„Steigende Ansprüche aus abnehmender Konkursmasse“

ARZT & WIRTSCHAFT (1998)

Interview mit Dr. Lothar Krimmel

A&W: Erläutern Sie doch bitte die strategischen Ziele der „IGELS“.

Individuelle Gesundheitsleistungen sind solche ärztlichen Leistungen, die

  1. nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, die
  2. vom Patienten nachgefragt werden und die
  3. ärztlich empfohlen werden können.

Nach diesen Kriterien hat die KBV in Zusammenarbeit mit den ärztlichen Berufsverbänden rund 70 Leistungen zusammengestellt. Das Ergebnis der Arbeiten wird in den nächsten Wochen der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Grunde ist die Idee unspektakulär, weil nur etwas nachgeholt wird, was Krankenkassen und Kassenärzte schon längst hätten tun müssen: Ermöglichung der Wahrnehmung individueller Gesundheitswünsche, ohne hierdurch die gesetzliche Krankenversicherung finanziell zu destabilisieren.

A&W: Sehen Sie nicht die Gefahr, daß hier Leistungen ausgegliedert werden, die später von den Patienten auf privater Basis überhaupt nicht nachgefragt werden?

Es handelt sich zunächst im Hinblick auf den GKV-Leistungskatalog nicht um eine Leistungsausgrenzung, sondern vielmehr um eine Leistungsabgrenzung. Was nun die Nachfrage nach diesen Leistungen angeht, so bin ich recht optimistisch, da wir in den rund 70 Leistungen durchaus sehr attraktive Angebotspakete zusammengestellt haben. Denken Sie nur an die sportmedizinische Vorsorgeuntersuchung, den reisemedizinischen Beratungskomplex oder die Akupunktur-Behandlung. Allerdings kommt es in der Anfangsphase auch überhaupt nicht darauf an, eine hohe Inanspruchnahme und damit Honorarzuwächse im Bereich der privatärztlichen Behandlung zu erzielen. Viel bedeutsamer ist, den notwendigen Bewußtseinswandel zu erzeugen, daß nicht mehr alles, was medizinisch sinnvoll sein mag, allen Versicherten automatisch zur Verfügung gestellt werden kann.

A&W: Das schafft zwei Gruppen von Ärzten: die Privilegierten mit einem hohen Anteil von Privatpatienten und Privatleistungen und die Vertragsärzte mit einer Klientel, die von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen.

Es kann nicht ernsthaft bestritten werden, daß die Chancen zur Nutzung sowohl des Konzepts der individuellen Gesundheitsleistungen als auch des Patienten-Wahlrechts auf Kostenerstattung im Bundesgebiet sehr unterschiedlich verteilt sind. Es wäre aber geradezu tragisch, wenn hieraus von der ärztlichen Standespolitik der Schluß gezogen würde, daß diejenigen Ärzte, die in nach wie vor prosperierenden Regionen niedergelassen sind, nur deswegen ein an sich gebotenes Verfahren nicht praktizieren dürfen, weil dieses Verfahren in anderen Regionen aufgrund einer schlechteren Sozialstruktur weniger praktikabel erscheint.

A&W: Was sagen Sie zur Sorge der GKV, daß die Ausgrenzung von Leistungen freiwillige GKV-Mitglieder der PKV in die Arme treiben könnte?

Diese Sorge der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie denn tatsächlich so besteht, wäre unbegründet. Die Abgrenzung der nicht zum GKV-Leistungsumfang gehörenden Versorgungswünsche trägt ganz im Gegenteil zur Stärkung der finanziellen Leistungskraft der gesetzlichen Krankenversicherung bei. Die GKV widersetzt sich dieser im Grunde offensichtlichen Erkenntnis nur deswegen, weil sie unter sich im Mitglieder-Wettbewerb steht.

A&W: Fürchten Sie nicht, daß die GKV hier langfristig ökonomisch ausbluten könnte?

Die Finanzkraft der gesetzlichen Krankenversicherung ist aus meiner Sicht durch eine mögliche Abwanderung von freiwillig Versicherten zur privaten Krankenversicherung nicht ernsthaft gefährdet. Dies liegt auch daran, daß die private Krankenversicherung es bislang nicht geschafft hat, ihre Attraktivität für die sieben Millionen freiwillig versicherten Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen unter Beweis zu stellen. Eine Lösung des Kernproblems der PKV, nämlich die Möglichkeit zur „Mitnahme“ der Altersrückstellungen, ist nicht einmal ansatzweise in Sicht. Insofern ist die PKV gerade dabei, die Phase der Finanzierungs- und auch Leistungskrise der GKV und damit die Stunde ihrer Chance im wahrsten Sinne zu verschlafen.

A&W: Die Entwicklung „individueller Gesundheitsleistungen“ ist wohl auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß nach den neuen Richtlinien des Bundesausschusses die GKV-Leistungen insgesamt verstärkt unter Kosten-Nutzen-Aspekten bewertet werden sollen.

Hier muß ich widersprechen. Das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen hat mit der anstehenden Überprüfung des ärztlichen Leistungskataloges durch den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen nichts zu tun. Die individuellen Gesundheitsleistungen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß sie derzeit nicht zum Leistungskatalog der GKV gehören und daher auch einer entsprechenden Überprüfung beziehungsweise einem nachfolgenden Ausschluß gar nicht unterliegen können. Unabhängig davon bin ich überzeugt, daß diese anstehende Überprüfung des Leistungskataloges ausgehen wird wie das berühmte Hornberger Schießen. Der Leistungskatalog des EBM umfaßt nämlich nur die Leistungen an sich, nicht dagegen die Festschreibung der Indikationen.

A&W: Streben Sie eine Strukturreform im Gesundheitswesen an mit einer Grundsicherung durch die GKV und einem System von Wahlleistungen durch die PKV?

Ich bin der festen Überzeugung, daß die gesetzliche Krankenversicherung nur dann überleben kann, wenn eine derartige Strukturreform mit Begrenzung der primären Zuständigkeit auf eine solche Grundsicherung in den nächsten Jahren durchgeführt wird. Bei der Diskussion hierüber wird immer wieder unterschlagen, daß bereits die Bereitstellung einer solchen Grundsicherung einen sehr umfänglichen Schutz im Krankheitsfall darstellt. Im Hinblick auf die Wahlleistungen wäre allerdings durchaus eine versichertenbezogene Finanzierung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung denkbar. Die ausschließliche Reduzierung der gesetzlichen Krankenkassen auf die Gewährung einer Grundsicherung würde nämlich in der Tat die Attraktivität der privaten Krankenversicherung ohne deren eigenes Verdienst erheblich stärken.

A&W: Welche Ratschläge geben Sie niedergelassenen Ärzten, die sich in Ihrer Unternehmensstrategie schon jetzt offensiv auf das Angebot individueller Gesundheitsleistungen ausrichten wollen?

Wenn wir mit dem Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen in den nächsten Wochen an die Öffentlichkeit gehen, wird den Ärzten parallel dazu entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung gestellt. Insofern ist es den Ärzten zwar unbenommen, die aus ihrer Sicht mit Sicherheit nicht in die GKV-Zuständigkeit fallenden Leistungen schon jetzt im Rahmen privatärztlicher Behandlung anzubieten; allerdings wird dies wohl eher gelingen, wenn dieses Vorgehen in die konzeptionelle Begleitung durch KBV, Kassenärztliche Vereinigungen und ärztliche Berufsverbände eingebettet ist.

A&W: Wer konzeptionell auf die Privatisierung von Gesundheitsleistungen setzt, dürfte wohl auch ein Verfechter der Kostenerstattung sein. Wie sehen Sie die Perspektiven für dieses Verfahren angesichts des erkennbaren Bestrebens der Krankenkassen, die Kostenerstattung unattraktiv zu machen?

Ich sehe in der Tat in der Ausweitung der Kostenerstattungsoption auf alle GKV-Versicherte eine ganz große Chance zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kostenerstattungsoption ist eine der ganz wenigen Möglichkeiten, dem Gesundheitswesen zusätzliche finanzielle Ressourcen zuzuführen und diese dann auch genau für diejenigen Bereiche zu verwenden, in denen ein im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht finanzierbares Anspruchsniveau erfüllt wird. Die Kostenerstattung wird es allen GKV-Versicherten ermöglichen, Versorgungswünsche jenseits der GKV-Zuständigkeit zu äußern und auch zu realisieren. Aus diesem Grunde sehe ich die lautstarken Bekundungen einer Reihe von Krankenkassen, das Recht auf Kostenerstattung durch Satzungsregelungen zu konterkarieren, ausgesprochen gelassen. Zum einen steht es den Krankenkassen überhaupt nicht zu, mit Satzungsregelungen einen Rechtsanspruch zu eliminieren. Und zum anderen wird eine Krankenkasse, der eine solche Satzung tatsächlich von der Aufsichtsbehörde genehmigt wird, im Wettbewerb um gute Risiken praktisch keine Chance mehr haben.

A&W: Sie gelten als Verfechter einer härteren Gangart in den Vertragverhandlungen der KVen mit den Kassen. Wie sehen Ihre Perspektiven aus für die Umsatzperspektiven der niedergelassenen Ärzte in der Zukunft?

Es wäre bedauerlich, wenn eine selbstbewußte Vertretung kassenärztlicher Interessen als „härtere Gangart“ bezeichnet werden müßte. Wenn dem so wäre, müßten wir in der Vergangenheit etwas falsch gemacht haben. Ich trete allerdings dafür ein, daß die Kassenärzte ihre Ziele klar formulieren und bei der Umsetzung ihrer Interessen die bestehenden strategischen Optionen auch nutzen. Ich glaube, daß dies gerade gegenüber einem Verhandlungspartner notwendig ist, in dessen Reihen nicht wenige Verantwortung tragen, die sich die Infragestellung der Kassenärztlichen Vereinigungen als kollektiver Interessenvertretung der Kassenärzte auf die Fahnen geschrieben haben. Ich glaube allerdigs auch, daß die gesetzliche Krankenversicherung in nicht allzu ferner Zeit bedauern wird, die Formulierung solcher Strategien zugelassen zu haben. Sie hat damit ihre eigene Berechtigung zumindest im System einer gegliederten Krankenversicherung in Frage gestellt. Sollten die KVen tatsächlich eines Tages aufgelöst werden, was dem Gesetzgeber mit einem Federstrich möglich wäre, so sehe ich keinen Grund, warum unser Gesundheitswesen nicht unter Auflösung auch der GKV entweder in die Verstaatlichung oder die weitgehende Privatisierung abdriften sollte.

A&W: Können die Vertragsärzte davon ausgehen, daß sich ihre Umsätze in einem System von Regelleistungsvolumen und festen Punktwerten verbessern?

Die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags der Einführung von Regelleistungsvolumen ist der vielleicht einzige Ansatz, die Verlagerung der Kassenausgaben weg vom Krankenhaus und hin zu einer gestärkten ambulanten Versorgung zu realisieren. Die Zögerlichkeit mancher KVen bei der Anwendung dieser Option ist kaum nachvollziehbar. Manche Standespolitiker haben vielleicht noch nicht gemerkt, daß die Honorarverteilung bisheriger Prägung nichts anderes ist als ein permanentes Konkursverfahren, in dem steigende Ansprüche der Patienten aus einer stetig abnehmenden Konkursmasse bedient werden müssen.

Wer aus dem Punktwert- und damit auch Preisverfall ärztlicher Leistungen von sage und schreibe 30 Prozent in den vergangenen zehn Jahren keine Lehren gezogen hat, dem ist offensichtlich nicht mehr zu helfen. Es hat teilweise den Anschein, daß ein Konkursverfahren, dessen Mechanismen man kennt, einer zukunftsweisenden Option, deren Auswirkungen nicht genau bekannt sind, vorgezogen wird. Wer die Option der Regelleistungsvolumen nicht nutzt, hat jedes Recht verspielt, sich nochmals mit Klagen über die Honorar-Misere an die Gesundheitspolitik zu wenden.

Selbstverständlich gibt es auch in der Ära der Regelleistungsvolumen keinen garantierten Honorarzuwachs je Kassenarzt; aber die Honorarkatastrophe der vergangenen Jahre berechtigt ohne jeden Zweifel, einen Aphorismus von Lichtenberg zur Maxime des Handels zu machen: „Ich kann nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber ich kann soviel sagen: Es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“

Autor
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: „Steigende Ansprüche aus abnehmender Konkursmasse“: Interview mit Dr. Lothar Krimmel. In: ARZT & WIRTSCHAFT (verlag moderne industrie GmbH, 86899 Landsberg), Heft 1/1998, Seite 15

Download des Original-Artikels