Chance oder Gefahr für die Patienten? Erweiterte Vorsorge-Maßnahmen als individuelle Gesundheitsleistungen

Forum für Gesellschaftspolitik (1998)

IGeL-Leistungen zur erweiterten Gesundheitsvorsorge

Etwa 10 der 70 von KBV und ärztlichen Verbänden zusammengestellten individuellen Gesundheitsleistungen beziehen sich auf Leistungen der erweiterten Gesundheitsvorsorge. Hiergegen wurde von Seiten der Krankenkassen der Vorwurf erhoben, es handele sich vor allem wegen der Möglichkeit falsch positiver Befunde mit unnötiger Folgediagnostik um „gefährliche Leistungen“. Der folgende Beitrag befaßt sich mit diesem Vorwurf.

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung beziehen sich ganz überwiegend auf Maßnahmen der Krankenversorgung. Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten im Sinne von „Vorsorge-Untersuchungen“ sind in der gesetzlichen Krankenversicherung nur in einem sehr eingeschränkten, gesetzlich genau definierten Umfang möglich. Dies betrifft auf der Grundlage der §§ 25 und 26 SGB V

  • die ab dem 35. Lebensjahr alle 2 Jahre mögliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit,
  • die für Frauen ab dem 20. und für Männer ab dem 45. Lebensjahr vorgesehene jährliche Untersuchung zur Früherkennung bestimmter Krebserkrankungen und
  • die Untersuchungen zur Krankheitsfrüherkennung bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres sowie einmal nach Vollendung des 10. Lebensjahres. Das Nähere über Art und Umfang der Untersuchungen wird vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen festgelegt. Der Bundesausschuß hat dabei auch die gem. § 25 Abs. 2 SGB V vorgeschriebenen einschränkenden Bedingungen zu beachten. Voraussetzung für die gesetzlichen Früherkennungsuntersuchungen ist nämlich u. a.,
  • daß es sich um Krankheiten handelt, die wirksam behandelt werden können und
  • daß genügend Ärzte vorhanden sind, um die aufgefundenen Verdachtsfälle eingehend zu diagnostizieren und zu behandeln.

Somit bleibt festzustellen, daß die Früherkennungsoder Vorsorge-Untersuchungen in der gesetzlichen Krankenversicherung gleich in mehrfacher Weise eingeschränkt sind:

  • vom Alter des Versicherten,
  • von der Häufigkeit der Untersuchungen,
  • von der Umfänglichkeit der Untersuchungen,
  • von der Behandelbarkeit der Zielkrankheiten, auf die sich die Untersuchung richtet, und
  • von der für einen subjektiven Untersuchungswunsch irrelevanten Frage einer ausreichenden Arztzahl für eine bevölkerungsweite Diagnostik und Behandlung der gefundenen Krankheiten.

Darüber hinaus unterliegen auch die Früherkennungsuntersuchungen dem in der gesetzlichen Krankenversicherung allgegenwärtigen Wirtschaftlichkeitsgebot. Auf diese Weise sind zu mal kostenaufwendige Untersuchungen dann ausgeschlossen, wenn die Zielkrankheiten, auf welche sich die Untersuchungen richten, in der Bevölkerung in einem so geringen Ausmaß vorkommen, daß ein bevölkerungsweites Screening mit einem unangemessen hohen Ressourcenverbrauch verbunden wäre, der für andere Bereiche der Krankenversorgung erforderliche Finanzmittel aufzehren würde. Dabei spielt auch eine Rolle, daß eine Untersuchung auf derartige, seltene Erkrankungen bei einem bevölkerungsweiten Screening zu einer mehr oder weniger hohen Zahl von falsch-positiven Testergebnissen mit nachfolgender Beunruhigung der Betroffenen und aufwendigen Abklärungsuntersuchungen führen muß.

Verstärktes Sicherheitsbedürfnis

Alle die vorgenannten Überlegungen spielen dagegen für den individuellen Wunsch einer Einzelperson, mit allen Methoden der modernen Medizin Aufschluß über ihren Gesundheitszustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erlangen, überhaupt keine Rolle. Ein solcher Wunsch ist auch absolut legitim, ebenso wie es legitim ist, unter Vernachlässigung der damit verbundenen Kosten eine optimale Sicherheitsausstattung für den privaten PKW zu beschaffen. Dem Arzt steht es jedenfalls nicht zu, das gerade in unserer Zeit verstärkte Sicherheitsbedürfnis vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger zu kritisieren und sich zum Richter über die gesundheitlichen Bedürfnisse dieser Menschen aufzuspielen. Es ist im Gegenteil ärztliche Pflicht, nachfragenden Patienten die zahlreichen und künftig noch zunehmenden Möglichkeiten der Krankheitsfrüherkennung, die über den eingeschränkten gesetzlichen Leistungsumfang hinausgehen, anzubieten.

Selbstverständlich gehört es auch zu den allgemeinen ärztlichen Pflichten, den Patienten durch sachliche Informationen über die Sinnhaftigkeit und den Nutzen von Vorsorgeuntersuchungen ebenso aufzuklären wie über deren Konsequenzen und deren Kosten. Wer jedoch das sich allmählich einstellende Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot in diesem elementaren Bereich persönlicher Gesundheits- und Sicherheitsbedürfnisse als „Geschäft mit der Angst“ diffamiert, der mißachtet die grundgesetzlich geschützten Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Menschen in unserem Land. Dies gilt um so mehr, als im Empfehlungskatalog der individuellen Gesundheitsleistungen ausschließlich medizinisch abgesicherte Leistungsangebote enthalten sind, denen ein individueller Nutzen nicht abgesprochen werden kann und die darüber hinaus in bestimmten Fällen sogar für eine Aufnahme in bevölkerungsweite Angebote in Frage kommen. Im übrigen zeigt sich jedoch gerade im Bereich der ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen der fundamentale Unterschied zwischen dem Recht auf Verwirklichung eines individuellen Gesundheits- und Sicherheitsbedürfnisses einerseits sowie den ausschließlich auf kollektiven Nutzen unter begrenzten, solidarisch aufzubringenden Ressourcen ausgerichteten Maßnahmen einer gesetzlichen Pflichtversicherung andererseits.

Beratungsgespräch von herausragender Bedeutung

Der Wunsch nach Durchführung derartiger apparategestützter Verfahren geht durchgehend vom Patienten selbst aus. Dabei sind die Gründe für einen solchen Wunsch durchaus vielgestaltig. Bei manchen Patienten spielt ein entsprechender Zeitschriftenhinweis eine Rolle, andere streben eine Abklärungsuntersuchung vielleicht aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung eines Arbeitskollegen an und wieder andere wollen – vielleicht weil sie eine bestimmte, für sie „kritische“ Altersgrenze überschritten haben – aus Sicherheitsgründen eine Abklärungsuntersuchung in Anspruch nehmen.

Angesichts der durchaus eingeschränkten diagnostischen Bedeutung zahlreicher apparativer Früherkennungsuntersuchungen kommt dem ärztlichen Beratungsgespräch vor der Durchführung einer solchen, vom Patienten gewünschten Diagnostik eine herausragende Bedeutung zu. Zwar sind die Wünsche des Patienten und insbesondere ein vielleicht gesteigertes Sicherheitsbedürfnis durchaus ernst zu nehmen, jedoch hat der Patient in jedem Fall vor Durchführung einer apparategestützten Früherkennungsmaßnahme – zumal angesichts der für ihn damit verbundenen Kosten – das Recht zu erfahren, welche Bedeutung die erbetene Diagnostik hat und welche Konsequenzen für den Fall der Feststellung eines relevanten Krankheitsbefundes bereits im vorhinein zu bedenken sind. Im Rahmen eines solchen beratenden Gespräches kann sich sehr häufig zeigen, daß der Wunsch des Patienten nach diagnostischer Abklärung auf tieferliegenden Problemen beruht, die durch die gewünschte Diagnosemaßnahme mit Sicherheit nicht zu beheben sind. Auch können viele Patienten davon überzeugt werden, daß die diagnostische Relevanz mancher apparategestützter Untersuchungsverfahren nicht so hoch ist, wie gelegentlich in den Medien suggeriert wird. Auf diese Weise kann manche Wunsch-Untersuchung unterbleiben.

Andererseits hat der Arzt durchaus das Bedürfnis des Patienten zu respektieren, über die Dokumentation eines negativen Untersuchungsbefundes eine ihn stark bedrückende, jedoch nicht auf anamnestischen oder klinischen Hinweisen beruhende Krankheitsvermutung ausräumen zu können. Existenzielle Werte wie Gesundheit und Krankheit entziehen sich einem rein mechanistischen Wertesystem, das z.B. irrationale Ängste nicht gelten lassen will.

In einer solidarisch finanzierten Pflichtversicherung mag aufgrund der notwendigen Dominanz des Wirtschaftlichkeitsgebots der Abbau irrationaler Krankheitsängste auch in der Tat nicht vorgesehen sein; hieraus kann jedoch keineswegs abgeleitet werden, daß der Arzt dem Patienten auch im Rahmen der privatärztlichen Wunschbehandlung grundsätzlich die Bitte um apparativ-diagnostischen Ausschluß einer befürchteten Erkrankung abzulehnen hätte. Gerade die gesetzlichen Krankenkassen, die im gegenseitigen Wettbewerb um gute Risiken nichts unversucht lassen, Versicherte mit irrationalen Leistungsversprechen zu binden, sollten sehr genau überlegen, wie glaubwürdig sie sind, wenn sie den möglicherweise ebenfalls irrationalen, gleichwohl berechtigten Wunsch anderer Versicherter nach „apparategestützter Entängstigung“ ablehnen und die Ärzte dieser Patienten als „Abkassierer“ diffamieren.

Die Inanspruchnahme einer apparategestützten Vorsorgeuntersuchung kann neben der Entängstigung auch entscheidend zur Motivation des Patienten im Hinblick auf eine entschlossene Bekämpfung von Risikofaktoren beitragen. Diese Motivation gelingt in vielen Fällen unabhängig davon, ob der Untersuchungsbefund positiv oder negativ ausfällt. Insofern kann gerade bei entsprechend veranlagten Patienten die Inanspruchnahme apparategestützter Vorsorgeuntersuchungen in eine sinnvolle individuelle Präventionsstrategie integriert werden.

Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Eine Änderung der Lebenseinstellung und des individuellen Risikoverhaltens kann auch im Falle eines positiven Befundes, also des Nachweises entsprechender krankhafter Veränderungen, erwartet werden. Eine solche Lebenseinstellung sollte gerade auch dann angestrebt werden, wenn – wie etwa in bestimmten Fällen des Nachweises von Karotis-Stenosen – kurativ-operative Maßnahmen nicht indiziert sind. Wer dagegen die Erfüllung von Untersuchungswünschen ohne Vorliegen anamnestischer oder klinischer Verdachtsmomente mit dem Hinweis auf fehlende therapeutische Konsequenzen positiver Untersuchungsbefunde ablehnt, wendet sich damit gleichzeitig insofern gegen das Recht der informationeilen Selbstbestimmung des Patienten, über alle ihn betreffenden gesundheitlichen Tatsachen im Sinne des Wissens oder Nichtwissens frei verfügen zu können. Dieses Recht mag den Mitgliedern einer gesetzlichen Solidarversicherung mit dem Hinweis auf fehlende „Wirtschaftlichkeit“ eines solchen Selbstbestimmungswunsches verwehrt werden; es wäre jedoch absurd, aufgrund solcher kollektiver Nutzenüberlegungen für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die grundsätzliche Nicht-Einlösbarkeit dieses Selbstbestimmungsrechts zu postulieren.

Gerade im Zusammenhang mit dem ärztlichen Gespräch über die diagnostische Relevanz einer vom Patienten gewünschten apparategestützten Untersuchung ohne Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise ist es von Bedeutung, wenn vom Arzt darauf hingewiesen werden kann, daß die gewünschte Leistung als ausschließliche „Vorsorge-Maßnahme“ nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählt. Möglicherweise kann der Hinweis darauf, daß die gewünschte Untersuchung privat zu finanzieren wäre, einen hinsichtlich des Durchführungswunsches ambivalenten Patienten dazu bringen, anders als bei einer „kostenlosen“ Durchführung zu Lasten der Solidargemeinschaft auf die Realisierung dieses Wunsches zu verzichten.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Chance oder Gefahr für die Patienten? Erweiterte Vorsorge-Maßnahmen als individuelle Gesundheitsleistungen. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), April 1998, S. 101-104.

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