Zentrales Freiheitsrecht von Bürgern und Ärzten

Medical Tribune (2022)

IGeL - Pro & Contra

Die Etablierung „Individueller Gesundheitsleistungen“ durch die KBV im Jahr 1998 verfolgte insbesondere zwei Ziele:

  1. Neue Leistungen wie Vorsorge-Mammographie, Hautkrebsscreening und Schmerz-Akupunktur sollten von den Kassenärzten nicht mehr zum Nulltarif innerhalb des Honorarbudgets erbracht werden. Stattdessen sollten sie so lange als IGeL-Angebot privat bezahlt werden, bis die Kassen einer Aufnahme in den Leistungskatalog zustimmen, mit klarer Finanzierungszusage.
  2. Die zunehmende Nachfrage nach Leistungen außerhalb der Kassenmedizin – von Attesten und Tauglichkeitsuntersuchungen über Reisemedizin bis hin zur Glatzenbehandlung – sollte ebenfalls auf das Feld privat zu bezahlender Zusatzleistungen verlagert werden.

Trotz heftigsten Widerstands der Krankenkassen, die ihren Ruf als „umfassender Versorger“ in Gefahr sahen, wurden beide Ziele in kurzer Zeit erreicht. Wer sich erst ab etwa dem Jahr 2000 niedergelassen hat, kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie selbstverständlich die Kassenärzte vor der „IGeL-Ära“ unter Budgetbedingungen neue Leistungen erbracht und Patientenwünsche „auf Chipkarte“ bedient haben – um den Preis eines galoppierenden Verfalls ihrer Leistungsvergütungen.

„An absurden Einzelbeispielen wird ein angeblicher ‚Wildwuchs‘ von IGeL konstruiert“

Die Kassenverbände haben danach ihren „Medizinischen Dienst Bund“ (MD) beauftragt, die IGeL-Leistungen systematisch zu desavouieren. Dies tut der MD seither mit dem „IGeL-Monitor“. Die dort abgegebenen Bewertungen beziehen sich überwiegend auf abstruse Angebote wie die Bach-Blütentherapie und lauten zumeist auf „unklar“ oder „tendenziell negativ“. Und bei Vorsorge-IGeL wie etwa dem PSA-Test steht stets die Idee einer generellen Anwendung im Sinne eines Massenscreenings im Raum – und eben gerade nicht das für IGeL-Leistungen konstitutive individuelle Vorsorge-Bedürfnis des einzelnen Bürgers.

Ferner fällt auf, dass sämtliche absolut empfehlenswerten Leistungen wie etwa der Sport-Check vor Beginn eines Ausdauertrainings oder dringend benötigte Wunschleistungen wie das tauchmedizinische Attest oder die Entfernung einer ungeliebten Tätowierung zwar beschrieben werden, aber schlichtweg keine Bewertungen erhalten. In der Gesamtschau dominieren hierdurch Bewertungen wie „unklar“ oder „tendenziell negativ“, während man bei den zahlreichen empfehlenswerten oder unbedenklichen Wunschleistungen mit komplizierten Umschreibungen versucht, ein positives Urteil zu vermeiden. Das ist im Ergebnis auf eine Täuschung der Verbraucher angelegt, wodurch sich der IGeL-Monitor jenseits einer seriösen wissenschaftlichen Vorgehensweise begibt und sich als Propaganda-Instrument der Kassenlobby disqualifiziert.

Das rechtliche Fundament des IGeL-Segments ist solide und in einem demokratischen Rechtsstaat unangreifbar. Denn hier treffen zwei der wichtigsten Freiheitsrechte unseres Grundgesetzes aufeinander, nämlich das Grundrecht des Bürgers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit nach Artikel 2 und das Grundrecht des Arztes auf freie Berufsausübung nach Artikel 12. Vertreter eines paternalistischen Medizinverständnisses aufseiten der Krankenkassen müssen sich genauso warm anziehen wie einige nassforsche Aktivisten aufseiten der Politik, wenn sie in diesem Bereich mit gesetzlichen Beschränkungen gegen die berechtigten Anliegen von Bürgern und Ärzten intervenieren wollen. Die bisherige Strategie dieser Leute, anhand absurder Einzelbeispiele einen angeblichen „Wildwuchs“ zu konstruieren, um diese Freiheitsrechte sturmreif schießen zu können, wird an unserer freiheitlichen Rechtsordnung scheitern.

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Zentrales Freiheitsrecht von Bürgern und Ärzten – In: Medical Tribune, 57. Jahrgang, Nr. 15, 14. April 2022

Download des Original-Artikels