Gesetzliche Krankenversicherung: Kunsttherapie als Kassenschlager

Deutsches Ärzteblatt (1997)

Daß der „solidarische Wettbewerb“ der Krankenkassen als gesundheitspolitische Mißgeburt aus dem Jahre 1992 den Widerspruch in sich trägt und daher nicht funktionieren kann, wird auch auf Kassenseite kaum mehr ernsthaft bestritten. Wie hervorragend dagegen der „unsolidarische Wettbewerb“ funktioniert, das beweist eine immer größere Anzahl von Einzelkassen. Die jüngste Stilblüte stellt die IKK Hamburg vor: Kunsttherapie als Kassenschlager.

Die gesetzlichen Krankenkassen sind in Deutschland Monopolanbieter für alle Bürgerinnen und Bürger, deren Jahreseinkommen unter der Versicherungspflichtgrenze liegt. Wegen dieser Monopolstellung ist Wettbewerb unter den einzelnen Trägern des Monopols rechtlich nur sehr begrenzt möglich. Da Wettbewerb dem Bestreben der einzelnen Kassen entgegenkommt, ihr eigenes wirtschaftliches Gedeihen allen anderen Zielen voranzustellen, ist er natürlicherweise darauf gerichtet, gute Risiken anzuziehen und schlechte Risiken, das heißt arme und kranke Menschen, auszugrenzen.

Lockangebote an die Kassenärzte

Während dennoch der Großteil der Krankenkassen gegenwärtig versucht, durch Einsparbemühungen im Rahmen der Krankenversorgung die Beitragssätze auch für den Großteil der gesunden Mitglieder noch attraktiv zu halten, gehen die Innungskrankenkassen – insbesondere die IKK Hamburg – einen anderen Weg: Sie versuchen trotz ebenfalls knapper finanzieller Ressourcen durch gezielte Leistungserweiterung einen Kundenkreis anzusprechen, der wegen hoher Einkommen und vergleichsweise geringer Gesundheitsprobleme zu den „besten Risiken“ überhaupt gehört: die Nachfrager nach alternativen Behandlungsverfahren.

Die IKK Hamburg schreckt dabei nicht vor der mißbräuchlichen und damit rechtswidrigen Anwendung der sogenannten „Erprobungsregelungen“ des Sozialgesetzbuches zurück. In einer stark marketingorientierten Werbekampagne soll sie als Kasse für zum Beispiel anthroposophische Medizin, Kunsttherapie und Heileurythmie bekanntgemacht werden. Doch damit nicht genug: frei nach dem Motto „Wer will noch mal, wer hat noch nicht?“ heißt es im Werbeprospekt der IKK Hamburg: „Sollten Sie ,Ihre‘ Behandlung oder Therapie hier nicht wiederfinden, sprechen Sie unser Betreuungsteam an.“ So können auch Wünschelrutenfetischisten und Voodoo-Anhänger noch hoffen, endlich die richtige Kasse gefunden zu haben.

Damit auch die Ärzte mitspielen, werden Vergütungssätze angeboten, die dem normalen Kassenarzt die Tränen in die Augen treiben. So firmiert unter der Rubrik „Akupunktur“ eine „naturheilkundliche Erstanamnese“ zum Preis von 150 DM. Dafür muß der „normale“ Kassenarzt beim „normalen“ IKK-Patienten mindestens sieben Ganzkörperuntersuchungen erbringen.

Das Vorgehen der IKK Hamburg steht im krassen Widerspruch zum derzeitigen Bemühen aller verantwortlich Handelnden, angesichts der existentiellen Krise der sozialen Sicherungssysteme den Menschen in unserem Lande die Begrenztheit der verfügbaren Mittel zu verdeutlichen. Die IKK schwimmt hier bewußt gegen den Strom gesamtgesellschaftlicher Vernunft. Wie wenig es ihr mit dem Modellversuch um Versorgungsqualität geht, zeigt das Verhalten ihres Bundesverbandes: Der steht nämlich bereits seit Monaten in Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) über den Abschluß eines Rahmenvertrages zur Erprobung von alternativen Behandlungsverfahren. Da die KBV dabei stets die Notwendigkeit der begleitenden Qualitätssicherung und der wissenschaftlichen Evaluation betont hat, wurden die Gespräche vom IKK-Bundesverband schließlich „ausgesetzt“, um die „Modellversuche“ einzelner Innungskrankenkassen nicht durch unabweisbare Qualitätsnormen zu belasten.

Geradezu verblüffend ist in diesem Kontext die Naivität einiger ärztlicher Verbände für alternative Heilverfahren, die entsprechende Verträge eingehen. Die Verbände haben offensichtlich nicht realisiert, daß sie lediglich austauschbare Figuren im Marketingkonzept einer Einzelkasse sind. Es mag durchaus sein, daß die ärztlichen Körperschaften der steigenden Nachfrage nach alternativen ärztlichen Heilmethoden bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dieser Mangel kann jedoch nur durch geschlossenes und abgestimmtes Handeln der ärztlichen Verbände und Körperschaften behoben werden.

Wer jetzt einen rechtswidrigen Vertragsabschluß seines Verbandes mit der IKK Hamburg als „Erfolg“ mißversteht, sollte wissen: Dieselben Innungskrankenkassen werden zu entschiedenen Gegnern einer leistungsgerechten ärztlichen Vergütung, wenn es etwa darum geht, die homöopathische Behandlung im EBM, also außerhalb der Sphäre eines unsinnigen Kassenwettbewerbs, adäquat zu bewerten.

Die alternativmedizinischen Exkursionen der IKK Hamburg sind somit ein weiterer Beleg für den gefährlichen Unsinn eines „solidarischen Wettbewerbs“ der Monopolträger der GKV. Dieser steht allen Bemühungen im Wege, auf eine Effizienzsteigerung der bestehenden Versorgungsstrukturen hinzuwirken und den Versicherten angesichts der Dynamik von Demographie und medizinischem Fortschritt die Begrenztheit der verfügbaren Mittel zu verdeutlichen.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar:  Gesetzliche Krankenversicherung: Kunsttherapie als Kassenschlager. In: Deutsches Ärzteblatt (Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, 50859 Köln), Jg. 94, Heft 28-29, 14. Juli 1997, S. A-1912 (16).

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