden.
  • Bei der Arzneikostenanalyse darf die „Innovationskomponente“ nicht vernachlässigt werden. So kann etwa die Einführung und Verbreitung der ACE-Hemmer und der HMG-CoA-Reduktase-Hemmer nicht ohne Einfluß auf die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen bleiben.
  • Schließlich darf nicht übersehen werden, daß der Anteil der behandelten an den behandlungsbedürftigen Patienten im gewissen Sinne stets auch einen Gradmesser für die Effektivität eines Gesundheitswesens darstellt. So geht es beispielsweise nicht an, daß einerseits der vergleichsweise hohe Anteil noch nicht entdeckter oder nicht ausreichend behandelter Hypertoniker beklagt wird, daß aber auf der anderen Seite die zunehmenden Anstrengungen zur Aufdeckung und korrekten medikamentösen Behandlung von Hochdruckkranken dazu führen, daß die Kassenärzte für den hieraus resultierenden Anstieg der Verordnungskosten im Bereich der Antihypertonika verantwortlich gemacht werden sollen.

Die angedeuteten Aspekte stellen lediglich Ansätze zur Erklärung aktueller und künftiger Entwicklungen bei den Arzneikosten dar. Ihre Relevanz muß im Rahmen weitergehender Analysen geklärt werden. Möglicherweise kann hierdurch erreicht werden, daß Politiker und Krankenkassenvertreter künftig davon Abstand nehmen, pauschale Schuldzuweisungen an die Kassenärzteschaft zu richten, und statt dessen versuchen, zumindest die in ihrem eigenen Einflußbereich liegenden Fehlentwicklungen zu korrigieren. Schließlich fordert die demographische Herausforderung der kommenden Jahrzehnte intelligentere Lösungsansätze als den erhobenen Zeigefinger oder die Androhung härterer Prüfmaßnahmen.

Verfasser:
Kerstin Kamke, PhD, Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, Dr. med. Lothar Krimmel

Erstveröffentlichung:
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 88, Heft 40, 3. Oktober 1991