Triumph der Budgetisten? Zum programmierten Chaos in der Arzneimittelversorgung

Der Hausarzt (1996)

Um es vorwegzunehmen: Das Budget muß fallen! Es muß fallen, weil es von verbohrten Verwaltungshirnen ersonnen wurde und von verantwortungslosen Kassenfunktionären ins Chaos getrieben wird.

Das Arzneimittelbudget - von verbohrten Verwaltungshirnen ersonnen - muß fallen! Dies fordert der stellvertretende KBV-Hauptgeschäftsführer und Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Lothar Krimmel

Das kollektive Budget in der Arzneimittel- und Heilmittelversorgung – in Entstehung und Anwendung fern jeglicher Versorgungsbedürfnisse – ist ein Meilenstein auf dem Wege Deutschlands in eine Bananenrepublik. Heute ist das Budget ein Riese, der auf Füßen steht, für welche die Bezeichnung „tönern“ eine maßlose Übertreibung wäre. Das Problem für die Kassenärzte ist nur: Wann fällt dieser Riese und auf wen fällt er? Diese Frage wäre wesentlich weniger beunruhigend, wenn wir nicht Anlaß zu der Vermutung hätten, daß der Justiz, der Politik und der Öffentlichkeit in Deutschland die willkürliche Bedrohung der Existenz von 30 000 Kassenärzten so viel und so wenig bedeutet, als wenn in China der berühmte Sack Reis umfällt. Die Budgetgeschichte des Jahres ’96 ist schnell erzählt: Die Krankenkassen hatten aufgrund ihres totalen Versagens im Datenmanagement in den Gesprächen mit der KBV die Budgetjahre ’95 und ’96 bereits abgehakt. Da kam Horst Seehofer Anfang September ’96 und machte Feststellungen, die folgende Schlußfolgerungen zulassen:

  1. Die Krankenkassen sind pleite; auf hohem Niveau zwar, aber immerhin: pleite; zahlungsunfähig im Hinblick auf die Bedienung der Ausgabensteigerungen aufgrund von Demographie und medizinischem Fortschritt.
  2. Die Kassenärzte werden das durch Kassenwillkür für alle Zeiten auf den Ausgaben des Jahres ’91 eingefrorene „Budget“ im Jahre ’96 wahrscheinlich um 4,8 Milliarden Mark überschreiten.
  3. Alle Aufsichtsbehörden werden angewiesen, den Krankenkassen so lange keine Beitragssatzerhöhungen zum Ausgleich der Defizite zu gestatten, bis sie diese 4,8 Milliarden Mark aus den Honoraren der Kassenärzte eingetrieben haben.

Unfaßbar, daß sich insbesondere die F.D.P. in dieser Politik gegen die Kassenärzte besonders aktiv hervortut. Die Liberalen versorgen in diesen Tagen die Pharmaindustrie und die Apotheker mit großzügigen Geschenken und opfern im Gegenzug die Kassenärzte auf dem Altar eines planwirtschaftlichen Budgetismus. Alle Versuche, mit der F.D.P. zumindest den gröbsten Unsinn aus den Budgetbestimmungen zu tilgen, wurden von dort zurückgewiesen. Die Budgets seien derzeit für die F.D.P. „kein Thema“. Geschenke für Pharmaindustrie und Apotheker: ja! Aber bitte auf Rechnung der Kassenärzte! Und die SPD? Sie schweigt und sieht zu, wie sich der Leistungsanspruch ihres Klientels, vom sozialschwachen bronchitischen Kleinkind (zum Beispiel Mukolytika) bis zur Beinschmerzgeplagten Karstadt-Verkäuferin (zum Beispiel Venenmittel) praktisch über Nacht verflüchtigt. Dabei gäbe es so viele Anlässe, das einfältige Budgetgebäude zum Einsturz zu bringen.

Fehlerhafte „Budgetermittlung“

Stichwort „Budgetermittlung“: Wie kann es sein, daß im Saarland pro Versichertem und Jahr mehr als 800 Mark für die Arzneimittel- und Heilmittelversorgung zur Verfügung stehen, in Brandenburg dagegen weniger als 600 Mark (siehe Balkendiagramm auf Seite 2)? Ist diese Form regionaler Zwei-Klassen-Versorgung Zielgröße unserer föderalen Staatsordnung? Die Antwort ist ganz einfach: Ursache ist die totale Willkür der Krankenkassen bei der Budgetfestlegung, die jeden Versuch einer sinnvollen Modifizierung schroff zurückgewiesen haben. Die Ausgangsbudgets des Jahres ’93 wurden nach der sogenannten „FallwertMethode“ ermittelt. Dabei wurde für alle Kassen im Bundesgebiet ein durchschnittlicher Arzneimittel- und Heilmittelfallwert gebildet, der dann einfach mit den von den Kassenärztlichen Vereinigungen gemeldeten Fallzahlen der entsprechenden Krankenkasse multipliziert wurde. Mit diesem Verfahren waren gleich zwei bedeutsame Fehlerquellen verbunden: Zum einen nahm die Durchschnittsbetrachtung der Fallwertmethode keine Rücksicht auf regionale Versorgungsbesonderheiten und bisherige Ausgabenvolumina (zum Beispiel überdurchschnittlicher Rentneranteil in Nordbaden), zum anderen reichte die versehentliche Meldung zu hoher Fallzahlen durch eine einzelne Kassenärztliche Vereinigung aus, um dieser KV – aufgrund der ungeheuren Datenkomplexität faktisch von niemandem durchschaubar – ein abnorm hohes Budget zuzumessen.

In den Jahren ’93 und ’94 fiel dies nicht weiter auf, da auch die Ergebnisse des Verordnungsjahres nach derselben Methode gegengerechnet wurden und zudem die Budgetvorgabe (Ausgaben des Jahres ’91) flächendeckend eingehalten wurde. Im Jahre ’95 kam es dagegen entsprechend den gesetzlichen Vorschriften zu einem Wechsel in der Ausgabenerfassung hin zur Erfassung der tatsächlichen regionalen Verordnungskosten. Ab diesem Zeitpunkt werden also im wahrsten Sinne des Wortes „Äpfel“ (Fallwertmethode beim Ausgangsbudget) mit „Birnen“ (tatsächliche regionale Verordnungskosten im Ergebnisbudget) verglichen.

Budget und Ausgaben pro Mitglied GKV je KV^

Budget und Ausgaben pro Mitglied GKV je KV

Die totale Unbelehrbarkeit der Krankenkassen hinsichtlich dieser Problematik wird mit Sicherheit ein wichtiges Argument anläßlich der anstehenden rechtlichen Überprüfung nach Einbehaltung von Strafzahlungen sein.

Fehlende Anpassungskriterien

Stichwort: „Weiterentwicklung der Budgets“: Wesentliche Faktoren der Ausgabendynamik werden in den gesetzlichen Kriterien zur Weiterentwicklung der Budgets gemäß § 84 Abs. 1 SGB V überhaupt nicht erfaßt. Hierzu gehören die Ausgabenschübe aufgrund der zunehmenden Verlagerung der Behandlung von der stationären in die ambulante Versorgung (zum Beispiel onkologische Therapie) oder das Aufholen von Versorgungsrückständen zum Beispiel im Bereich von Schmerztherapie und Hypertonie-Behandlung, aber auch von Logopädie und Ergotherapie.

Was ferner im Bereich etwa der Osteoporoseprophylaxe mit Sexualhormonen oder der Therapie chronischer Hepatitiden – um nur zwei abgegrenzte Bereiche zu nehmen – an Leistungsansprüchen auf die Krankenkassen zukommen wird, ist gewaltig. Allein das Aufholen derartiger Versorgungsrückstände mit den im Jahre ’96 verfügbaren Mitteln würde eine Budgetanhebung um mehr als 25 Prozent, entsprechend fast 10 Milliarden Mark erfordern. Dagegen erscheinen alle theoretisch postulierten „Wirtschaftlichkeitsreserven“ zusammen im wahrsten Sinne als „peanuts“.

Und was ist zum Beispiel mit der politisch provozierten, gegen jede Vernunft durchgepeitschten Ermöglichung des Chipkarten-Tourismus? Muß für die hierdurch entstehenden Ausgabenberge (in Einzelfällen bis zu 80 unkoordinierte Direktinanspruchnahmen von Ärzten im Quartal!) nicht die gesetzliche Krankenversicherung aufkommen? Für die Krankenkassen und Schiedsämter sind dies alles keine Argumente! Warum? Ganz einfach! Weil solche Anpassungskriterien nicht im Gesetz stehen!

Die Thromboseprophylaxe im Zusammenhang mit ambulanten Operationen, die Verbesserung der Schmerztherapie bei chronisch Schmerzkranken oder die Professionalisierung der Sprachtherapie bei Schlaganfallpatienten: alles dies ist nicht Gegenstand der Budgetanpassung, alles dies soll von den Kassenärzten aus ihrem eigenen Honorar finanziert werden! Und wie steht die Politik zur Bitte der KBV, in den aktuellen Gesetzgebungsverfahren zumindest dieses Versäumnis des Jahres ’92 nachzubessern? Wiederum eindeutig: „Kein Handlungsbedarf“!

Rechtsstaat mit Füßen getreten

Stichwort „Ausgabenerfassung“: Hier ist die Strategie der Krankenkassen klar: Der Rechtsstaat steht nur auf dem Papier, es gilt das Kassen-Landrecht! Budgetüberschreitungen werden nicht nachgewiesen, sondern schlichtweg behauptet und dann gnadenlos per Kürzung der Gesamtvergütung eingetrieben. Mehr als dreieinhalb Jahre nach Einführung der Budgetierung gibt es noch nicht einmal ein transparentes Ablaufschema, nach dem die Verordnungskosten – vom Ausstellen des Kassenrezepts bis zur KV-bezogenen Zusammenfassung der Ergebnisse der einzelnen Kassenarten – erfaßt werden. Fehlern und Manipulationen sind auf diese Weise Tür und Tor geöffnet und sie werden auch kräftig praktiziert. Wer jemals ein auf solche Weise zustande gekommenes Zahlenmachwerk zur Grundlage von Gesamtvergütungskürzungen machen will, tritt den Rechtsstaat mit Füßen.

Was passiert zum Beispiel, wenn ein Apotheker – was leider immer wieder vorkommt – das verordnete Generikum abgibt, jedoch das mehr als dreimal so teure Originalpräparat abrechnet? Gar nichts! Ein solches „Verhalten“ kann aufgrund der „Ausgabenerfassung“ durch die Krankenkassen gar nicht auffallen; ein Abgleich zwischen der Rezeptverordnung des Arztes und der Abrechnung des Apothekers findet nicht statt! Der Apotheker hat sich bereichert, der Kassenarzt zahlt die resultierende Budgetüberschreitung. Auf dem Weg bis zur behaupteten Budgetüberschreitung bestehen noch etliche weitere Manipulationsmöglichkeiten, insbesondere im Bereich von Fehlbuchungen, die allesamt auf eine rechtswidrige Refinanzierung der Krankenkassen über den Weg der Einbehaltung kassenärztlicher Honorare hinauslaufen.

Steuerungsgedanke fragwürdig

Und schließlich das Stichwort: „Steuerungsinstrumente“: Der Budgetgedanke impliziert in jedem Fall die Steuerbarkeit der Ausgaben. Doch da gibt es ein Problem: die Krankenkassen haben es bis heute nicht geschafft, ihr Datenchaos so zu ordnen, daß sie den Kassenärzten die erforderlichen Zwischenstände zur effektiven Budgetsteuerung an die Hand geben könnten. Entsprechende Daten, die mit großen Unsicherheiten verbunden sind, mußten von den Kassenärztlichen Vereinigungen bis zuletzt auf Ausweichkanälen beschafft werden. Hinzu kommt, daß im Rahmen eines Kollektivbudgets für mehrere tausend Einzelärzte jeder Steuerungsgedanke im Grunde fragwürdig ist. Und die Richtgrößen? Um jeder Legendenbildung vorzubeugen: Budgetablösende Richtgrößen gemäß § 84 Abs. 4 SGB V sind voraussichtlich erstmals ab dem 1. Juli ’97 einsetzbar, da vorher die arztbezogene Erfassung der Ausgaben und damit die Überprüfung der Einhaltung einer Richtgröße aufgrund des technischen Versagens der Krankenkassen überhaupt nicht möglich ist. Daher nochmals: keine politische Legendenbildung zur „Untätigkeit der Kassenärztlichen Vereinigungen“!

Die KBV hatte sich bereits frühzeitig nach Inkrafttreten des GSG im Jahre ’93 um weitere inhaltliche Steuerungselemente bemüht. So wurden die Arzneimittel-Richtlinien entsprechend geändert, um dem Kassenarzt konkrete Hinweise zu geben. Und wie reagierte der Bundesgesundheitsminister? Er hat die Richtlinien in den wichtigsten Passagen beanstandet und damit faktisch abgeblockt. Diese Richtlinien seien zu weitgehend und stellten einen unzulässigen Vorgriff auf die bald zustande kommende Positivliste dar! Positivliste? Diese kam natürlich auch nicht zustande, sondern wurde als Krönung einer durch Kassenärzte finanzierten „Standortpolitik“ mit feinem Gespür für die Gefühle der Betroffenen vom Staatssekretär höchstpersönlich dem Bundesverband der pharmazeutischen Industrie in Konfetti-Form zum vergnüglichen Verpusten übergeben. Auch dieser Steuerungsversuch der Kassenärzte verlief somit vollständig im Sande.

Armada von Unvernunft

Wenn trotz dieser Manipulationen von Politik, Krankenkassen und Pharmaindustrie im Zusammenhang mit den Budgetregelungen derzeit niemand das programmierte Chaos zur Sprache bringen und diese Phantomdiskussion ein für alle mal beenden will, so lehrt dies eines: Die Kassenärzte sind allein; allein mit einem existenzbedrohenden Budget-Wahnsinn auf der einen und ihrem ärztlichen Ethos auf der anderen Seite. Aber gegen eine Armada von Unvernunft und Böswilligkeit ist ärztliches Ethos machtlos.

Und Therapiefreiheit? Im Budget-Zeitalter ein Wort wie aus einer vergangenen Zeit. 1996 soll die Illusion der Therapiefreiheit die Kassenärzte 4,8 Milliarden Mark kosten. Bei faktisch eingefrorenen Budgets müßten die Kassenärzte im Jahre 2001 bereits 100 Prozent ihrer Einkünfte für diese Idee opfern und würden damit allerdings auch gleichzeitig von der Bühne der realen Patientenversorgung verschwinden. Angesichts dramatischer Finanzengpässe und der Bedrohung unserer Volkswirtschaft durch Arbeitslosigkeit und Rezession ist die Politik zunehmend bereit, die solidarische Krankenversicherung sehr weitgehend zu verändern. Am meisten leiden wird darunter der Patient. Er wurde als der eigentliche Störenfried im System der „Gesundheitsversorgung“ erkannt. Sein Partner ist nur noch der Kassenarzt, der jedoch ebenfalls urplötzlich auf die Liste der bedrohten Arten gerutscht ist. Nur die Kassenärzte selbst haben all dies offensichtlich noch nicht gemerkt.

Von besonderer Wichtigkeit ist es, die doppelzüngige Strategie der Krankenkassen zu entlarven. Die Kassen haben bislang alle Sparbemühungen der Kassenärzte dadurch unterlaufen, daß sie „am Schalter“ ihren Versicherten vermittelt haben: „Alles, was ihr Arzt für notwendig hält, bezahlen wir auch!“ Dies entspricht aber nicht mehr den Tatsachen. Die Kassen fordern nämlich nicht nur auf politischer Ebene die Einführung der Positivliste und damit den faktischen Verordnungsausschluß „umstrittener“ Arzneimittel. Sie praktizieren diese Form der Rationierung auch ganz konkret in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Budgets. Dabei ist die Argumentation sehr einfach: Solange sogenannte umstrittene Arzneimittel verordnet werden, wird eine Anhebung der Budgets für die Verordnung innovativer Arzneimittel oder für die Auswirkungen der demographischen Entwicklung verweigert. Die Kassenärzte sind aus existentiellen Gründen gezwungen, diese Rationierungsstrategie der Krankenkassen, die von der Gesundheitspolitik mitgetragen wird, dem Patienten zu vermitteln. Angesichts einer sich abzeichnenden Budgetüberschreitung von bundesweit 4,8 Milliarden Mark kann von den Kassenärzten nicht erwartet werden, wie gewohnt weiter zu verordnen.

Drangsalierung geht von Politik und Krankenkassen aus

Dies bedeutet, daß – zumindest in den beiden letzten Monaten dieses Jahres – Arzneimittel, Massagen und Krankengymnastik mit äußerster Zurückhaltung verordnet werden, auch wenn dies in dem einen oder anderen Fall zu Unverständnis bei Patienten führen mag. Gerade die Hausärzte sollten ihre Patienten davon überzeugen können, daß die Drangsalierung von Politik und Krankenkassen ausgeht und daß diese Maßnahmen vorübergehend notwendig sind, damit es in den kommenden Jahren überhaupt noch Hausärzte gibt. Daneben ist nunmehr der Zeitpunkt gekommen, mit aller Macht und auf allen Ebenen im Interesse der Patientenversorgung gegen die von den Krankenkassen ins Chaos getriebene Budgetierung anzugehen. Dabei muß allen Ärzten klar sein, daß auch bei einem Wegfall der Budgets angesichts der enormen Finanzpässe der gesetzlichen Krankenversicherung ein erheblicher Druck auf der Arzneimittelverordnung lasten wird. Nur: Wenn Entscheidungen über Leistungsausgrenzungen und Rationierung nun einmal unvermeidlich sind, so ist dies die Aufgabe der Politik und nicht des Kassenarztes.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Triumph der Budgetisten? Zum programmierten Chaos in der Arzneimittelversorgung. In: Der Hausarzt (Deutscher Hausärzteverband e. V.; Verlag Springer Medizin) Jg. 1996, H. 18

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